12

Es ist Montagmorgen, die Kinder sind in der Schule, und Harald arbeitet im Büro. Ich komme gerade von einem ruhigen Ritt am Wasser entlang nach Hause und führe Humboldt am Halfter zur Weide, wo Donky, unser Minishetlandpony, ihn mit erhobenem Kopf erwartet. Ich öffne das Tor, hake den Strick los und schnalze mit der Zunge. Jedes andere Pferd hätte jetzt den Boden unter sich erbeben lassen, indem es losgerannt wäre oder zumindest vor Freude einen Bocksprung gemacht hätte, aber Humboldt beschleunigt nicht einmal seine Gangart. Er spaziert in gemächlichem Tempo auf die Weide. Drei, vier Schritte, dann senkt er das Maul zu dem saftigen Gras: Er mag nichts lieber als Fressen.

Den Führstrick locker in der Hand, bleibe ich stehen. Ich lege die Unterarme auf den Zaun und lausche dem Mahlen von Humboldts Zähnen. Ich beobachte, wie die Tiere mit ihren Schweifen Fliegen und andere Insekten von ihren Flanken verjagen.

Als Kind bin ich nie mit Pferden in Kontakt gekommen, außer einmal im Jahr auf der Kirmes. Dort gab es unweigerlich ein paar stechend riechende Ponys mit stumpfen Augen, auf denen man für einen Gulden eine Runde reiten durfte.

Ich habe erst angefangen, Reitstunden zu nehmen, als Harald ein Jahr nach Fleurs Geburt auf die Idee kam, Humboldt anzuschaffen. Kurz zuvor hatten wir die Weide hinter dem Haus dazukaufen können, und darauf gehörten natürlich Tiere. Der verrostete Schuppen, in dem der frühere Besitzer kaputte Werkzeuge und anderen Müll gesammelt hatte, wurde von einem Bauunternehmer abgerissen und stattdessen ein geräumiger Stall mit Paddock, Misthaufen und Waschplatz gebaut. Der Stall besteht aus denselben gebeizten Brettern wie unsere Garagenscheune. Er liegt ungefähr zwanzig Meter von der Weide und etwa hundert Meter vom Haus entfernt. Von dort aus ist der Stall durch das dichte Gebüsch kaum zu sehen.

Ich halte mich oft rund um den Stall auf, vor allem an sonnigen und windstillen Tagen. An der Stallmauer steht eine Holzbank mit dünnen, dunkelroten Kissen, von wo aus ich die Weide, die Pferde und den Wasserlauf in der Ferne überblicke. Mich draußen aufzuhalten, beruhigt mich, und dieser Ort ist womöglich der schönste und beruhigendste auf unserem ganzen Grundstück, vielleicht hauptsächlich wegen des unglaublichen Luxus von so viel Platz und absoluter Privatsphäre.

Als ich die Ställe betrete, saust eine Bauernschwalbe an mir vorbei. Jedes Jahr hängt ein Nest unter dem Dachfirst. Ich höre noch keine Jungen piepsen, aber die werden sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Schräg über mir schleicht Reddy über die Strohballen, die auf den Pferdeboxen liegen. Ihr Bauch hat noch immer den Umfang einer Melone, aber die Katze erweckt nicht den Eindruck, dass sie bald werfen wird. Von ihrem hohen Standort aus blickt sie mich herausfordernd an und miaut.

Ich miaue zurück. Dann nehme ich Humboldts Trense vom Sattel und gehe damit zum Waschbecken. Unter einem kräftigen Wasserstrahl reinige ich das glitschige Gebiss. Dann hänge ich die Trense an ihren Platz – einen Nagel, über den Fleur mit schwarzem Stift »Humboldt« geschrieben hat – und ziehe die Schabracke unter dem Sattel hervor. Sie fühlt sich noch feucht und warm vom Reiten an und ist mit hellbraunen Haaren bedeckt. Ich klopfe so viele wie möglich davon ab und lege die Schabracke oben auf den Sattel, damit sie auslüften und trocknen kann.

Ich bin so in meine Tätigkeit vertieft, dass es eine Weile dauert, ehe ich bemerkte, dass jemand in der offenen Stalltür steht.

Vor Schreck mache ich einen Satz rückwärts.

Das gefällt ihm. Zufrieden lächelnd kommt er herein. Anerkennend blickt er sich um und schlendert dann gespielt lässig auf mich zu. »Ich beobachte dich schon seit einer ganzen Weile, und ich muss schon sagen: Du hast es nicht schlecht getroffen.«

Ich weiche zurück, darauf bedacht, mindestens zwei Meter Abstand zwischen uns zu lassen. Ich blicke mich um, finde aber nichts, was ich als Waffe gebrauchen könnte. Nicht gegen jemanden wie Chris.

Sein blaues Hemd ist fast bis zum Bauchnabel geöffnet, sodass man seine Brust und eine dünne Goldkette sehen kann. Dazu trägt er eine Leinenhose und Sneakers. Die Sonnenbrille hat er auf den Kopf geschoben. Mit verschränkten Armen bleibt er stehen. »Da hast du dich wohl ins warme Nest gesetzt. Dabei ist er nicht mal ein alter Sack, dieser van Santfoort? Und gar nicht mal so hässlich, wie ich gesehen habe. Gut gemacht.«

Ich balle die Fäuste. »Hau ab!«

Er lacht.

»Was willst du von mir?«

»Ich? Nichts.« Noch einmal sieht er sich abschätzig um und fährt mit einer Hand über Humboldts Sattel. »Marius will mit dir reden.«

Marius.

Als ich Chris seinen Namen aussprechen höre, erschrecke ich wieder. Ich fange an, am ganzen Körper zu zittern. Ich reibe nervös über meinen Hals und blicke an Chris vorbei hinaus, voller Angst, dass Marius dort irgendwo wartet, dass er jeden Moment hereinkommen könnte.

Aber ich sehe niemanden.

Die Pferde grasen ungestört weiter, und ihre Schweife schlagen ruhig von einer Flanke zur anderen. Wenn ich mich konzentriere, kann ich ihre Zähne mahlen hören. Die Sonne scheint. Ein gelber Schmetterling flattert vorüber.

Warum donnert und blitzt es nicht?

»Marius sitzt doch im Gefängnis?«, frage ich schließlich. »In Norwegen?«

»Nicht mehr.«

»Warum kommt er nicht selbst?«

»Du kennst ihn doch. Es ist nicht sein Stil, einer Frau hinterherzulaufen.«

»Also tust du es für ihn.«

Chris zuckt mit den Schultern, zieht ein Päckchen Pall Mall aus der Innentasche und klappt es auf. Er bietet mir eine an.

Ich lehne kopfschüttelnd ab.

Er bricht den Filter seiner Zigarette ab und steckt sie an. Dann blickt er durch eine Wolke von grauem Rauch hindurch zu mir herüber. »Marius ist immer anständig zu mir gewesen.«

»Kann schon sein.«

Seine Augen verengen sich. »Er ist auch immer anständig zu dir gewiesen, soweit ich mich erinnern kann.« Seine Stimme klingt zutiefst vorwurfsvoll.

Ich nicke. Jetzt, da ich erkannt habe, dass Marius nicht bei ihm ist, ebbt die Panik ein wenig ab und ich mache mir hauptsächlich Sorgen über Chris’ Anwesenheit. Angenommen, die Nachbarn haben ihn gesehen und tratschen darüber? Harald erwarte ich so bald noch nicht zurück. Er hat heute zwei Besichtigungen, einen Termin mit einem Architekten und eine Schätzung. Die Kinder müssen erst in anderthalb Stunden zum Mittagessen von der Schule abgeholt werden, und ich habe keine Termine.

»Bist du mit dem Auto da?«

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Warum?«

»Die Leute hier reden ziemlich schnell. Wo steht es?«

»Natürlich direkt vor deiner Tür, Schnucki. Und, zufrieden?«

Ich sehe ihn schweigend an.

Er zeigt in Richtung des Waldes. »Dahinter. Auf dem Feld.«

Reddy springt von den Strohballen herunter, trippelt über den hölzernen Rand der Boxen, stellt ihre Pfötchen auf die Leiter und klettert hinunter.

»Wie kommt es, dass Marius frei ist?«, frage ich. »Er müsste doch noch …«

»Früher entlassen wegen guter Führung.«

Voller Angst beobachte ich, wie Reddy auf uns zukommt. Mit erhobenem Schwanz trippelt sie auf Chris zu, nimmt Anlauf und landet mit einem kleinen Sprung neben ihm auf dem Mäuerchen. Sie sieht ihn interessiert an und bettelt nachdrücklich um seine Aufmerksamkeit.

Chris ignoriert sie.

»Was will er von mir?«

Chris schnauft, zieht lautstark die Nase hoch und zieht an seiner Zigarette. Er blickt dem Rauch nach. Dann sagt er langsam: »Dich, Claire. Er will dich.«

Abscheu
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