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Der Sandweg beginnt hinter dem Schloss und verläuft von dort aus parallel zum Deich in Richtung des Dorfes, in dem Fleur und Charlotte zur Schule gehen. Er ist ungefähr fünf Meter breit und wird von Wiesen, Weiden und Weißdornbüschen gesäumt. Im Nachbardorf mündet er wieder in eine schmale, asphaltierte Straße. Erst da muss ich auf den Deich hinauffahren, an einer Stelle, die vom Hafen aus nicht sichtbar ist, nicht mal durch ein Fernglas.
Ich umklammere das Lenkrad und konzentriere mich. Der anhaltende Regen hat den sonst einigermaßen gut befahrbaren Weg in eine Art schlammige Rutschbahn verwandelt. Die ganze Strecke besteht aus glitschigem Lehm, und überall haben sich gelbbraune Pfützen gebildet, wie in einem Dschungel nach einem Sturzregen.
Mein Geländewagen wird glücklicherweise damit fertig. Ich dagegen weniger. Der Freelander hat allerhand Knöpfe und Hebel, die für das Fahren durch unwegsames Terrain gedacht sind, aber ich habe sie noch nie gebraucht. Ich wüsste nicht einmal, was passiert, wenn ich sie benutzte. Also lasse ich ängstlich die Finger davon und versuche, mich so gut es geht geradeaus zu halten.
Trotz meiner Vorsicht macht das Auto ständig kurze, bockende Bewegungen, und an einigen Stellen drehen die Räder durch, sodass der ganze Wagen ein Stück zur Seite rutscht.
Fleur und Charlotte finden so eine Mini-Camel-Trophy auf dem Weg von der Schule nach Hause einfach großartig. Heute Morgen haben sie schon freudig überrascht reagiert, als ich den Sandweg anstatt die Straße über den Deich eingeschlagen habe. Jetzt sind sie ganz aufgekratzt.
»Schneller, Mama, schneller!«, ruft Fleur hinter mir. Ihre Stimme überschlägt sich vor Vergnügen.
Ich versuche, mitzulachen, obwohl mir mehr nach Weinen zumute ist. »Schneller traue ich mich nicht, Schatz. Ich möchte nicht, dass wir stecken bleiben.«
»Das wäre doch cool!«, ruft Charlotte.
»Das ist überhaupt nicht cool!«, entgegne ich. »Wenn wir uns festfahren, müssen wir zu Fuß nach Hause gehen. Durch den Matsch. Und es regnet.«
»Na und? Wir sind doch keine Weicheier!«, quietscht Charlotte übermütig.
Ich sage nichts mehr. Mit beiden Händen umklammere ich das Steuer, während der Motor leise aufheult. Ich fahre schon die ganze Zeit im zweiten Gang und traue mich nicht, in den dritten zu schalten. Links und rechts des Weges ziehen sich Gräben entlang, und ich darf gar nicht daran denken, was geschehen würde, wenn ich in einen hineinrutsche. Von allein würde ich da nie wieder rauskommen, und auf die Hilfe von Passanten brauche ich nicht zu hoffen. Der Sandweg wird sowieso nur selten von Autofahrern genutzt, und bei diesem Wetter sind auch weit und breit keine Spaziergänger, Reiter oder Leute mit Hunden zu sehen.
»Du, Mama, warum fährst du eigentlich so?«, fragt Fleur.
»Wie meinst du das?«
»Na, über den Sandweg. Du sagst doch immer, das Auto wird davon schmutzig.«
»Wird es auch, aber ich fand es einfach mal lustig, so zu fahren. Gefällt es dir denn nicht?«
»Doch!«, ruft sie. »Es gefällt mir ganz doll!«
Das Marius-Handy steckt in meiner Jackentasche. Es steht auf Empfang, und der Akku ist voll geladen. Das weiß ich, weil ich den Apparat ständig bei mir trage. Heute Nacht habe ich ihn sogar neben mein Bett gelegt, versteckt in einem meiner Pantoffeln, nachdem ich sowohl die Klingelfunktion als auch den Vibrationsalarm ausgeschaltet hatte.
Ich habe kaum ein Auge zugetan. Ich habe die Wand angestarrt und angespannt Haralds Atemzügen gelauscht. Als sie ruhiger und gleichmäßiger wurden und ich mich davon überzeugt hatte, dass er schlief, habe ich alle halbe Stunde das Handy kontrolliert.
Nichts.
Marius hat mich mit hundertprozentiger Sicherheit nicht mehr angerufen, nachdem ich gestern Abend aus dem Hafen geflüchtet bin und ihn bewusstlos auf dem Boden der »Esmeralda« zurückgelassen habe. Auch eine SMS hat er nicht geschickt.
Heute Nacht habe ich im Stillen sämtliche Möglichkeiten Revue passieren lassen. Bestenfalls ist Marius schnell wieder zu sich gekommen, nachdem ich weg war, hat nachgedacht, eingesehen, dass ich nicht mehr die Frau bin, die er vor seiner Gefängnisstrafe kannte, und beschlossen, mich in Zukunft in Ruhe zu lassen.
Das hoffe ich natürlich. Aber die Chancen stehen gering. Marius ist nicht der versöhnliche Typ. Plausibler erscheint mir, dass er stinkwütend ist und auf Rache sinnt. Er könnte zum Beispiel unseren Stall anzünden lassen. Oder unser Haus. Oder er wendet sich an Harald und plaudert ein wenig aus dem Nähkästchen, und dann ist meine Ehe noch vor Charlottes sechstem Geburtstag Schnee von gestern.
Denn ich glaube nicht, dass Harald mit der Schande leben könnte. Er würde mich wahrscheinlich nicht einmal mehr in seiner Nähe ertragen könnten. Und darüber, dass Harald Marius vielleicht nicht glauben würde, brauche ich mich keinen Illusionen hinzugeben: Marius kennt zahlreiche Einzelheiten. Viele davon sind klare Fakten, die Harald nachprüfen kann. Außerdem habe ich Harald über diese Phase meines Lebens nie viel erzählt und weiß, dass er sich so manche Frage stellt.
Vorsichtig biege ich auf die befestigte Straße ab, die rund um das Schloss verläuft. Lehmklumpen poltern gegen die Radkästen, und meine Räder hinterlassen eine gelbliche Dreckspur auf dem Asphalt.
Als wir nach Hause kommen, ist der Himmel noch immer grau, aber es regnet nicht mehr.
»Du, Mama, fahren wir morgen wieder über den Sandweg zur Schule?«, fragt Fleur, während sie aus dem Auto springt.
»Von mir aus, wenn es euch gefällt.«
»Ja! Toll!«, ruft Charlotte. Die beiden Schwestern rennen los in Richtung Garten.
Ich schließe die Tür, bleibe kurz stehen und mustere mein Auto. Die Räder sind verdreckt, die Radkästen mit Lehm verklebt. Sogar die Fenster und das Dach sind mit Lehmspritzern bedeckt.
»Mama! Mama, komm mal schnell!«
Erschrocken renne ich los und bin in Rekordzeit hinter dem Haus.
Dort, vor den offen stehenden Türen, hocken Fleur und Charlotte auf der Terrasse. Sie betrachten etwas, das auf dem Boden liegt.
»Ob er noch lebt?«, fragt Charlotte ihre ältere Schwester. Dann blickt sie in meine Richtung. »Mama! Komm mal! Guck mal, hier!«
Auf der Terrasse liegt ein Vogel mit schwarzen Federn und einem harten, grauen Schnabel. Er liegt auf der Seite, reglos, mit toten, stumpfen Augen.
»Ist er wirklich tot?«, fragt Fleur.
»Ja, der ist tot«, bestätige ich. »Fasst ihn nicht an. Ihr könnt davon krank werden.«
»Bist du sicher, Mama?«, fragt Fleur. »Dass er tot ist?«
Ich starre den Vogel auf meiner Terrasse an. »Ja, ganz sicher.«
»Woran siehst du das?«
»Er bewegt sich nicht mehr.« Ich wühle meinen Schlüssel hervor und schließe die Hintertür auf. »Geht schon mal rein, dann bringe ich ihn weg.«
Fleur und Charlotte gehen in die Küche, und ich höre, wie sie den Kühlschrank öffnen, um sich etwas zu trinken zu holen.
Aus dem Regal im Wirtschaftsraum hole ich eine Plastiktüte vom Supermarkt und stecke die Hand hinein. Ich packe das Tier an einem Flügel und streife die Tüte um es herum. Während ich mit meiner unheimlichen Last zum Biomüll gehe, muss ich einen Schauder unterdrücken.
Ich mag keine Krähen. Sie können nichts dafür, aber sie sind nun einmal das Symbol für Elend und Tod. Ich lasse den Vogel aus der Plastiktüte in den Biomüll fallen und werfe die Tüte in die graue Tonne daneben.
Auf dem Rückweg gestehe ich mir ein, dass ich mir selbst gegenüber nicht ganz ehrlich war. Es gibt noch eine weitere mögliche Erklärung dafür, warum sich Marius nicht meldet. Aber die habe ich verdrängt, weil sie einfach zu furchtbar ist.