Kapitel 19

"Da hat wieder dieser David angerufen", informierte Melanie sie am nächsten Morgen, als Claire in der Küche erschien.

Claire musterte die Freundin erstaunt.

"Wieso bist du schon auf?"

Melanie lachte unbekümmert.

"Ich dachte, ich hätte was gutzumachen", erwiderte sie unbekümmert. "Gestern war ich ja etwas von der Rolle. Ich hoffe, du verzeihst mir meine Heularie?"

"Schon gut." Claire nahm am Küchentisch Platz. "Ich bin nicht nachtragend."

Melanie goß Kaffee ein.

"Dieser David hat dreimal versucht, dich zu erreichen", berichtete sie dabei. "Ich habe ihm gesagt, daß du nicht gut drauf bist und dich hingelegt hast. Daraufhin hat er noch zweimal angerufen, um zu fragen, ob ich schon wüßte, was mit dir los sei und ob es dir besser ginge. Er hat erst aufgehört, das Telefon zu belagern, als ich sagte, daß er dich mit seiner dauernden Klingelei stört." Sie setzte sich und nahm sich eines der frischen Brötchen, die sie extra geholt hatte. "Was ist das überhaupt für ein Bursche?" fragte sie, während sie begann, das Brötchen zu teilen. "Hast du was mit ihm?"

Claire stellte die Kaffeetasse ab. Melanies Rede hatte die Erinnerungen an der vergangenen Tag, vor allem aber an Dr. Liebstocks Diagnose aufgerüttelt. Plötzlich waren alle Sorgen wieder da.

Sollte das ewig so weitergehen? Ein Leben mit einem Haufen Entscheidungen, die sie wie ein Schneepflug vor sich herschob. Nein!

"Er ist mein Liebhaber." Kaum waren die Worte heraus, fühlte Claire sich wie von einer Zentnerlast befreit.

Mel brach in nervöses Gekicher aus.

"Aber mir Vorwürfe machen!"

"Hör zu." Claire legte das Brötchen, das sie gerade aufschneiden wollte, aus der Hand und sah die Freundin eindringlich an. "Ich habe David auf einem Vierte-Juli-Picknick kennengelernt und mich unsterblich in ihn verliebt. Er möchte mich heiraten, aber ich konnte mich bisher nicht zu einem 'Ja' entschließen, weil ich ja noch mit Bertram verlobt bin. Außerdem kann ich nicht meine gesamte Existenz hinwerfen und einfach blindlings einer Affäre folgen, die sich vielleicht in einem weiteren Vierteljahr als großer Irrtum herausstellt. Deshalb bin ich zurückgekommen und deshalb ruft dieser Mann jeden Tag an."

"Süß!" Melanie verdreht schwärmerisch die Augen. "Er muß wirklich total verrückt nach dir sein." Sie wurde ernst. "Mal ehrlich, Claire. Ich an deiner Stelle würde lieber ins Blaue hinein nach Amerika reisen, als diesen Langweiler Bertram heiraten. Schieß ihn in den Tabak!"

Claire stieß einen Seufzer aus.

"Das wird sich jetzt wohl von alleine ergeben." Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. "Ich bin schwanger."

Melanie biß gerade herzhaft in ihr Brötchen. Als die Worte Silbe für Silbe in ihr Hirn gerieselt waren, ließ sie das Brötchen los und starrte Claire vollkommen verdattert an. Das sah so komisch aus, daß diese in lautes Gelächter ausbrach.

"Du siehst aus wie ein Dackel, der die Morgenzeitung apportiert!"

Mel nahm die Semmel aus dem Mund.

"Sagtest du gerade, du seiest schwanger?" vergewisserte sie sich. Als Claire nickte, war ihr der Appetit endgültig vergangen.

"Wie ist denn das nur passiert?!" schrie sie aufgebracht. "Mensch, ich dachte, du nimmst du Pille! Claire, was um alles in der Welt willst du mit einem Kind? Mist - Mensch! Du mußt schnellstens einen deiner beiden Männer heiraten. Vielleicht kannst du das Baby dann noch als Sieben-Monats-Kind deklarieren."

"Red keinen Unsinn!" Claire hatte jetzt auch keine Lust mehr auf das Frühstück. "Bertram wird sich bedanken, wenn er hört, daß ich ein Kind bekomme. Er kann Kinder nämlich nicht ausstehen. Und David..." Sie dachte einen Moment nach. "David macht sich ebenfalls nichts aus Babies. Außerdem - wie sieht das denn aus? Erst lasse ich ihn wochenlang schmoren und dann präsentiere ich ihm plötzlich eine Schwangerschaft. Er wird denken, daß ich ihn als Notnagel nehme, weil mich Bertram verlassen hat."

"Na und?" Melanie hob die Schultern. "Was ein Mann denkt, interessiert doch niemanden. Wichtig ist, daß du einen Vater für dein Kind hast und versorgt bist."

"Das kannst vielleicht du, aber ich bringe so was nicht!" explodierte Claire nervös. "Ich heirate doch nicht nur, um ein Dach über dem Kopf zu haben! Wenn ich mich für einen Menschen entscheide, dann, weil ich ihn wirklich liebe und weil ich mir nichts sehnlicher wünsche, als den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen."

"Du willst mir doch nicht ernsthaft weißmachen, daß du vorhattest, dein ganzes Leben mit Bertram zu vertun!" Melanie wurde jetzt auch laut. "Mit diesem Lahmarsch möchte ich noch nicht einmal einen einzigen Nachmittag meines Lebens verbringen müssen. Komm, mach dir nichts vor. Du hast die Kiste vermasselt und jetzt versuchst du, dich irgendwie rauszureden. Aber das geht nicht so leicht, jedenfalls nicht, wenn man ein Baby im Bauch hat."

Claire brach unvermittelt in Tränen aus.

"Und was soll ich jetzt machen?"

Melanie ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.

"Weiß nicht", murmelte sie ratlos. Dann hob sie die Schultern. "Tja, das kommt davon, wenn man sein Leben nicht im Griff hat", bemerkte sie im Tonfall einer altjüngverlichen Oberlehrerin. "Da mußt du schon selber sehen, wie du damit fertig wirst."

Es dauerte einen Moment, ehe die Worte zu Claires Gehirn durchgesickert waren. Doch als die letzte Silbe ihr Stammhirn erreicht hatte und sie den Sinn der Worte begriff, wurde sie von einer unbändigen Wut erfaßt.

"Du bist doch die blödeste Schnepfe, die mir jemals begegnet ist!" schrie sie Melanie an, daß dieser beinahe die Haare zu Berge standen. "Kriegst selbst nichts auf die Reihe, hast einen Ehemann und weiß der Kuckuck wieviel Liebhaber am Hals und taumelst von einer Traumruine zur nächsten, und willst mir was von 'das Leben in den Griff kriegen' erzählen! Weißt du was? Ich hab's satt! Satt, satt, satt. Du heulst mir die Ohren voll, verwüstest meine Wohnung, frißt meine Vorräte weg, machst dich hier breit und wenn ich einmal, nur ein einziges Mal eine meiner Sorgen mit dir besprechen möchte, muß ich mir solchen Quatsch anhören. Schluß, aus. Wenn ich heute abend nach Hause komme, bist du verschwunden, klar? Und es ist mir völlig egal, wo du unterkommst!"

Schweigen folgte diesem Ausbruch. Melanie saß erschrocken auf ihrem Stuhl und starrte Claire an, als seien dieser plötzlich rosa Eselsohren und grüne Luftschlangenhaare gewachsen. Aber Mel gehörte nicht zu den Menschen, die lange am Boden liegen bleiben. Im nächsten Moment war sie aufgesprungen und sauste durch die Küche, um Claire zu folgen, die sich gerade anschickte, die Wohnung zu verlassen.

"Claire!" versuchte Mel sie zurückzuhalten. "Claire, jetzt warte doch mal!"

Doch ihr Zuruf erreichte Claire nicht mehr. Die Freundin schlug Melanie die Tür direkt vor der Nase zu.