Kapitel 15

In den kommenden Tagen sah Claire recht wenig von Melanie. Genaugenommen zeigten eigentlich nur ihre überall herumliegenden Sachen, daß Mel noch bei ihr wohnte. Persönlich begegneten sich die Freundinnen nie, denn Mel war unterwegs, wenn Claire von der Arbeit nach Hause kam und schlief, wenn Claire am Morgen wieder das Haus verlassen mußte.

Erst eine gute Woche nach dem lautstarken Auftritt in der Boutique begegneten sich die beiden erneut, und auch dieses Wiedersehen verlief nicht gerade harmonisch.

Claire pflegte punkt sieben Uhr aufzustehen. In den letzten Tagen fiel ihr das noch schwerer als in den Tagen nach ihrer Rückkehr. Irgendwie schien sich ihr Körper an die europäischen Zeit- und Klimaverhältnisse überhaupt nicht mehr anpassen zu wollen. Claire fand nachts kaum Schlaf, kam dafür aber tagsüber kaum in die Gänge. Wenn der Wecker morgens klingelte, fühlte sie sich, als würde ein riesiger Mühlstein an ihrem Hals hängen. Am liebsten wäre sie gar nicht aufgestanden und hätte den ganzen Tag im Bett verbracht.

Ihr Appetit litt unter diesen Umstellungsschwierigkeiten. Sie brauchte eigentlich nur etwas Eßbares zu sehen, schon drohte sich ihr der Magen umzustülpen. Außer Sauerkraut, das sie pfundweise hätte essen können, ging nichts an sie.

An diesem Morgen fühlte sich Claire besonders elend. Mit schleppenden Schritten schlurfte sie ins Badezimmer, stellte sich unter die Dusche und drehte den Kaltwasserhahn auf, in der Hoffnung, daß die eisigen Strahlen ihren Kreislauf etwas in Schwung bringen würden.

Sie hielt die Luft an, als der kalte Schauer auf ihre Haut niederprasselte. Hui, das war ja die reine Selbstkasteiung! Bibbernd streckte Claire die Hand nach dem Warmwasserhahn aus, zog sie aber mit einem Schrei wieder zurück, als der Duschvorhang mit einem Ruck zurückgeschoben wurde und sich zwei kräftige Hände um ihre Taille legten.

"Hallo Süße, guten Morgen!"

Im nächsten Moment erklang ein zweiter, dunkler klingender Schrei.

"AAAAH!"
"Aaaah!"

Ratsch, flog der Duschvorhang zu.

"Was zum Teufel tun Sie hier?" Claires Stimme überschlug sich vor Panik, während sie versuchte, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken. "Wer sind Sie, was wollen Sie?"

Der Fremde war so rücksichtsvoll, ihr ein Handtuch zuzuwerfen und sich umzudrehen. Hastig wickelte sich Claire darin ein und lugt um den Vorhang herum. Der Mann war ebenfalls vollkommen nackt!

"I-ich-heiße Herbert", stammelte er, selbst anscheinend total geschockt. "I-ich-wußte nicht, daß hier noch jemand wohnt."

"Noch jemand wohnt?!" Claire hangelte nach ihrem Bademantel, der neben der Wanne an einem Haken hing, schlüpfte hinein und zog den Vorhang zurück. "Das hier IST meine Wohnung. Wie kommen Sie hier rein?"

Der Mann schielte nach dem Handtuch am Waschbecken. Mit einem kühnen Sprung brachte er sich in dessen Besitz und wickelte es um seine mageren Hüften.

"Melanie hat mich eingeladen", erklärte er jetzt mit etwas festerer Stimme. Offensichtlich hob das Handtuch sein Selbstbewußtsein. "Sie sagte..."

Mels Auftritt ersparte ihm weitere Erklärungen. Die Freundin kam wie eine Furie ins Bad gefegt und stürzte sich sofort auf Claire.

"Was ist denn hier los? Was tust du bei Herbi im Bad?"

Claire platzte der Kragen.

"Was tut Herbi in MEINEM Bad?" kreischte sie zurück. "Verdammt, Mel, sage deinen Liebhabern, daß sie zwischen halb sieben und halb acht in deinem Bett bleiben sollen oder vorher verschwinden. Ich habe keine Lust, meine Dusche mit ihnen zu teilen!"

Anscheinend wurde Mel erst jetzt bewußt, daß sie Gast war in dieser Wohnung. Sofort wurden ihre Züge weicher, lösten sich in einen unerwarteten Heiterkeitsausbruch auf, der sie regelrecht schüttelte.

"Nein - ist - ist - das - ko-ko-komisch!" gluckste sie, unterbrochen von immer neuen Lachsalven. "Herbi, du siehst einfach nur doof aus mit diesem Handtuch." Sie riß sich zusammen und versuchte, das Glucksen in ihrer Kehle zu unterdrücken. "Darf ich vorstellen, das ist Herbert Manteufel, mein Freund. Herbert, das ist meine beste Freundin Claire Schalmoney. Ihr gehört übrigens die Wohnung..." Weiter kam sie nicht, weil sie von einer neuen Lachattacke übermannt wurde.

Schließlich bekam sich Mel aber doch noch in den Griff. Sie packte Herbi einfach am Arm und zog ihn hinter sich zur Tür.

"Komm, laß Claire in Ruhe duschen", forderte sie dabei, immer noch leise kichernd. "Leg dich am besten wieder hin. Ich mache inzwischen einen Versöhnungskaffee für uns."

Claire starrte den beiden finster hinterher. Das war doch wohl das Letzte, was sie hier gerade erlebt hatte! Aber jetzt war Schluß! Sollte Melanie ihre postpubertären Auswüchse anderswo ausleben, aber nicht mehr bei ihr. Wozu hatte das Weib Eltern? War es nicht Aufgabe dieser, sich um die missratene Brut zu kümmern? Ihre, Claires, Aufgabe war es ganz gewiß nicht!

Entschlossen, Melanie umgehend hinauszuwerfen, kam Claire eine Viertelstunde später in die Küche gestapft.

Mel hatte sich in der Kürze der Zeit wirklich selbst übertroffen. Der Tisch war liebevoll mit Kerzen und einem Blumensträußchen dekoriert. Frische Brötchen dufteten im Korb, Eier, Schinken und verschiedene Marmeladensorten warteten darauf, verzehrt zu werden und der Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee reizte die Geschmacksnerven.

"Setz dich!" forderte Mel, ganz die beflissene, umsichtige Hausfrau. "Möchtest du einen Orangensaft?"

Claire war zu überwältigt, um antworten zu können. So nickte sie nur stumm. Das gab Mel Gelegenheit, sich gründlich auszusprechen.

"Es tut mir leid, daß das passiert ist", plapperte sie drauflos. "Weißt du, Herbi ist ein ganz lieber Kerl. Ich habe ihn im Kino kennengelernt. Er war so süß, weißt du, ihm passieren dauernd irgendwelche Ungeschicklichkeiten. Er hat mir einen ganzen Liter Cola übers Kleid gegossen und war deswegen total am Boden zerstört. Ich glaub, da hab ich mich schon in ihn verliebt."

"Ich dachte, Johnny wäre aktuell?"

Mel schüttelte den Kopf.

"John war ein totaler Fehlgriff." Sie goß Kaffee ein und nahm endlich am Tisch Platz. "Weißt du, er hat groß angegeben, was er alles für mich tun könnte. Aber alles, was dabei schließlich herauskam, war eine Putzstelle in der Disco. Herbi ist da ganz anders. Er ist übrigens Schauspieler. Na ja, momentan hat er kein Engagement, deshalb jobbt er in einem Fastfoodladen, aber wir sind drauf und dran, ihn bei einer Werbeproduktion unterzubringen."

"Wer ist wir?" wollte Claire wissen, während sie ihr köpfte.

"Na, Herbi und ich." Mel rieb sich unternehmunslustig die Hände. "Ich bin seine Managerin. Du weißt doch, durch Paps habe ich tolle Verbindungen, und die werden wir ausnutzen. Gleich heute mache ich mich auf den Weg zu allen wichtigen Agenturen. Heute abend können wir bestimmt schon auf einen Vertrag anstoßen."

Claire überlegte, ob sie ihrer Skepsis Ausdruck verleihen oder einfach nur zustimmen sollte, aber das Ei, das sie gerade dabei war zu löffeln, enthob sie einer Antwort, denn es schien sich in ihrem Magen überhaupt nicht einrichten zu wollen. Beide Hände vor den Mund gepreßt, raste sie aus der Küche und verriegelte sich im Badezimmer.

Anschließend sank sie total erschöpft auf dem Wannenrand nieder. Was war nur mit ihr los? Dieser Jetlag nahm allmählich krankhafte Ausmaße an. Wieso fühlte sie sich immer elender anstatt besser?

Mel klopfte zaghaft an die Tür.

"Kann ich dir irgendwie helfen?"

Claire erhob sich seufzend.

"Nein, schon gut." Sie trat ans Waschbecken und begann, sich die Zähne zu putzen und das Gesicht zu waschen. Als sie kurze Zeit später wieder in die Küche zurückkehrte, waren ihre Wangen unter dem aufgepepten Make-up noch immer erschreckend fahl.

"Du solltest vielleicht mal zum Arzt gehen", schlug Mel vor, die genüßlich an einem Brötchen kaute. Herbi hatte sich zu ihr gesellt und trank hingebungsvoll Claires Kaffee.

"Ja, ich glaube, das sollte ich", murmelte sie matt. "Aber jetzt muß ich erst mal ins Geschäft." Sie nahm ihre Umhängetasche, die auf dem Stuhl lag und warf sich den Riemen über die Schulter. "Einen schönen Tag und viel Erfolg", wünschte sie den beiden noch, dann verließ sie die Wohnung.

Erst, als sie in ihren Wagen stieg, fiel ihr ein, daß sie vergessen hatte, Melanie vor die Tür zu setzen.