Kapitel 12
Brunos tränenreicher Besuch am Morgen war nur der Auftakt zu einem äußerst turbulenten Tag. Kaum hatte sich nämlich die Ladentür hinter ihm geschlossen, da klingelte auch schon das Telefon. Sonny, die das Gespräch entgegennahm, schnitt eine komische Grimasse, ehe sie den Hörer an Claire weiterreichte, die sich zögernd meldete.
"Liebste, ich bin es, Bertram", tönte ihr Bertrams stets etwas schleppend klingende Stimme ins Ohr. "Hast du dich inzwischen von der Reise erholt?"
"Es geht", meinte Claire vorsichtig. "Ich habe noch mit den üblichen Umstellungsschwierigkeiten zu tun, aber ich versuche, sie zu ignorieren. Irgendwann wird mein Organismus ja begreifen, daß wir wieder in Europa sind."
"Tja, Mutter und ich, wir haben dich eindeutig vor dieser Reise gewarnt", lautete Bertrams vorwurfsvolle Antwort. "Bleibe im Lande und ernähre dich redlich, das hat schon unser Vater gesagt und davor unser Großvater. Man sollte erst einmal seine eigene Heimat kennenlernen, bevor man in der Welt herumzieht."
Claire spürte Ungeduld in sich aufsteigen.
"Ja, Bertram, das hatten wir schon", erwiderte sie scharf. "Was ist los? Du rufst doch nicht ohne Grund an."
Falls Bertram beleidigt war, ließ er es sich nicht anmerken.
"Stimmt", gab er ihr recht. "Ich hatte es dir ja schon angedeutet. Mutter möchte, daß wir endlich einen Termin für die Hochzeit festlegen. Deshalb möchte ich dich bitten, morgen abend zu uns zu kommen. Dann können wir in Ruhe über alles reden. Wir erwarten dich um zwanzig Uhr. Ist dir das recht?"
Nein, hätte Claire am liebsten geantwortet, aber sie beherrschte sich.
"Morgen Abend paßt es mir gar nicht", verpackte sie ihre Ablehnung etwas freundlicher. "Ich erwarte morgen eine große Lieferung, die Sonny und ich nach Feierabend auspacken und sortieren müssen. Können wir das Gespräch nicht auf's Wochenende verlegen? Das würde mir zeitlich viel besser passen."
Bertram seufzte genervt. Er haßte es, sich nach anderen Menschen richten zu müssen.
"Am Wochenende wollen Mutter und ich eigentlich mit dir zu Tante Henni fahren." Das war eine weitere, niederschmetternde Neuigkeit. Tante Henni zählte stolze siebenundachtzig Jahre, war schwerhörig und ständig schlecht gelaunt. Ein Wochenende bei ihr verleben zu müssen, war so ungefähr das Letzte, was Claire sich wünschte. "Sie feiert doch ihren achtundachtzigsten Geburtstag und da wollen wir natürlich dabei sein. Es wäre schön, wenn wir ihr dann schon mitteilen könnten, wann denn nun die Hochzeit sein wird. Sie wartet schon so lange darauf."
Das glaubte Claire keinesfalls. Tante Henni war es vollkommen schnuppe, wann ihr Großneffe in den heiligen Stand der Ehe trat, weil sie sowieso in ihrer eigenen, muffigen Welt lebte.
"Also, morgen kann ich nicht", beschloß Claire, die Sache rundweg abzulehnen. "Wir müssen eben einen anderen Termin finden. So eilig ist es ja auch nicht."
"Manchmal habe ich den Eindruck, du willst gar nicht heiraten", maulte Bertram beleidigt, ohne zu ahnen, wie nahe der Wahrheit kam. "Immer hast du irgend eine Ausrede. Aber wir können doch nicht ewig als Verlobte herumlaufen. Mutter möchte sich endlich beruhigt aus dem Geschäft zurückziehen können. Das ist aber nur möglich, wenn sie weiß, daß ich versorgt bin."
Ich muß doch wohl verrückt sein, eine Ehe mit diesem Mann auch nur in Erwägung zu ziehen! schoß es Claire durch den Kopf. Wann hatte das angefangen? Wann hatte sich Bertram als ein derartiges Muttersöhnchen entpuppt?
"Laß uns ein anderes Mal darüber reden", sagte sie schnell, um das Gespräch beenden zu können. "Ich habe zu tun. Der Laden ist voll, ich muß mich um meine Kunden kümmern."
"Das finde ich jetzt aber wirklich nicht gut", protestierte Bertram in beleidigtem Tonfall. "Schließlich geht es um unsere Zukunft. Aber bitte, ich werde mich wohl fügen müssen. Ich rufe dann heute abend noch einmal an. Bis dahin hast du Zeit, dir noch einmal zu überlegen, was dir wirklich wichtig ist." Er legte auf, bevor Claire noch etwas sagen konnte.
Na prima, dachte sie deprimiert. Das hatte sie nun davon: Bertram war beleidigt und würde jetzt nur noch hartnäckiger versuchen, sie zu diesem Treffen zu überreden.
Ich muß der Sache ein Ende machen, dachte sie, während sie in den Verkaufsraum zurückkehrte. So geht es schließlich nicht weiter. Ich kann Bertram nicht dauernd in dem Glauben lassen, wir würden heiraten, wenn ich mir hundertprozentig sicher bin, das ich das auf gar keinen Fall möchte. Ich muß ganz einfach endlich, endlich, meinen inneren Schweinehund überwinden und die Tatsachen auf den Tisch packen.
Sonny war gerade dabei, Frau Dörfeld zu bedienen, eine schwierige Kundin, die in sämtlichen Geschäften in und um Wiesbaden gefürchtet wurde und deshalb mit dem Spitznamen "Störfeld" belegt worden war, als Claire in den Verkaufsraum zurückkehrte.
"Hier ist aber ein Fleck", behauptete die Störfeld gerade störrisch. "Sehen Sie doch mal genau hin. Da müssen Sie mir schon einen gewissen Preisnachlaß gewähren."
Sylvia Stördörfeld fand immer irgend etwas an der angebotenen Ware auszusetzen, um es dann billiger erstehen zu können. Ihr Lieblingstrick, kurz vor Feierabend in eine Boutique zu stürzen, sich ein teures Kleid auszusuchen und es dann am nächsten Vormittag, eindeutig getragen, wieder zurückzubringen, hatte ihr bereits in mehreren Boutiquen Hausverbot eingebracht. Deshalb war Claire auch nicht sonderlich erpicht darauf, sie als Kundin zu behalten.
"Wir haben diesen Pulli bestimmt noch einmal in Ihrer Größe da", sagte Sonny gerade mit gleichbleibender Freundlichkeit. "Und auf diesem ist ganz bestimmt kein Fleck."
"Hoffentlich", murmelte Claudia Stördörfeld und wandte sich einem Regal mit Sweatshirts zu, um es gründlich durchzuwühlen. Als die Ladentür mit wütendem Elan aufgerissen wurde, vergaß sie jedoch ihren Spüreifer und wandte sich neugierig um.
"Claire!" Melanie kam wie von Furien gehetzt in den Verkaufsraum gestürmt. "Wie konntest du Bruno nur zu mir schicken? Ich habe dich so gebeten, ihm nicht zu verraten, wo ich bin und jetzt? Er hat mit seiner albernen Klopferei und Brüllerei das halbe Haus rebellisch gemacht."
Claire sandte einen stummen Fluch in Richtung Zimmerdecke, packte Mel am Arm und zerrte sie, ihren Widerstand ignorierend, in den Aufenthaltsraum.
"Sag mal, spinnst du?" fuhr sie dort die Freundin an. "Ich habe keine Kneipe, sondern eine Boutique und zwar eine ziemlich anspruchsvolle. Also sind auch meine Kunden ziemlich anspruchsvoll. Auf jeden Fall schätzen sie solche Auftritte überhaupt nicht."
"Na und?" Melanie reckte kämpferisch das Kinn vor. "Ich schätze es auch nicht, wenn mir meine beste Freundin in den Rücken fällt und mir meinen Exmann auf den Hals hetzt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein Theater Bruno gemacht hat. Er ist erst verschwunden, als ich ihm gesagt hab', daß ich überhaupt nicht mehr nach Hause komme, wenn er mich jetzt nicht in Ruhe läßt."
Claire stemmte die Fäuste in die Seiten.
"Na, dann ist doch alles gut!" hielt sie Melanie entgegen. "Bruno ist weg, du hast deine Ruhe. Was soll der Terz, den du hier gerade veranstaltest?"
Melanies Miene veränderte sich. Plötzlich sah sie wie ein kleines Mädchen aus, daß seiner Mutter gestehen mußte, daß es deren teure Fuchsstola heimlich zum Spielen benutzt und dabei ruiniert hatte.
"Okay, okay, ich hab' wohl etwas überreagiert", gab sie einsichtig geworden zu. "Aber es war eine so megapeinliche Situation. Bruno hat wie ein Idiot gegen die Tür gebummert und rumgeschrien, daß ich aufmachen soll, und daß er mit mir reden muß und so. Und ich lag mit Johnny im Bett und vor lauter Schrecken wußten wir gar nicht, was wir jetzt machen sollen." Eine erste Träne glitzerte in Melanies Augen. Mit einer beinahe trotzig wirkenden Geste wischte sie sie weg und fuhr fort. "Johnny hat dann auch die Panik gekriegt. Hat getobt, von wegen, daß ich ihm das mit Bruno hätte sagen müssen. Hat behauptet, daß er's nie mit verheirateten Frauen tun würde, weil er das echt mies findet und so. Natürlich hab' ich ihm kein Wort geglaubt, aber..."
"Moment, Moment!" Claire hob abwehrend die Hände. "Wer ist dieser Johnny, und wieso lagst du mit ihm im Bett?"
Mel sah sie einen Moment völlig perplex an, dann begann sie zu kichern.
"Du kannst manchmal Fragen stellen!" Sie konnte nicht aufhören zu glucksen. "Okay, Johnny ist der DJ, von dem ich dir erzählt habe. Es ist gestern nacht spät geworden, weil wir noch auf den Flughafen gefahren sind. Na und da habe ich ihn eben mit zu mir genommen, weil er ja in Offenbach wohnt und weil - ach verdammt, weil ich eben mit ihm schlafen wollte!"
"In meiner Wohnung?!" Claire kochte vor Zorn. Sie war bestimmt tolerant, aber das ging zu weit!
"Wo denn sonst?" fragte Mel naiv. "Komm, jetzt sei nicht spießig. John ist in Ordnung, und ich hab' ihn lieb. Deshalb ist mit Bruno auch absolut Schluß. Ich werde mich von ihm scheiden lassen und mit John nach London gehen. Er will mich ganz groß rausbringen."
Claire öffnete den Mund, um Mel anzuschreien, aber dann preßte sie die Lippen ganz fest zusammen. Nein, sie würde nicht auf diesen haarsträubenden Unsinn eingehen. Das, was Mel da gerade erzählt hatte, war einfach zu schwachsinnig. Zu blöde, um auch nur ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren.
"Hör zu", meinte Claire statt dessen, nachdem sie sich ein wenig gefaßt hatte. "Bruno hat deine Eltern informiert. Ich schätze, sie werden demnächst hier einlaufen, um dich nach Hause zu holen. Ich finde, das wäre die beste Lösung. Du wärst wieder im Schoß deiner Familie..."
"Oh nein!" Melanie begann sich die bunten Haare zu raufen. "So eine verdammte Kacke! Wie konnte Bruno mir das nur antun! Meine Eltern, klasse, prima, toll! Jetzt werden sie mir für den Rest meines Lebens erzählen, daß sie doch recht behalten hatten, als sie mich vor der Ehe mit Bruno warnten. Ooohhh, iiiich hasse diesen Tag!"
"Ich auch!" Claire erschrak selbst vor dem hysterischen Klang ihrer Stimme. Hastig riß sie sich zusammen. "Es war ja nur ein Vorschlag", lenkte sie ein. "Jetzt beruhige dich. Irgendwann hätten es deine Eltern ja doch erfahren müssen. Schließlich kannst du dich nicht klammheimlich scheiden lassen und vor ihnen so tun, als sei zwischen dir und Bruno alles in Ordnung."
"Ja-a-ein..." Mel kaute einen Moment intensiv auf ihrer Unterlippe herum, dann nickte sie. "Na ja, du hast natürlich recht, wie immer." Sie seufzte und schickte einen unlustigen Blick in Richtung Ausgang. "Dann werde ich mich mal trollen. Wenn Papa und Mama vor der Tür stehen und niemand aufmacht, kriegen sie noch die Paranoia und holen die Polizei. Papa kriegt sowas fertig."
"Ich wünsch dir Glück", murmelte Claire. "Und überleg' dir die Möglichkeit nach Kronberg ziehen!"
Melanie nickte zwar, aber Claire war sich nicht sicher, ob sie es überhaupt gehört hatte. Der melodische Dreiklang ertönte, als Mel durch die Tür ins Freie trat, dann herrschte erst einmal Ruhe in dem eleganten Geschäft.
Doch der Frieden hielt nur ein paar Sekunden. Dann kam Sonny hereingestürmt.
"Claire, du mußt kommen!" verkündete sie entnervt. "Die Störfeld will partout den Pullover mit dem Flecken und dafür fünfzig Prozent Ermäßigung. Außerdem hat sie inzwischen den halben Laden durchwühlt."
Claire biß einen Moment die Zähne aufeinander, dann wandte sie sich um und verließ den Aufenthaltsraum.
Zwei Minuten später sah man eine hochempörte Claudia Dörfeld aus dem Geschäft stürmen. Sie würde diesen Laden nie wieder in ihrem Leben betreten - dürfen!