Kapitel 1

In Denver hatte es geschneit. Claire zog unwillkürlich die Schultern hoch, als sie aus dem Flughafengebäude auf den Parkplatz hinaustrat, aber der erwartete Kälteschock blieb aus. Hier in Frankfurt herrschten noch angenehme spätsommerliche achtundzwanzig Grad plus, die ihr augenblicklich den Schweiß aus allen Poren trieben. Davids gefütterte Kanadierweste, die sie sich geliehen hatte, und der grobgestrickte Pullover darunter waren für das herrschende deutsche Wetter eindeutig überdimensioniert.

"Schwitzt du nicht?" erkundigte sich Rita überflüssigerweise, während sie gemeinsam auf den kleinen roten Flitzer zusteuerten, den sie auf dem riesigen Parkdeck zwischen einen Van und eine überlange Nobellimousine gequetscht hatte. Rita war eine miserable Autofahrerin, die sich - die Götter mochten wissen warum - immer die engsten Parklücken aussuchte und dann nicht wieder herauskam. Claire beschlichen jedenfalls beim Anblick des eingeklemmten Wägelchens die schlimmsten Befürchtungen, aber sie hielt den Mund.

Sie hieften einen Teil von Claires Gepäck in den viel zu kleinen Kofferraum, der Rest kam auf den Rücksitz, wo es sich so hoch türmte, daß Rita kaum hinausschauen konnte. Das hinderte sie aber nicht daran, mit quietschenden Reifen rückwärts aus der Parklücke zu sausen. Rita drehte sich sowieso nie um, wenn sie zurückstieß.

Claire sandte ein stummes Stoßgebet gen Himmel und legte den Kopf an die Nackenstütze. Sie hatte den turbulenten Flug überstanden, sie würde auch die Nachhausefahrt noch irgendwie überstehen.

"Nun erzähl mal, wie war's so in good old America?" Rita fuhr mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die A-3, zwang einen Kleinlaster zum Abbremsen und trat das Gaspedal durch. "Mensch, wir haben dich ja alle so um diese Reise beneidet. Du hast nur leider wenig von dir hören lassen. Dafür mußt du mir jetzt alles erzählen. Was mich vor allem interessiert, hast du ein paar tolle Männer kennengelernt?"

Claire zuckte bei dieser Frage kaum merklich zusammen. Das Bild eines gutgeschnittenen Männergesichts erhob sich vor ihrem geistigen Auge. Ein breiter, sympathischer Mund, der immer zu lachen schien, Augen, die vor Lebenslust und guter Laune funkelten, ein dunkelblondes Haarbüschel, das sich von keiner Bürste, keinem Gel bändigen ließ...

David, mein Gott, ich vermisse dich jetzt schon!

Claire riß sich gewaltsam von ihrer Erinnerung los.

"...von diesem gähnlangweiligen Berti losbringt", sagte Rita gerade. Sie hatte die ganze Zeit vor sich hingeschwätzt, ohne zu merken, daß Claire ihr nicht zuhörte. Aber das war das angenehme an Rita, sie erwartete nie ernsthaft, daß man auf ihre Fragen antwortete oder ihrem Geplappere zuhörte. So lange sie nur ihr Mundwerk in Gang halten durfte, war Rita-lein zufrieden.

Sie hatten das Wiesbadener Kreuz passiert. Nicht mehr lange, dann würden sie die Landeshauptstadt erreicht haben. Claire freute sich auf ihr Zuhause, auf ihr ruhiges, gemütliches Appartement, die alten Freunde, ihre Arbeit, ihr altes beschauliches Leben, das sie für ein Vierteljahr gegen den American Way Of Life eingetauscht hatte.

Es war kein schlechter Tausch gewesen. Claire hatte sich rundum wohl gefühlt, hatte jeden Tag, den sie in der atemberaubenden Natur von Colorado erleben durfte, aus tiefstem Herzen genossen. Aber jetzt war sie, wenn sie es richtig bedachte, doch froh, wieder nach Hause zurückzukehren - komischerweise wollte ihr Herz das nicht begreifen. Aber das war eine andere Sache.

"...wenn er nur ein Quäntchen Mumm in den Knochen hätte", plapperte Rita indessen ungestört und weitestgehend ungehört weiter. Claire überlegte einen Moment, vorüber Rita wohl gerade gesprochen hatte. Ein Quäntchen Mumm? Aha, sie sprach also immer noch von Bertram, Claires Verlobten!

Rita und Bert konnten sich nicht ausstehen. Aber es gab eigentlich kaum einen Menschen, der Bertram mochte und umgekehrt.

Ob er ihr inzwischen verziehen hatte, daß sie entgegen seinen und Hilde-Maries Empfehlungen für ein Vierteljahr nach Amerika gereist war. Oder schmollten die beiden immer noch? Letzteres war wohl anzunehmen, da Bertram und Hilde-Marie nicht am Flughafen gewesen waren, um sie abzuholen.

"Aber wie stellst du dir das vor?" hatte Bertram bei Claires letztem Anruf entrüstet ausgerufen. "Wie soll ich dich abholen können? Ich muß arbeiten!"

Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf Claires Gesicht. Der gute, doofe Bertram! Er tat immer fürchterlich wichtig mit "seiner" Arbeit. Offiziell war er nämlich der Inhaber von "Schreibwaren-Kleefisch", einem alteingesessenen Betrieb mitten in der Wiesbadener Fußgängerzone. In Wahrheit aber wußte eigentlich jeder in der Landeshauptstadt, daß Hilde-Marie Kleefisch, seine Mutter, die Chefin des Ladens war. Was sie sagte wurde gemacht und zwar ohne Widerrede!

Bertrams Vater war gestorben, als Klein-Berti gerade zarte fünf Jahre zählte. Hilde-Marie hatte den alten Familienbetrieb natürlich erhalten wollen und ihn so lange geleitet, bis ihr Sohn soweit war, dem Geschäft vorzustehen. Inzwischen war Berti fünfunddreißig Jahre alt, noch lange nicht in der Lage, irgend etwas zu leiten. Am allerwenigsten einen Schreibwarenladen mit rund zehn Angestellten.

"Angekommen!"

Ritas fröhlicher Ausruf schreckte Claire aus ihren Gedanken. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und sah wie erwachend um sich.

Tatsächlich, das war das schöne alte Haus mit der herrlichen Stuckfassade, hinter der Claires Appartement lag und da war auch Herr Brandenburger, ihr Nachbar, mit seinem Dackel Hubert, der gerade die Kastanie goß.

"Ich helfe dir noch, das Gepäck hochzuschaffen", bot Rita freundlich an, während sie sich bereits aus dem roten Flitzer schälte. "Aber dann muß ich los. Ich habe Sonny versprochen, sie um halb zwei im Laden abzulösen."

Claire fiel ein, daß sie noch nicht mit einer Silbe nach der Boutique gefragt hatte. Irgendwie war alles noch so weit weg. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, ehe Claire auch mit dem Kopf wieder zuhause war.

Rita hatte sich bereits mit ein paar Gepäckstücken beladen. Claire folgte ihr, schwer an den beiden Koffern schleppend, in denen sie ihre wichtigstens Andenken und Geschenke für alle Lieben aufbewahrte.

Herr Brandenburger winkte ihr erfreut zu, als Claire das Gepäck ins Haus schleppte. Und dann war sie endlich in ihrer Wohnung.