25
Holdat und Kiamet waren fassungslos, als wir die Veranda betraten und auf sie zugingen. Dann schimmerten Tränen der Freude in ihren Augen, als Boaz stehenblieb und ihnen unsere Tochter zeigte.
Die Wächter, die aus ihrem verzauberten Schlaf aufgewacht waren, betrachteten mich nachdenklich.
Was sollten sie jetzt tun?
Bevor sie eine Entscheidung treffen konnten, ging ich hinein.
Ich muß furchtbar ausgesehen haben. Mein Gewand war zerrissen und beschmutzt und noch immer naß. Mein Haar hing strähnig bis zu meinen Hüften hinunter, und vermutlich steckten noch immer Wasserpflanzen darin.
Und ich war offensichtlich nicht mehr schwanger.
Isphet trat vor; ihrem angespannten Gesicht war abzulesen, wie aufgebracht sie war. »Tirzah, was hast du getan?« flüsterte sie. »Tirzah, bitte quäle dich doch nicht so. Du kannst das Kind nicht für immer verstecken. Gib es mir bitte.«
Zabrze und Layla, die hinter ihr standen, runzelten bei ihren Worten die Stirn, von ihren Worten verblüfft.
»Ich habe nicht vor, meine Tochter zu verstecken, Isphet. Dafür ist sie viel zu schön.«
Und Boaz trat mit unserer Tochter auf dem Arm durch die Tür.
Ich glaube, ich werde den Ausdruck auf Isphets Gesicht für alle Zeiten im Herzen bewahren.
»Ihr Name ist Ysgrave«, sagte Boaz sehr leise, den Blick fest auf Isphet gerichtet. »Und sie ist nicht, was du vermutest.
Nzame ist in der Unendlichkeit gefangen. Dieses Kind wird niemandem schaden.«
Isphet schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen der Erleichterung aus, dann trat Zabrze an ihr vorbei und umarmte seinen Bruder.
Ich verschlief den Rest des Tages mit Boaz neben mir und unserer Tochter zwischen uns. Dann, am Abend, versammelten wir uns alle auf der Veranda und sahen der Rückkehr der Juitvögel in einer ungeordneten, hellen und blutroten Wolke zu; sie kamen, um im Schilf zu nisten. Meine Tochter trank an meiner Brust, und alles auf dieser Welt war in Ordnung.
»Erkläre es uns«, sagte Isphet leise, und Boaz tat es.
»Nzame hat sich die Brücke zunutze gemacht, die die Magier – also wir – erschufen, um vom Tal in die Pyramide zu gelangen. Er war auf seltsame Weise an die Macht der Eins und der Pyramide gebunden, und obwohl ihm gestattet worden war, zu bleiben und immer mächtiger zu werden, hätte er sich schließlich von ihrer Herrschaft befreit.«
Ich dachte an die Träume, die Nzame benutzt hatte, um mit Boaz und mir in Verbindung zu treten, und vielleicht auch mit vielen anderen. Wenn er diese Fähigkeit schon hatte, als er noch an die Pyramide gefesselt war, dann wagte ich nicht darüber nachzudenken, wie mächtig er ohne diese Fesseln geworden wäre.
»Er war durch die Eins gebunden, und er konnte mit ihrer Macht gefangen werden. Ich habe die Eins benutzt, um ihn zu ergreifen, ihn zu binden und dann mit ihm zu verschmelzen, dann habe ich mich der Magie der Kammer zur Unendlichkeit bedient, um ihn in die Unendlichkeit mitzunehmen.«
Boaz hielt inne. Er hatte nur wenige Worten benutzt, um etwas zu beschreiben, das eine furchtbare Schlacht gewesen sein mußte, aber seine Gesichtsfarbe und das leise Zittern seiner Finger verrieten den Schrecken dieser Erinnerung.
»Die Unendlichkeit.« Er verstummte, und sein Blick war weit entrückt.
»Wie war sie, Bruder?«
Boaz sammelte sich. »Es war das Nichts, und zugleich war es alles. Wir haben unsere Sprache entwickelt, um in der Welt, in der wir leben, zurechtzukommen. Sie kann unmöglich das erklären, was ich dort vorgefunden habe.«
»Du bist wochenlang dort gewesen«, sagte ich. »Wir hielten dich für verloren.«
»Wochen? Vermutlich war es so lange.« Er lächelte mich an.
»Oder du hast deine Fertigkeiten in der Magie der Elemente dazu benutzt, dieses Mädchen sehr schnell wachsen zu lassen.
Ja, gut. Wochen. Mir war nicht klar, daß es so lange war. In der Unendlichkeit hat Zeit keine Bedeutung, ist keine Größenordnung. Während ich dort war, stellte ich Untersuchungen an, erforschte alles mögliche. Ich wünschte…«
Er mußte nicht zu Ende sprechen. Wäre ich nicht gewesen, wäre er nie zurückgekehrt. Aber das, was er entdeckt hatte, hatte ihn verändert. Ich konnte sehen, daß sein neu gefundenes Wissen die Schatten um seine Augen vertiefte.
»In der Unendlichkeit erkannte ich, daß das Lied der Frösche – die Formel, die einen in die Zuflucht im Jenseits bringen kann – feine Schattierungen hat, die ich möglicherweise so verändern konnte, daß ich nur bis zur Grenze der Zuflucht reisen mußte, nicht weiter. Aber das Grenzland ist gefährlich, und ich wußte nicht, ob ich dann für alle Zeiten dort gefangen sein oder doch entkommen würde. Aber ich wollte es wagen. Ich wollte nach Hause zurückkehren.«
Diese schlichte Feststellung ließ mir Tränen in die Augen schießen.
»Und so sang ich das Lied der Frösche, und als ich beinahe in der Zuflucht im Jenseits angekommen war, mußte ich meine ganze Kraft und all meine Fähigkeiten einsetzen, um auch tatsächlich an der Grenze zu bleiben. Die Soulenai wußten nicht, was nicht stimmte, sie wollten, daß ich zu ihnen komme… aber ich glaubte… ich glaubte, noch immer eine Hoffnung auf Rückkehr zu haben.«
Er hielt inne und holte tief Luft. »Aber ich konnte mich nicht bewegen, nicht aus eigenem Antrieb. Das Lied hatte seine Arbeit getan und löste sich auf. Ich werde es nie wieder benutzen können. Ich hätte nicht einmal die Zuflucht richtig betreten können, auch wenn ich das gewollt hätte. Gefangen. Gefangen im Grenzland.«
Boaz drückte meine Hand. »Und so konnte ich nur darauf hoffen, daß du mich retten würdest. Das Band zwischen uns ist durch Schmerzen und Angst geschmiedet und durch Liebe, Vertrauen und Macht gehärtet worden. Es hat uns zusammengebracht, als wir durch große Entfernungen, durch Raum und Zeit voneinander getrennt waren.« Er schwieg.
»Aber zu diesem Band gehört noch etwas anderes, etwas, daß ich nicht so richtig erklären kann.«
»Die Frösche«, sagte ich.
»Ja, die Frösche. Ich glaube, keiner von uns kann die Macht und das Mysterium der Frösche bislang richtig begreifen.
Tirzah und ich leben in einem Bund nicht nur miteinander, sondern auch mit den Fröschen.«
»Und am Ende waren es die Frösche, die mir halfen, dich zu erreichen.« Ich erklärte den anderen, daß die Frösche gesungen hatten, als ich mich verirrt hatte und zu erschöpft zur Weiterfahrt gewesen war. »Ich war Boaz so nahe, konnte aber nicht zu ihm kommen. Erst durch die Frösche bin ich am Ziel meiner Reise angekommen.«
Wir schwiegen lange Zeit. Ysgrave schlief warm und sicher an meiner Brust, Boaz’ Hand lag auf meiner Schulter. Isphet und Zabrze saßen so nahe beieinander wie Boaz und ich, und die Hündin hatte sich zu Laylas Füßen zusammengerollt. Auf der anderen Seite des Tisches erfreuten sich Kiamet und Holdat an einem Krug Wein, und hörten uns zu.
Die Juitvögel hatten sich für die Nacht zur Ruhe begeben, und im Schilf quakten die Frösche.
»Zabrze«, sagte Boaz. »Du brauchst mich nicht in Setkoth. Tirzah und ich werden eine Weile hier bleiben. Uns ausruhen. Nachdenken. Zuhören, was die Frösche uns zu sagen haben. Das Marschland erforschen.«
»Verirrt euch nicht«, sagte Zabrze scharf. »Ich will keinen von euch jemals wieder verlieren.«
»Nein«, erwiderte Boaz, und der Griff seiner Hand wurde fester, »ich glaube nicht, daß das passieren wird.«
»Und die Unendlichkeit?« fragte Zabrze. »Wirst du je dorthin zurückkehren?«
»Nein. Und noch etwas: Was auch immer du in Setkoth vorhast, Zabrze, du mußt jedes Aufflackern von Forschung nach der Unendlichkeitsformel im Keim ersticken. Nzame ist nicht vernichtet, er ist lediglich in der Unendlichkeit gefangen.
Wer vermag schon zu sagen, was er dort im Laufe der kommenden Jahrhunderte ersinnt. Ich will nicht, daß man weitere Brücken in die Unendlichkeit baut, denn dann fürchte ich, daß Nzame sofort wieder unsere Welt betritt. Grausamer und machtvoller als je zuvor.«
»Dann werde ich die Bücher und Schriften der Magier verbrennen lassen«, sagte Zabrze. »Jede Spur von ihnen tilgen.«
»Gut.«
Zabrze beugte sich vor. »Boaz, sag mir, was wir mit der Pyramide machen sollen.«
»Entfernt die Glasplatten von der Außenseite. Schmelzt sie ein und verkauft sie als Perlen für Halsketten – die En-Dorer werden sie besonders mögen. Befreit die Kammer zur Unendlichkeit von allem goldenen Glas und schmelzt es ein.
Vergrabt es. Macht es mit dem Schlußstein genauso. Dann versperrt jeden Schacht und Eingang so, daß keiner jemals wieder einen Weg hineinfindet.«
»Soll das ganze Bauwerk abgerissen werden?«
»Nein. Es hat acht Generationen gedauert, um es zu errichten, und würde zwei oder drei brauchen, es wieder niederzureißen.
Dabei würden nur noch mehr Menschen sterben, und das werde ich nicht dulden. Nein. Füllt die Schächte und Gänge mit Stein und verschließt damit alle Eingänge. Dann überlasse die Pyramide dem Sand. Er soll sie und die Erinnerungen an sie einhüllen und dann unter sich begraben. Hinterlasse den kommenden Generationen ein Rätsel – aber keinen Hinweis auf seine Lösung.«