21
Am nächsten Morgen waren wir sehr schweigsam. Was sagt man zu jemandem, den man liebt und an diesem Tag verlieren wird? Da ist kein Abschied möglich.
Alle waren sehr verhalten, als hätte sich unsere Stimmung über ganz Setkoth ausgebreitet. Zabrze hatte ein paar Flußschiffe aufgetrieben, und Boaz und ich bestiegen das erste zusammen mit Zabrze, Isphet, Iraldur und einer Abteilung Soldaten. Weitere Soldaten bestiegen die Schiffe hinter uns.
Aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß uns die Soldaten an diesem Tag von großem Nutzen sein würden.
Layla blieb zurück, Kiamet und Holdat auch. Ich ließ den Froschkelch und das Buch der Soulenai bei ihnen. Wozu nutzten sie mir jetzt noch? Welchen Trost konnten sie mir spenden? Sie würden nur noch eine bittere Erinnerung an den Mann sein, den ich verloren hatte.
Die Ruder tauchten in den Fluß ein, die Frösche sangen, und ich glaube, in diesem Augenblick haßte ich die ganze Welt.
Isphet trat zu mir, um mit mir zu sprechen, aber ich schüttelte ihre Hand ab und ging zum Bug. Mir blieben noch vier oder fünf Stunden. Vier oder fünf.
Boaz kam, und wir standen stumm da und schauten vor uns auf das Wasser.
»Weißt du«, sagte er leise, »daß ich dich von dem Moment an geliebt habe, in dem du in Setkoth diese Glasfrösche geschliffen hast?«
Ich schwieg weiterhin, verbittert. Der Wind wehte mir das Haar in die Augen, und ich riß es mit einer scharfen Bewegung hinter das Ohr.
»Wir saßen da, an den gegenüberliegenden Seiten des Tisches, das Glas verband uns, spann Fäden der Liebe. Ich frage mich, was es wohl bei der Berührung unserer Hände dachte, meine Geliebte.«
Ich biß mir auf die Lippen, fest entschlossen, ihn nicht anzusehen.
Er seufzte. »Tirzah, ich wünschte, es hätte anders für dich und mich ausgehen können. Ich wünschte, wir hätten uns als Wasserträger und als Wäscherin kennengelernt, dann wäre nichts zwischen uns getreten.«
Ein verirrter Juitvogel nistete im Schilf, und ich fragte mich, wie er da hinkam. Hatte sich Fetizzas Einfluß so weit ausgedehnt, daß der See befreit war? Oder wartete der Vogel hier darauf, daß Fetizzas Magie See und Marschland befreite?
»Wir hätten am Flußufer beim Frühlingsfest tanzen und eine trunkene Nacht im Schilf verbringen können.«
Wider Willen mußte ich lächeln und verkniff es mir sofort wieder.
»Ich hätte deinen Vater um deine Hand gebeten, und er hätte sich zurückgelehnt und so getan, als müßte er darüber nachdenken. Aber er hätte eingewilligt, denn Wasserträger sind immer ein guter Fang für junge Wäscherinnen.«
Er sollte verdammt sein. Er sollte verdammt sein!
»Und wir hätten zur Sommersonnenwende geheiratet, und du hättest über die Zahl der Kinder gemurrt, die ich dir geschenkt hätte und über die du auf dem Weg zum Waschtrog dauernd gestolpert wärst.«
Er holte tief und zittrig Luft. »Aber das alles ist uns versagt geblieben, Tirzah. Wir waren Magier und Sklavin, und so verbrachte ich Monate damit, scheußlich zu dir zu sein, und dann habe ich dir noch mehr Qualen bereitet, als ein Mensch ertragen kann.«
»Boaz…«
»Und jetzt werde ich dir noch mehr Qualen bereiten. Tirzah, kannst du mir all das verzeihen, was ich dir angetan habe und jetzt antun werde?«
»Hör auf damit! Boaz, du und ich hätten ein noch lausigeres Paar Wasserträger und Wäscherin abgegeben als Magier und Sklavin. Ich will jetzt nicht reden. Bitte. Wir werden diese letzten Stunden nur noch trübseliger machen.«
»Ich glaube, nichts kann sie trübseliger machen, als sie schon sind«, sagte er, aber er hielt mich lange Zeit nur schweigend im Arm, und wir sahen zu, wie der Fluß an uns vorbeiglitt.
Je näher wir der Pyramide kamen, desto dicker und verkrusteter war der Stein, und ich ging davon aus, daß der Juitsee noch immer darin erstarrt war. Wanderte Memmon noch immer den Pfad zwischen Fluß und Haus auf und ab? Ich erschauderte, und Boaz’ Arme griffen fester zu.
»Aber was ich am meisten von allem bedauere, ist das, was ich dich bitten muß, unserem Kind anzutun. Ich will die Zuflucht im Jenseits nicht mit dem Wissen betreten, daß Nzame währenddessen sicher in deinem Schoß heranwächst.
Bitte, ich bitte dich, ich will dich nicht mit Nzame zurücklassen.«
»Ich werde tun, was du wünschst, Boaz. Ich verspreche es.«
»Danke«, flüsterte er. »Jetzt weiß ich, daß unser Opfer es wert sein wird.«
Stöhnende Steinmänner stapften am Ufer entlang. Es waren jedoch nicht viele, und die Soldaten wurden leicht mit ihnen fertig.
Vor uns erhob sich die Pyramide, sah auf grausame Weise schön aus, pulsierte vor Leben, wuchs.
Wartete.
Ihr Schatten flackerte.
Gesholme war zu einzelnen Steinhaufen verkommen. Nzame hatte nicht gewollt, daß irgendetwas den Blick auf den Fluß verstellte. Die Pyramide unterschied sich rein äußerlich nicht sehr von der, vor der wir geflohen waren; der goldene Schlußstein funkelte in der Sonne, die blaugrünen Glasplatten leuchteten, und der finstere Rachen stand noch immer weit geöffnet.
»Bruder…«
Zabrze stand hinter uns, Unsicherheit in seinem Blick.
»Bruder, bist du dir sicher, daß du es schaffen kannst?«
»Ja, natürlich bin ich das«, erwiderte Boaz und brachte ein zuversichtliches Lächeln zustande. »Von heute nachmittag an sollst du dein Reich zurückhaben, Chad Zabrze.« Er schlug Zabrze auf die Schulter, dann ging er an ihm vorbei auf die ausgelegte Landeplanke zu.
»Tirzah?« fragte Zabrze. »Bleibst du hier?«
»Nein. Ich werde bis zum Ende mitmachen.« Und ich schob mich ebenfalls an ihm vorbei.
Zabrze wußte Bescheid, dachte ich. Irgendwie wußte er es.
Isphet fing mich ab. »Tirzah?« Ihre Finger krallten sich in meinen Arm. »Was hat Boaz vor?«
Boaz stand jetzt auf dem Kai und sah ungerührt zu, wie eine Gruppe von zehn Soldaten drei Steinmänner außer Gefecht setzten, die auf uns zukamen. Er sah so schön aus, in seinem schlichten weißen Gewand, das Haar zurückgekämmt.
Wenn alles wie geplant verlief, würde er heute abend bei den Soulenai ruhen.
Wenn alles wie geplant verlief.
»Er wird Nzame in der Unendlichkeit gefangensetzen«, sagte ich. »Und dann wird er das Lied der Frösche dazu benutzen, um in die Zuflucht im Jenseits zu flüchten.«
»Aber das bedeutet…« Isphet verstummte, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.
»Ja, Isphet, ich weiß, was das bedeutet.«
Sie starrte mich an, dann nickte sie. Isphet würde ihre Zeit nicht mit sinnlosen Banalitäten verschwenden, und dafür war ich ihr dankbar.
»Dann laß uns bis zum Ende dabei sein, Tirzah. Laß es uns miterleben und miteinander teilen.«
Ich holte tief Luft, nickte, und wir verließen Arm in Arm das Boot.
Nachdem wir den Kai verlassen hatten, belästigte uns kein Steinmann mehr.
Nichts störte uns außer Nzames pulsierender Gegenwart.
Die Magier waren um die Pyramide herum postiert. Hunderte der schwarzen Gestalten begrüßten uns, als wir die Prachtstraße entlang gingen, schwankten hin und her, stöhnten Nzames Namen, bis zu den Knöcheln in dem schwarzen, glasigen Felsen versunken, der sich vom Rand der Pyramide ausgebreitet hatte. Sie sahen wie ein Garten aus, sauber gepflanzt, und vermutlich waren sie das sogar auf eine gewisse Art und Weise.
Als wir uns der Pyramide fast ganz genähert hatten, sahen wir, daß sie doch nicht ganz so wie zuvor war. Die Pyramide war gewachsen. Sie war fast doppelt so groß wie vorher. Und hinter den Glasplatten wanderten Augen auf und ab, Tausende, und Gesichter und Hände drückten sich kurze Augenblicke lang gegen das Glas und lösten sich dann in Nichts auf.
Die Seelen all jener, die Nzame verschlungen hatte. Für alle Ewigkeit im Glas der Pyramide gefangen.
Wir blieben zwanzig Schritt vor der Rampe stehen, die zu ihrem hungrigen Maul führte.
Mir war übel, ich hatte weiche Knie. Ich konnte nicht glauben, daß Boaz diese Rampe hinaufgehen und die Pyramide betreten würde.
Boaz sah Zabrze an und nickte, dann wandte er sich mir zu.
Er schlang die Arme um mich und zog mich fest an sich. Ich klammerte mich so fest an ihn, wie ich nur konnte, wollte ihn anbrüllen, nicht zu gehen, nicht hineinzugehen. Oh ihr Götter, laß mich nicht so zurück, geh nicht, geh nicht…
»Ich habe mein Leben im Bann und im Dienst dieser Bestie gelebt«, sagte er sehr ruhig. »Es ist passend, daß ich mein Leben und ihr Leben auf diese Weise beende.«
Er faßte mein Kinn und hob mein Gesicht. Durch den Tränenschleier hindurch konnte ich ihn kaum erkennen. »Oh, Tirzah, bitte weine nicht. Du und ich, wir werden uns wiedersehen, in der Zuflucht im Jenseits. Dort werden wir die ganze Ewigkeit miteinander verbringen. Bitte, Tirzah, bitte lächle, mir zuliebe.«
Ich versuchte es, die Götter wissen, daß ich es versuchte, aber ich konnte es nicht. Ich vergrub das Gesicht an seiner Brust und schluchzte wieder, verabscheute mich dafür, daß ich nicht noch einmal lächeln konnte.
Hände ergriffen meine Schultern und zogen mich zurück.
Zabrze.
»Lebewohl, Tirzah«, flüsterte Boaz und küßte mich zärtlich, dann ging er.
Nzame tobte. Wir konnten ihn hören, wir konnten ihn fühlen, und irgendwie konnten wir auch Boaz fühlen, wie er durch die verschiedenen Gänge nach oben stieg, sich langsam zur Kammer zur Unendlichkeit begab.
Ich weiß nicht, wie er überhaupt so weit kommen konnte.
Möglicherweise konnte er seine Macht als Magier oder als Elementenmeister benutzen, um Nzame abzuwehren, aber schließlich betrat er die furchtbare Kammer zur Unendlichkeit, wo ihn die Stimme von Nzame empfing.
Narr! Zum Untergang verurteilter Narr! Geh zurück! Geh zurück!
Die Gesichter und Hände, die sich gegen die Wände der Pyramide preßten, wurden noch unruhiger; die Umrisse ihrer Nasen und Stirnen dehnten sich, ihre Hände schlugen und drückten, suchten zu entkommen, zu fliehen…
Nzame schrie, jetzt völlig wortlos, und ich ließ zu, daß Zabrze mich weiter festhielt.
Gesichter und Hände verschwanden und wurden durch blutige Schriftzeichen ersetzt, die sich über alle Außenwände schlängelten.
Boaz hatte in der Pyramide die Kammer zur Unendlichkeit zum Leben erweckt.
Energie summte durch die Sohlen meiner Sandalen, jeder der am Straßenrand und um die Pyramide herum gepflanzten Magier warf den Kopf zurück und stieß ein schauerliches Heulen aus.
Tief im Inneren der Pyramide blitzte Licht auf, dann gleißte der ganze Bau in strahlender Helligkeit, als würde er eine Sonne enthalten.
Ich schrie genauso wie alle anderen, und Zabrze riß mich herum und versuchte, mit seiner Hand meine Augen zu bedecken.
Tirzah!
Etwas schrie auf. Ich weiß nicht, was es war, was… wer es war.
Tirzah!
Und dann – nichts.
Nichts.
Das Licht war erloschen. Die Schrift war verschwunden. Die in Glas gefangenen Gesichter und Hände hatten sich aufgelöst.
Die Pyramide funkelte friedlich in der Sonne.
Unschuldig.
Nzame war verschwunden.
So wie die Magier. Sie waren zu schwarzen Lachen zerschmolzen, und diese lösten sich schnell in der Nachmittagssonne auf.
Dann gab es ein lautes Krachen, und ein Spalt öffnete sich vom Fluß bis zur südöstlichen Ecke der Pyramide. Und dann noch einer, diesmal vom Fluß zur südwestlichen Ecke.
Und dann zerbrach das ganze Land um uns herum.
»Boaz!« schrie ich. Ich riß mich von Zabrze los und rannte in die Pyramide hinein.
Es war schwarz, alles war schwarz. Nzame hatte alles zu Schwarz zerschmelzen lassen.
Schwarz und rutschig. Ich stürzte mehr als ein Dutzend Mal, als ich den Hauptgang zur Kammer zur Unendlichkeit hinauflief; einmal schlug ich so hart mit dem Gesicht auf, daß meine Nase zu bluten anfing, aber ich rappelte mich auf, wischte mir das Blut aus dem Gesicht und lief weiter.
Ich fühlte nichts von der Pyramide. Nichts.
Ich rannte um die letzten Biegungen, hörte ein Geräusch weit hinter mir, aber mein Keuchen machte es mir unmöglich, es genau zu bestimmen.
Licht tröpfelte aus einer Abzweigung hervor. Helles Licht.
Die Kammer zur Unendlichkeit.
Ich kam um die Biegung und blieb stehen. Aus der Tür zur Kammer strömte Licht, das fast so hell war wie die Sonne.
Und ich konnte etwas hören.
Das Glas. Die goldenen Glasnetze schnatterten aufgeregt miteinander.
Ich ging langsam weiter, unsicher, mußte immer wieder die Augen zukneifen. Ich erreichte die Tür und streckte die Hand in den Raum.
Nichts. Nur das Durcheinandergeplapper des Glases.
Ich zögerte nicht länger. Ich hatte nichts zu verlieren. Das Licht verblich – oder veränderte sich, ich kann es nicht mit Sicherheit sagen –, in dem Augenblick, in dem ich eintrat. Es war noch immer so hell, daß ich mühelos sehen konnte.
Ich drehte mich langsam um. Die Kammer war leer. Und das Glas funkelte fröhlich. Isphet stürzte herein, ihre Brust hob und senkte sich. »Und nun?«
Ich gab keine Antwort, sondern trat an eine der Wände und legte die Hand auf das Glas. Was auch immer es jemals zu Schreien der Qual veranlaßt hatte – Nzames Einfluß aus dem Tal war verschwunden. Die Brücke ins Tal war zerstört.
Ich holte tief Luft, hörte dem Glas zu. Es war jetzt glücklich, genoß seine Schönheit.
Isphet legte neben mir die Hände auf das Glas.
»Sagt uns, was geschehen ist«, flüsterte sie, und das Glas gehorchte.
Es hatte einen großen Kampf gegeben. Ein Mann war eingetreten und hatte mit Nzame gerungen. Da war viel Schmerz gewesen, viel Gebrüll.
Und der Mann hatte die Brücke in die Unendlichkeit betreten.
»Und dann?« flüsterte ich. »Und dann?«
Dann waren der Mann und Nzame verschwunden. Einfach verschwunden.
»Hat Boaz Nzame mit in die Unendlichkeit genommen?«
fragte ich flüsternd; meine Hände drückten so stark auf das Glas, daß seine Kanten in meine Handfläche und die Finger schnitten.
Das Glas vermutete es. Boaz war nicht mehr da, nicht wahr?
Und es konnte Nzame nicht mehr fühlen.
»Wurde… wurde eine Brücke an einen anderen Ort erschaffen?« wollte ich wissen. »Zu irgend jemandem?«
Das Glas war verwirrt. Wovon sprach ich?
Isphet wandte den Blick von dem Glas ab und sah mich an.
»Könnte es sein, daß Nzame… anderswo hin ist… als in die Unendlichkeit?«
Das Glas kümmerte das nicht. Er war fort. Das war das Wichtigste. Es plauderte glücklich mit sich selbst und achtete nicht mehr auf meine Fragen.
»Tirzah«, sagte Isphet. »Komm jetzt. Es ist vorbei. Er ist gegangen. Komm weg hier.«
Und sie redete weiter leise auf mich ein und zog mich aus der Kammer zur Unendlichkeit hinaus.