12

Wir saßen auf einer kühlen Felsplatte unter einem Felsvorsprung, Boaz und ich. Zu unseren Füßen plätscherte das Wasser des Flusses ans Ufer. Über uns ragten die Wände der Kluft in den Abendhimmel. Die Bewohner der Kluft erholten sich von der Last des Tages, teilten Mahlzeiten mit Freunden, Nachbarn, Geliebten. Ich fragte mich, ob sie auch ihr Lachen miteinander teilten.

Vermutlich wenig oder gar nicht, denn die Stimmung hier unten war gedämpft. Unaufhaltsam kroch die Versteinerung auf uns zu. Späher berichteten, daß ein großer Teil der Ebene von Lagamaal zwischen dem Lhyl und den Bergen der Kluft bereits von Nzames Stein verschlungen war. Nzame würde nach diesem idyllischen Leben hier greifen, wenn nicht in dieser Woche, dann in der nächsten oder eben in sechs Wochen. Hier gab es Nahrung für ihn.

Hier gab es uns.

»Jedesmal, wenn wir die Macht als Gruppe ergreifen, weiß Nzame darüber Bescheid«, sagte Boaz leise. »Am Juitsee, jetzt hier.«

»Was sollen wir tun?«

»Tun? Oh Tirzah, weißt du es denn nicht mehr? Ich soll die Macht der Eins mit dem verdammten Lied der Frösche vereinen und uns alle retten.«

»Boaz, hör auf, eines Tages wirst du entdecken…« begann ich.

»›Eines Tages‹ ist zu spät, für uns ebenso wie für diese dahinstolpernden Steinmänner. Oh ihr Götter, Tirzah. Hast du ihn gesehen? Memmon? Wie er tagein, tagaus diesen Pfad entlangstolpert? Hält er nach mir Ausschau, damit ich ihn…«

»Hör auf damit, Boaz! Es reicht, wenn Zabrze Tag und Nacht durch die Gänge schleicht und sich Vorwürfe macht, daß er zur Untätigkeit verdammt ist, da mußt du es ihm nicht gleichtun!«

Zabrze hatte seit Wochen nur wenig gehört. Überall war nur noch Stein, Stein, der sich nach Osten und Westen, Norden und Süden ausbreitete, und Steinmänner, und es gab nichts Neues von den Boten, die er in die Nachbarländer geschickt hatte. Waren sie durchgekommen? Oder stapften sie jetzt auch ungefüge daher… und stöhnten?

Ich bedauerte meinen scharfen Ton und legte die Arme um Boaz.

Wir saßen schweigend da und sahen zu, wie ein Frosch aus dem Fluß kam. Fetizzas Frösche zählten nun nach Tausenden und bevölkerten den Fluß die ganze Kluft entlang. Sie waren etwas gewachsen, hatten aber ihre schöne bernsteinfarbene Tönung behalten. Es war fast so, als wären die Frösche des Kelches zum Leben erwacht.

Seit unseren Erlebnissen in der Kammer des Träumens waren drei Tage vergangen. Wir hatten uns bei mehreren Gelegenheiten getroffen, um uns zu besprechen, aber Isphet und Yaqob hatten genauso wenig Einfälle wie Boaz und ich.

Das Lied der Frösche war der Schlüssel. Aber wo sollten wir nach dem Schlüssel suchen?

Mitten in unsere Überlegungen hinein erschien plötzlich Fetizza und hüpfte zum Wasserrand. Sie war jetzt riesig, hatte die Größe eines kleinen Hundes erreicht, und war häßlicher als irgendetwas auf der Welt. Die schlammbraune Haut war warzenübersät, die Flecken wurden täglich dunkler, aber ihr Maul wurde breiter und grinste glücklicher als je zuvor.

Und ihre Augen blieben wunderschön, und sie blinzelte uns langsam an, während sie ihren massigen Leib auf einem Felsen in Flußnähe in eine bequeme Position brachte.

Sie gähnte, und ich erwartete einen weiteren Bernsteinfrosch zwischen ihren Lippen hervorkriechen zu sehen, aber es kam keiner, und dann schloß Fetizza das Maul wieder mit einem deutlich hörbaren Schnappen.

In der ganzen Kluft krochen Bernsteinfrösche aus dem Fluß und räusperten sich alle auf einmal.

Mit einem gewaltigen Laut, der je zur Hälfte Rülpser und Quaken war, stimmte Fetizza den Chor an. Die in ihm steckende Kraft ließ sie beinahe von dem Felsen purzeln, und sie mußte sich mit den Zehen festsaugen. Aber sie schaffte es, und als ihre so viel winzigeren Gefährten mit ihrer prächtigen Harmonie anfingen, öffnete sie das Maul und quakte fröhlich mit.

»Bist du sicher«, flüsterte Boaz mir ins Ohr, »daß du mit deiner Begabung für Sprachen niemals Froschquaken gelernt hast?«

»Wir hatten in Viland nur wenig Frösche, mein Geliebter, und die, die wir hatten, waren zu alt zum Quaken. Walgesang, den kann ich dir beibringen!«

Wir hörten dem Abendchor der Frösche eine Zeitlang zu. Er hatte seine ganz eigene Schönheit. Das Quaken eines einzelnen Frosches war oft ein wenig schöner Laut, aber wenn Hunderte oder Tausende Frösche zusammenkamen und den Mond oder die Sonne ansangen, dann wurde ihr Quaken zu etwas…

Ja, was?

Ich merkte auf einmal, daß ich fast schon in Boaz’ Armen träumte.

Der Chor veränderte sich etwas, aber ich schenkte dem keine große Aufmerksamkeit, bis ich fühlte, wie sich Boaz anspannte.

»Boaz?«

»Pst, Tirzah. Hör zu.«

In seiner Stimme schwang Erregung mit, und ich setzte mich auf; vorsichtig, weil ich keinen Lärm machen wollte.

Er starrte auf den Fluß, aber sein Blick ging ins Leere, und ich begriff, daß er sich stark konzentrierte.

Die Frösche sangen noch immer im Chor, aber sie sangen langsamer als vorher, und sie sangen in unterschiedlichen Gruppen. Eine weit entfernte Gruppe sang in einem kehligen Baß, während eine andere mehr in Fetizzas Nähe in einem schnelleren Tempo und mit helleren Stimmen quakte. Und so setzte sich der Gesang fort, die ganze Kluft entlang.

Zusammengenommen klang es noch immer wie ein gewöhnlicher Froschchor… aber wenn man genau hinhörte…

Boaz griff nach meiner Hand. Er zitterte vor Aufregung.

»Tirzah… Tirzah…«

Er verstummte, und ich hätte ihn am liebsten an den Schultern gepackt und es aus ihm herausgeschüttelt, aber ich wußte, daß er sich noch immer darauf konzentrierte, die Bedeutung des Gehörten herauszufinden.

»Oh ihr Götter«, flüsterte er und erschauderte dann. »Oh ihr Götter.«

»Boaz? Boaz?«

Eine Bewegung zu meiner Rechten. Yaqob und Isphet. Auch sie mußten den Unterschied im Froschchor gehört haben, und vielleicht hatten sie sogar etwas von Boaz’ Aufregung gespürt.

Seit dem Tag in der Kammer des Träumens hatten wir uns dabei ertappt, gelegentlich Gedanken und Gefühle zu teilen.

Ich schüttelte den Kopf und warnte sie, kein Wort zu sagen, und sie ließen sich auf dem Felsen nieder und sahen Boaz an.

Er ließ meine Hand los und beugte sich vor. Seine Blicke huschten die Kluft entlang, suchten einzelne Froschgruppen.

Gelegentlich murmelte er: »Ja… ja…«

Und dann hörten die Frösche verblüffenderweise alle im selben Augenblick auf. Jeder schloß das Maul… und starrte zu Boaz zurück.

»Ja, ja«, hauchte er. »Ich glaube, ich verstehe. Einmal noch. Bitte, einmal noch.«

Wieder öffneten alle Frösche zugleich die Mäuler und sangen im Chor.

Yaqob rutschte ungeduldig hin und her, und Isphet legte ihm die Hand auf den Arm. »Warte«, formte sie lautlos mit den Lippen, dann trafen sich unsere Blicke.

Verstehst du es, Tirzah?

Ich schüttelte den Kopf. Ich kann den Unterschied hören, genau wie du und Yaqob. Aber ich verstehe nichts.

Es ist langsamer, das ist der Unterschied.

Ja, und viel komplizierter. Hör doch, sie werden schneller, und es klingt fast normal.

Ja. Ja, ich höre es.

Wir warteten ab, beobachteten abwechselnd Boaz und die Frösche, und als das Lied zu Ende war und die Frösche ins Wasser gehüpft waren und Fetizza schlief, beugte ich mich vor. »Und?«

Boaz zögerte. »Es wird dir nicht gefallen«, sagte er, »aber…«

»Aber?« fragte Yaqob. »Aber was?«

»Aber das Lied der Frösche ist eine mathematische Formel.«

»Was?« riefen wir wie aus einem Mund.

»Das Lied der Frösche ist eine mathematische Formel. Nein, wartet, das ergibt durchaus einen Sinn. Musik hat seit jeher viel mit Mathematik zu tun gehabt. Harmonien können als mathematische Formeln dargestellt werden. Shetzah! Warum ist mir nicht schon früher eingefallen, daß es umgekehrt ebenso ist?«

Boaz holte tief Luft, dann sprach er ungeduldig weiter. »Hört mir zu. Tirzah hat die Geschichte ›Das Lied der Frösche‹ aus dem Buch der Soulenai vorgelesen.«

Yaqob und Isphet nickten und bezwangen ihre eigene Ungeduld.

»Nun, als Dank für die Tränen, die den Lhyl erschufen, machten die Frösche den Soulenai ein Geschenk. Ein Lied.

Das einen Weg wies. Einen Weg zur Zuflucht im Jenseits. Die Soulenai erkannten das, folgten dem Weg und fanden so dorthin.«

»Ja, aber…« fing ich an, aber Boaz brachte mich mit einer Geste zum Schweigen.

»Und haben die Magier nicht genau dasselbe an der Pyramide getan, nur daß sie ein Gebäude als Weg oder Brücke in die Unendlichkeit gebaut haben, eine gestaltgewordene Formel? Die Pyramide ist eine mathematische Formel, der man physische Gestalt verliehen hat, um einen Zugang in die Unendlichkeit zu erschaffen. Das Lied der Frösche ist eine mathematische Formel, die als Musik ausgedrückt ist, um einen Weg zu der Zuflucht im Jenseits zu erschaffen.«

»Das ist… wunderbar!« rief ich. »Heißt das, wenn wir diese Formel erlernen, dann können wir zwischen dieser Welt und der Zuflucht im Jenseits hin- und herreisen?«

»Ist das möglich, Boaz?« sagte Yaqob. »Können wir das tun?«

»Nein.«

»Aber du hast gesagt…«

»Ich habe gesagt, daß das Lied der Frösche eine mathematische Formel ist, die einen Weg zu der Zuflucht eröffnet. Eine Brücke zwischen zwei Dimensionen, wenn ihr so wollt. Aber es gibt einen Haken, so wie auch bei der Pyramide ein Haken war – der den Magiern allerdings gleichgültig war.«

»Und was ist das für ein Haken?« fragte Isphet ruhig.

»Es ist ein Weg, der nur in eine Richtung führt«, sagte Boaz.

»Man benutzt ihn einmal, und man wird in die Unendlichkeit oder zu der Zuflucht geleitet, es kommt darauf an, welche Formel man benutzt. Aber wenn man einmal dort ist, bleibt man auch dort. Darum sind die Soulenai nie zurückgekehrt.«

Wir schwiegen und dachten darüber nach.

»Kannst du uns dieses Lied beibringen?« fragte Yaqob.

»Kannst du uns zeigen, wie es gebaut ist?«

»Ich wüßte nicht, warum das nicht gehen sollte. Hört zu…«

Und Boaz erläuterte die mathematischen Eigenschaften des Liedes der Frösche in allen Einzelheiten.

Keiner von uns verstand ein Wort.

»Boaz, kannst du das in einfachen Begriffen erklären? Keiner von uns ist in Mathematik unterrichtet worden. Und was du da sagst über…«

Boaz runzelte die Stirn. »Das war die einfache Erklärung.

Aber ich will versuchen, es auf eine andere Weise zu erklären.«

Aber wir erkannten, daß nur jemand, der Mathematik studiert hatte, dieses verfluchte Lied verstehen konnte.

Boaz kam zum Ende und sah uns fragend an.

Wir alle schüttelten den Kopf.

»Es ist unmöglich«, sagte ich, und Boaz knurrte ärgerlich.

»Es ist doch ganz einfach! Begreift denn keiner von euch die…«

»Nein, Boaz, keiner von uns«, sagte Isphet äußerst würdevoll. Dann lächelte sie und schaute uns an. »Kein Wunder, daß Avaldamon für dich die Ausbildung eines Magier wollte. Es gab keine andere Möglichkeit, einem Elementenmeister das Lied der Frösche beizubringen, und wenn das Lied ein entscheidender Bestandteil zur Vernichtung von Nzame ist, wie die Soulenai angedeutet haben, dann…«

»Boaz«, fragte ich schließlich leise. »Hast du eine Ahnung, wie man das Lied der Frösche dazu benutzen kann, Nzame zu vernichten?«

Er zögerte, und dieses Zögern verriet, daß seine Antwort eine Lüge war. »Nein. Nein, ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

Zwei Abende später wurden er und ich miteinander vermählt, zusammen mit Isphet und Zabrze.

Eldonor hatte schon seit Wochen eine Zeremonie vorbereitet.

Und wir freuten uns, daß gerade er uns miteinander verband.

Alle Bewohner der Kluft nahmen daran teil. Platz gab es genug, denn wir wurden am Flußufer getraut, während sich die Menschen auf den Baikonen der Felsenstufen versammelten und die Frösche in den Pfützen zu unseren Füßen planschten und hüpften.

Unter den Zuschauern waren auch die Fünftausend, die Isphet über die unfruchtbare Lagamaal gefolgt waren, die ihr vertraut hatten, ihnen zu einem besseren Leben als dem zu verhelfen, das sie bis dahin gehabt hatten. Ich hatte mir Sorgen gemacht, wie sie sich in die Kluft einfügen würden, aber es war mühelos vonstatten gegangen. Die meisten waren geschickte Handwerker oder willige Arbeiter, wiederum andere erfahrene Soldaten, und keine Gemeinschaft stört es, einen solchen Zuwachs zu bekommen. Für alle war genug zu essen da, denn der Fluß war freigebig und die Kornfelder über uns groß, und es gab genügend Platz, um die zusätzlichen Menschen unterzubringen.

Und vielleicht das wichtigste war, daß die meisten der Fünftausend, wenn nicht sogar alle, wieder mit Leichtigkeit zu den alten Lebensformen zurückgefunden hatten. In Ashdod hatte es nur eine offizielle und erlaubte Religion gegeben, die der Eins, und keiner aus Gesholme, der engere Bekanntschaft mit der Pyramide gemacht hatte, konnte es erwarten, sie abzuschütteln.

Es gab viele Hochzeiten unter den Fünftausend, aber Eldonor und die Bewohner der Kluft hatten sich gewünscht, die von Zabrze und Isphet und Boaz und mir etwas festlicher zu begehen als die der anderen.

Lampenlicht funkelte von den Baikonen, Duftkerzen trieben im Fluß und ließen Boaz und mich ein wissendes Lächeln austauschen. Es war sehr bedauerlich, daß der Fluß nicht ganz so abgeschieden wie einst das überdachte Schwimmbad war.

Yaqob stand stumm in unserer Nähe. Ich hatte angenommen, er würde vielleicht nicht kommen, denn sicherlich mußte der Anlaß des Festes schmerzlich für ihn sein. Aber er tat es doch, und Boaz und ich dankten ihm in Gedanken dafür.

Unsere Ehe wurde zwar von Eldonor geschlossen, doch die anderen Weisen hatten an solchen Zeremonien keinen Anteil, auch wenn sie als Zeugen gekommen waren.

Traditionellerweise war es der Vater, der die Heiratszeremonie vollzog, und Eldonor war der einzige Vater, der uns vieren zur Verfügung stand. Er sprach die Gelübde vor, die wir wiederholten, und er nahm unsere Hände und führte sie zusammen, und wir wurden vermählt, so wie es dem Brauch entsprach.

Dann gab es Musik und Gesang, ein Geschenk der Kluftbewohner an uns, und ein lautes gratulierendes Quaken von Fetizza. Als ich zusah, wie Boaz sie betrachtete, fragte ich mich, warum mich wieder dieses Gefühl von Verlassenheit überfiel.

An wen würde ich Boaz verlieren? An Nzame? Oder an die Zuflucht im Jenseits?

Wir hatten es gerade geschafft, unsere Ehe zu vollziehen, hatten kaum nach Luft geschnappt, als Zabrze – wieder einmal! – in unser Quartier stürmte.

»Steinmänner«, stieß er hervor. »Sie nähern sich den Bergen der Kluft.«

Und dann war er wieder verschwunden.