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Der große Tag war voller Feierlichkeit und Erhabenheit, und ich hatte das Gefühl, daß von uns allen das Bauwerk es am meisten genoß.

Der Schlußstein war massiv – fünfzehn Quadratschritt an der Basis, stieg er pyramidenförmig etwa fünfzehn in der Höhe, genau wie die Kammer zur Unendlichkeit. Der Schlußstein, eigentlich eine Spitze, war genau wie die Kammer mit goldenen Glasnetzen ausgekleidet, mit den gleichen Aufschriften und Formeln versehen.

Er war der äußerliche Ausdruck der inneren Kammer.

Ich wandte den Kopf ab, als wir an ihm vorbeikamen. Ich wollte nicht ein einziges Wort lesen müssen.

Die meisten Leute auf der Baustelle waren erschienen, um die Fertigstellung der Pyramide mitzuerleben. Zwei Mauern, die die Pyramide umgeben hatten, waren eingerissen worden; jetzt trennte sie nichts mehr von dem Land im Norden und dem Fluß im Osten. Die Siedlungen der Sklaven und der Magier waren die einzigen, die noch von Mauern umgeben waren.

Nördlich der Pyramide stand der größte Teil des Heeres, das Chad Nezzar mitgebracht hatte; andere Einheiten hatten entlang der Straße zum Kai Aufstellung genommen, während wiederum noch andere die üblichen Verbände verstärkten, die die Sklaven im Auge hatten.

Die Sklaven befanden sich im Nordosten, saßen mit untergeschlagenen Beinen in einem stummen Haufen auf dem Boden, zusammengedrängt, Schulter an Schulter. Sie waren von den Wachen, den Mauern und der Pyramide selbst umgeben.

Magier, Adlige und die anderen Gäste, mich eingeschlossen – standen ordentlich im Vorhof der Pyramide in Reih und Glied.

Wieder wurde ich unauffällig in den Hintergrund verbannt, diesmal stand ich an der Mauer der Magiersiedlung. Genau auf der anderen Seite befand sich Boaz’ Residenz.

Mir schoß der verrückte Gedanke durch den Kopf, daß ich einfach darüberklettern und mich in den Tiefen des Hauses verbergen konnte, wenn die Dinge zu schlimm wurden.

Vielleicht am Fuß des Schwimmbeckens. Dort würde mich die Pyramide niemals sehen können. Oder doch?

Kiamet und Holdat standen neben mir; Kiamet für alle sichtbar als Aufpasser, aber er hatte sich so mit Holdat und mir angefreundet, daß ich glaube, hätten wir einen Fluchtversuch unternommen, er uns den Weg freigegeben hätte.

Aber es würde keine Flucht geben. Die Mauer war zu hoch und glatt, um darüberklettern zu können, und vor uns und an den Seiten standen zu viele Menschen dicht aneinander gedrängt.

Dreizehn.

Ich fragte mich, wer es sein würde.

Ich konnte nicht viel von dem sehen, was vorn geschah, da mir Hunderte von Magiern und Adligen die Sicht versperrten.

Ich wußte, daß Boaz als Herr der Baustelle den Ritus durchführen würde, und dann würde Chad Nezzar als Herrscher eine höfliche Ansprache halten. Danach wiederum würden sich alle setzen und zusehen, wie mehrere hundert Sklaven schwitzen und sich bemühen würden, den Schlußstein in die Höhe zu befördern. Es würden beifällige Rufe ertönen, dann würde man die Sklaven zurück in ihre Behausungen treiben, wo sie über ihr Schicksal nachdenken konnten. Das Heer würde ein paar spektakuläre Schaustücke darbieten und glänzende Paraden abhalten, und die Adligen und Magier würden sich zu einem Schlußsteinfest in ihre Siedlung zurückziehen. So war es geplant.

Nur daß die Ereignisse nicht nach Plan verliefen.

Ich hörte Boaz’ Stimme, durch die Entfernung verzerrt, aber von der Macht der Eins durchdrungen. Er hielt eine leidenschaftliche, nicht übermäßig lange Rede über die Pracht und Herrlichkeit der Pyramide.

Ich fragte mich, was Zabrze wohl dachte, und ob Neuf an seiner Seite war oder ob er sie hatte überreden können, nach Setkoth zurückzusegeln.

Ich hörte Chad Nezzar zur Erwiderung eine launige Rede halten.

Sowohl Boaz als auch Chad Nezzar sprachen über die Macht, die die Pyramide ganz Ashdod verleihen würde. Während sie sprachen, konnte ich auf den Rücken der Magier und Adligen vor mir förmlich die Gänsehaut der Erwartung und Gier sehen.

Vielleicht waren sich viele nicht über die genaue Art der Macht sicher, die über sie kommen würde, aber Macht war Macht, und sie alle wollten eine ordentliche Handvoll davon abhaben.

Als Chad Nezzar geendet hatte, begaben sich die Sklaven an die Arbeit.

Der Schlußstein war zwar zerbrechlich, aber insgesamt sehr schwer – seine innere Struktur bestand aus Metallstreben und dicken, durchsichtigen Glasplatten. Ingenieure hatten eine lange Rampe errichtet, die die Südseite der Pyramide hinaufführte, und auf dieser sollte der Schlußstein in die Höhe gezogen werden. Die Sklaven standen hauptsächlich an den langen Tauen, die den Schlußstein in Bewegung setzen sollten; als sie die Taue schulterten und die Straße entlangmarschierten, stieg das goldene Glas langsam in die Höhe.

Ich hörte die Rufe des Vorarbeiters, der die Sklaven antrieb, dann ertönten Hörner, Trommeln und Zimbeln; der Schlußstein sollte mit Musik aufgesetzt werden.

Nicht nur Musik. Als ich die Spitze des Schlußsteins über den Köpfen der Menge schweben sah, stimmten die Hunderte von Magiern ein Lied an – einen langsamen, durchdringenden Gesang, der dem Rhythmus der Musik folgte.

Und so stieg der Schlußstein in die Höhe, schob sich langsam die Rampe zur Spitze der Pyramide hinauf, auf den Weg geschickt von Schweiß und harter Arbeit und einem langsamen, trostlosen Gesang. Der Schlußstein funkelte in der Sonne, die Spiegelungen waren schon fast schmerzhaft grell, aber ich mußte einfach hinsehen.

Eine Stunde verging, vielleicht zwei. Der Gesang dauerte an.

Schließlich zwang ich meinen Blick zur Spitze der Pyramide, versuchte, den Zauber zu brechen, der mich umfangen hielt.

Eine Gruppe Sklaven wartete dort oben, um den Schlußstein an Ort und Stelle zu schieben und ihn einzumauern.

»Ach«, seufzte ich unwillkürlich, und Kiamet ergriff meinen Arm.

»Tirzah? Was ist?«

»Nichts, Kiamet. Alles in Ordnung.«

Mein Tonfall sagte ihm, daß das nicht stimmte, aber er ließ mich wieder los und wandte sich wieder der Pyramide zu.

Der Schlußstein befand sich jetzt fast auf der Spitze, und die dreizehn Männer bereiteten sich darauf vor, ihn einzusetzen.

War Boaz das klar? Hatte er mit voller Absicht dreizehn Mann ausgewählt, die oben auf der Pyramide standen?

Der Gesang verstummte, und ein lauter Ruf stieg von den Magiern auf. »Hoi!«

Und dann noch einmal. »Hoi!«

Die Dreizehn hatten den Schlußstein ergriffen und brachten ihn vorsichtig in die richtige Position.

»Hoi!«

In einer Minute würde er an Ort und Stelle gleiten.

Dann schrie einer der Sklaven auf. Ich konnte ihn nicht hören, nicht über den Lärm der Magier hinweg, aber ich sah ihn wild gestikulieren.

Ich war zu weit entfernt, um es sehen zu können, aber ich bin überzeugt, daß dem Sklaven das Entsetzen im Gesicht geschrieben stand.

Er rutschte aus und stürzte, dann rutschte der Sklave neben ihm aus und dann der Sklave daneben… die letzten drei oder vier versuchten noch ihrem Schicksal zu entkommen, aber es war zu spät. Die Pyramide würde keinen von ihnen gehen lassen.

Unerbittlich zog die Pyramide jeden von ihnen unter den sich noch immer bewegenden Schlußstein. Es war ein widerwärtiger, furchtbarer Anblick, der selbst die Magier zum Verstummen brachte.

Das entsetzliche Knirschen, mit dem der Schlußstein in sein Fundament einrastete, war deutlich zu hören.

Die Pyramide hatte ihre Spitze mit den Körpern und dem Blut der Dreizehn endgültig verankert.

Damit nahm der Schrecken seinen Anfang.

Blut quoll unter dem Schlußstein hervor und lief die vier Seiten herunter. Dann schossen hohe Fontänen von dort hoch, viel mehr Blut, als die dreizehn Körper enthalten konnten. Es rann unaufhaltsam über das blaugrüne Glas, bis die Pyramide damit bedeckt war.

Eine Pyramide aus Blut.

Ich wandte mich ab und würgte, und Kiamet zog mich an sich, so daß ich nichts mehr von alledem sah.

Aber ich konnte es trotzdem riechen – den warmen Geruch von Eisen, von frischem, geopfertem Blut.

Schließlich schaffte ich es, mich zurück in Boaz’ Haus zu flüchten. Ich glaube, ich sollte bei dem Fest aufwarten, aber das konnte ich nicht. Nicht, nach dem, was ich gerade gesehen hatte.

Vermutlich nahm das Bankett seinen Lauf, weil die Magier beinahe außer sich waren über die Beweise der Macht, die ihnen die Pyramide lieferte. Jetzt trank sie nicht nur, sondern erzeugte sogar selbst Blut!

Ich dachte an die unzähligen verglasten Schächte und Gänge in der Pyramide und fragte mich, ob in ihnen jetzt wohl Blut floß.

Ich hörte Stimmen und setzte mich in meinem Bett auf.

Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen; irgendwie hatte ich es geschafft, den größten Teil des Nachmittags und des Abends reglos dazuliegen.

Die Stimmen gehörten Boaz und Zabrze.

»Sei verflucht, Bruder!« hörte ich Zabrze schreien. »Ist dein Herz aus Stein? Ist dein Verstand verwirrt? Was war das denn heute, wenn nicht das Böse?«

»Dir fehlt das Wissen«, erwiderte Boaz. »Und darum kannst du es nicht verstehen. Die Macht der Eins erwacht. Die Unsterblichkeit wartet auf uns. Sei froh.«

Sie hatten mittlerweile den Lichtschein der Veranda erreicht, und ich konnte sehen, daß Boaz so ruhig war wie Zabrze wütend.

»Boaz…«

»Nichts wird mich jetzt noch von der Pyramide abbringen, Bruder! Gar nichts!«

Er ging steifbeinig ins Haus.

Zabrze starrte ihm hinterher, dann sah er mich mit flehendem Blick an. Er wandte sich ab und verschwand in der Nacht.

Ich war langsam aufgestanden. »Boaz?«

»Fang du jetzt nicht auch noch an, Tirzah!«

»Boaz, vielleicht hat Zabrze recht…«

»Tirzah!«

»Was ist das für ein Bauwerk, das Blut weint?« schrie ich.

»Das ist kein Haus, das ist…«

»Es ist die Pyramide, verdammt!«

»Sie ist eine Monstrosität«, sagte ich leise. »Mir ist egal, wie du sie nennst und mir ist egal, welche Macht sie dir deiner Meinung nach verleihen wird. Da stimmt etwas nicht!«

»Mir reicht es«, knurrte Boaz und packte mein Handgelenk.

Aufhören! Aufhören, rief der Froschkelch aus der Kommode.

Aufhören!

»Nein«, flüsterte Boaz. »Nein, das will ich ganz und gar nicht.« Er zerrte mich aus dem Haus.

Kiamet machte eine Bewegung, als wolle er mitkommen, aber Boaz fauchte ihn bloß an, und Kiamet stolperte zurück auf die Veranda.

»Boaz, wo…«

»Zur Pyramide«, sagte er, und sein Griff um mein Handgelenk verstärkte sich, bis ich glaubte, er würde mir die Knochen brechen.

»Boaz! Du tust mir weh!«

Sein Griff lockerte sich, blieb aber fest, und ich konnte mich nicht befreien.

Er zerrte mich durch die ganze Siedlung – in einigen Vierteln wurde noch immer gefeiert, aber der Lärm war gedämpft –, dann durch die Straßen Gesholmes zu der Allee, die an der Pyramide endete.

»Boaz! Nein!«

»Doch, du dumme Närrin!« sagte er. »Sieh!«

Zögernd öffnete ich die Augen. Der Vollmond tauchte die Pyramide in sein Licht. Offensichtlich segnet die Natur die Pyramide, dachte ich wie betäubt, wenn der Vollmond so hell strahlte vor der Hitze des Einweihungstages!

Es war wunderschön. Das konnte ich nicht leugnen, aber es war eine grausame Schönheit. Das Blut war verschwunden – vielleicht aufgesogen –, und im Mondlicht leuchtete das blaugrüne Glas wie ein spiegelglattes Meer. Ein ruhiges Meer, aber eines mit tödlichen Tiefen. Der Schlußstein glitzerte, und ich hatte eine Vorahnung, wie er aussehen würde, wenn ihn die geballte Macht der Sonne traf.

Unter dem Glas flackerte blutrotes Licht.

Die Pyramide erwachte.

»Nur noch zwölf Stunden«, sagte Boaz, »und sie wird endlich erweckt sein.«

»Und du bist sicher, daß du das willst?« fragte ich.

Er überhörte die Frage. »Komm, ich zeige dir die ganze Pracht der Pyramide.«

Er zog mich weiter auf die Pyramide zu.

An ihrem Fundament trat ein Offizier vor. Seine Abzeichen verrieten mir, daß er zu Zabrzes Kommando gehörte.

»Exzellenz wünschen?« fragte er und verneigte sich tief.

»Paß auf. Sei wachsam. Laß niemanden in die Nähe, der kein Magier ist. Niemanden!«

»Wie Ihr befehlt, Exzellenz!«

Ich war jetzt fast starr vor Angst, meine Beine waren steif, aber Boaz zerrte mich weiter auf die Pyramide zu. Ich war fest davon überzeugt, er würde mich die Rampe hinaufführen, aber dann bog er ab und führte mich zu der Kante, an der die südliche und östliche Seite aufeinandertrafen.

»Da hinauf«, sagte er, »und wenn du nicht selbst gehst, dann werde ich dich verdammt noch mal tragen.«

Seine Stimme war kalt, abweisend, und Verzweiflung stieg in mir auf. Das war nicht mehr Boaz. Das war der Magier, der die Herrschaft übernommen hatte. Die Pyramide hatte gewonnen.

Kleine Stufen waren in die Kante hineingeschlagen.

»Nein«, flüsterte ich. Nicht der Schlußstein. Nein.

Boaz zerrte mich die ersten zwanzig Stufen hinauf, dann ging ich allein weiter, da ich Angst hatte, er könnte mich plötzlich loslassen und ich das Gleichgewicht verlieren. Der Aufstieg war steil und die Pyramide hoch, und nach fünfzig Stufen keuchte ich aus Anstrengung und Furcht.

Wir brauchten fast eine halbe Stunde, um die Spitze zu erreichen, und da war der Mond schon etwas gesunken und tauchte die Hälfte der Pyramide in einen tiefen Schatten. Dort flackerten die blutroten Blitze unter ihrer gläsernen Haut noch heftiger als auf den Seiten, die dem Mondlicht ausgesetzt waren.

Um den Schlußstein herum verlief ein schmaler Sims, der vielleicht einen Schritt breit war. Boaz ließ mich los, und ich stützte mich sofort auf den Schlußstein, schob die Finger in die Spalten der Glasnetze und betete, daß er fest mit der Innenwand verbunden sei.

Das Glas schrie mir entgegen, flehte mich an, es zu retten und es zu töten, wenn ich es nicht retten konnte.

Zerschlage uns!

Aber mir fehlte der Mut, und ich hätte auch nicht gewußt wie, und ich verschloß Augen und Gehör so gut es ging vor der Verzweiflung des Glases. Ich wollte loslassen, aber ich konnte nicht, denn dann würde ich mit Sicherheit abstürzen, davon war ich überzeugt.

Boaz ging ein Stück weiter auf dem Sims, mühelos und zuversichtlich. Um mich von dem Glas abzulenken, machte ich den Fehler, mich umzusehen. Sofort stieg Übelkeit in mir auf.

Ich wandte schnell den Blick ab… und sah doch die Überreste eines zermalmten Fußes an der Verbindung zwischen Schlußstein und Pyramide.

Ich stieß einen Laut der Verzweiflung aus und fragte mich, was ich tun konnte, um zu entkommen, und schaute wieder zu Boaz hinüber. Vielleicht wenn ich ihn anflehte…

Aber Boaz war nicht ansprechbar. Er stand an der nordwestlichen Ecke der Pyramide, den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme ausgestreckt; das Gewand flatterte in der Nachtbrise.

Ich trug nur Sandalen mit dünnen Sohlen an den Füßen, und durch sie hindurch glaubte ich einen Pulsschlag zu spüren, dann noch einen, und dann wußte ich, daß ich es mir nicht nur einbildete.

»Boaz!« Es kam nur als Wimmern heraus, aber er hatte es gehört und drehte sich um.

»Fühlst du es?« fragte er. »Fühlst du es?«

»Ja. Ja, ich fühle es. Bitte, können wir jetzt wieder nach unten steigen? Bitte?«

Der Pulsschlag wurde stärker.

»Bald«, flüsterte er und schaute in den Himmel hinauf. »Jetzt dauert es nicht mehr lange. Nur Geduld.«

Dann zeigte er plötzlich auf die Seite der Pyramide, die im Mondschatten lag, und über den Schatten hinaus.

»Tirzah? Sieh!«

Ich folgte der Richtung seines Fingers… und mein Herz blieb stehen und fing dann an zu rasen.

Der Schatten der Pyramide erstreckte sich beinahe eine halbe Meile über die Ebene. Ein rechteckiger Schatten.

Rechteckig.

Ich dachte, mir würde schlecht werden.

Boaz kam zu mir zurück und packte meinen Arm. »Und jetzt hinunter.«

Ich sackte vor Erleichterung zusammen und wäre vielleicht gefallen, hätte er mich nicht gehalten, aber ich hatte mich zu früh gefreut.

Boaz zerrte mich die Stufen hinunter, und ich werde nie begreifen, daß wir uns bei diesem wilden Abstieg nicht zu Tode stürzten, aber dann zog er mich zur Rampe.

Nein! »Boaz!«

»Ich will, daß du es ein für alle Male verstehst«, sagte er.

»Ein für alle Male.«

Ich ließ mich von ihm ziehen, als wir uns dem oberen Ende der Rampe näherten, in der Hoffnung, daß das Boaz vielleicht bremsen oder ihn vielleicht sogar aufhalten würde. Aber er fluchte bloß, bückte sich und hob mich auf seine Arme.

Jetzt war ich ihm noch mehr ausgeliefert als zuvor.

Die Pyramide flackerte, als wir in ihren Rachen traten.

Ich wollte die Augen schließen, konnte es aber nicht. Ich ging in den Tod, davon war ich fest überzeugt.

Die inneren Glaswände der Pyramide bestanden jetzt alle aus der schwarzen, glänzenden Substanz. Darunter züngelten dünne, verästelte rote Lichtblitze. Ich erinnerte mich daran, wie das Glas bei dem Prozeß, der es schwarz verfärbte, mit dem Stein verschmolzen war, und mir wurde klar, daß das rote Licht auch durch den Stein flackerte.

Vielleicht hatte sich der Stein in Fleisch verwandelt?

Boaz stieg ohne zu zögern den Hauptgang hinauf. Das Licht war geisterhaft. Mondlicht wurde durch die Schächte hinuntergespiegelt und floß in den Gang, aber seine Leuchtkraft war auf dem Weg dorthin verdorben und war nun dickflüssig und hatte einen rötlichen Schein.

Die Luft roch nach warmen Eisen.

»Gleich ist es so weit«, flüsterte Boaz.

Ich sah in sein Gesicht. Es war das Gesicht eines Mannes, den ich nicht kannte, und den ich fürchtete und haßte. Ich begriff, daß die Pyramide alle verändern würde, die sie in ihren Bann schlug. Gefügig, willenlos machte.

Ich schloß kurz die Augen, in der Hoffnung, mich sammeln zu können, aber ich hatte zu große Angst.

Der Weg wurde waagerecht, und Boaz stellte mich auf die Füße.

»Bist du bereit?« fragte er. »Bereit für die Herrlichkeiten der Pyramide?«

»Nein, bitte… Boaz… nicht… bitte…«

Er ergriff meine Hand und zerrte mich in die Kammer zur Unendlichkeit.

Das erste Gefühl, das ich hatte, war Erleichterung. Hier war das Licht in einem weichen Goldton, Mondlicht, das durch den goldenen Schlußstein gefiltert durch den Hauptschacht hereinströmte und dann durch das goldene Glas der Kammer trieb. Kein Blut. Kein Eisengeruch.

Dann hörte ich die hilflosen Schreie des Glases.

So schlimm war es noch nie gewesen. Niemals. Das waren die Schreie gefangener Tiere in Todesangst; sie flehten um Erlösung; sie baten mich, ihnen zu helfen, schrien vor Angst…

Und ich litt mit ihnen und weinte mit ihnen tief in meinem Herzen.

Und ich fühlte die Qualen des Glases durch meinen Körper rasen.

Ihr Götter, was geschah hier?

»Wunderschön«, murmelte Boaz und hob die Hände.

Ich wußte, was er als Nächstes tun würde, denn ich hatte ihn schon einmal dabei beobachtet. Er würde die Tore aller Schächte öffnen und die Kammer zur Unendlichkeit mit Licht fluten.

Es würde nur Mondlicht sein, aber das würde schlimm genug sein.

Das Entsetzen des Glases, das in mir tobte, löste beinahe einen Krampfanfall bei mir aus.

Er lächelte, holte tief Luft und legte die Hände auf das Glas.

Und hörte – fühlte – endlich auch seine Rufe.

Ich hatte leise aufgeschrien, als er das Glas berührte, und als er mit einem Ausdruck ungläubigen Entsetzens auf seinem Gesicht die Hände wegriß, dachte ich, es wäre meinetwegen.

Aber dann erkannte ich, daß es nicht so war.

Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, seine Augen waren weit aufgerissen, voller Angst. Irgendwie schaffte ich es, seine Hände zu packen und sie wieder zurück auf das Glas zu legen.

»Fühle es, Boaz! So fühle es doch!«

Und er fühlte es tatsächlich. Er wollte sich losreißen, und ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, aber ich schaffte es, seine Hände weiterhin an das Glas zu drücken.

Rette uns!

Das Glas flehte… und es flehte Boaz an. Boaz!

Rette uns! Oh, so rette uns doch!

»Nein«, stöhnte er.

Es kommt! Rette uns!

Schließlich gelang es ihm, seine Hände unter den meinen wegzureißen. »Nein!«

»Boaz, bitte«, flüsterte ich. »Wir müssen hier raus. Bitte.

Bitte!«

»Tirzah?«

»Boaz, komm jetzt. Komm.« Ich versuchte, meine Stimme sanft klingen zu lassen. »Bitte, komm.«

Ich nahm eine seiner Hände zwischen die meinen. »Komm jetzt.«

Er war von dem Entsetzen, mit dem das Glas ihn überflutet hatte, so getroffen, daß er mir ohne Widerstand folgte.

»Komm schon.«

Wir mußten hier raus. Sicherlich hatte die Pyramide bemerkt, daß etwas geschehen war. Oder konzentrierte sie sich so auf ihre wachsende Macht, daß sie uns überhaupt nicht wahrgenommen hatte?

Ich führte Boaz, so schnell ich konnte, durch den Gang zurück. Aber das war nicht schnell genug. Ich wollte rennen, aber er stolperte und wehrte sich jetzt, so wie ich zuvor gestolpert war und mich gewehrt hatte.

»Los doch. Schnell!«

Vor uns ragte das Maul der Pyramide auf. Ich rechnete fest damit, daß es zuschnappen würde, bevor wir entkommen konnten, aber schließlich taumelten wir hinaus.

»Exzellenz?« sagte der Offizier, besorgt wegen Boaz’ Gesicht.

»Der Aufstieg«, sagte ich. »Und dann, ganz im Vertrauen, er konnte der Gelegenheit nicht widerstehen, sich mit der Eins zu vereinen. Darum ist er jetzt atemlos.«

Der Offizier zwinkerte und ließ uns gehen.