2
Ich führte Boaz zurück zur Siedlung der Magier. Jetzt war überall Ruhe eingekehrt. Alle lagen schon in ihren Betten, um am Einweihungstag ausgeruht zu sein.
»Laß niemanden herein«, sagte ich zu Kiamet, und er nickte.
Ich fragte mich, wann er eigentlich schlief, aber jetzt war nicht der richtige Moment, darüber zu reden.
Ich führte Boaz zu seinem Bett, und half ihm, sich zu setzen.
Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick glasig.
»Du hast das Glas gehört«, sagte ich.
Er schaute auf. »Was?«
»Du hast das Glas schreien gehört. Es will, daß du es rettest.«
»Nein.«
»Doch! Es hat zu dir gesprochen!«
»Nein!« Mit wildem Blick sprang er auf. »Was du da sagst ist…«
»Die Wahrheit, Boaz. Was ich sage, ist die Wahrheit.«
»Nein. Ich habe nichts gehört. Ich…«
»Shetzah!« Ich warf die Hände in die Luft. »Wie lange willst du noch abstreiten, daß du ein Elementist bist?«
Das Wort ließ ihn zusammenzucken.
»Sage es, Boaz. Wir sind hier wirklich sicher. Die Pyramide kann uns weder sehen noch hören.« Meine Stimme war jetzt viel weicher geworden. »Warum sonst hättest du eine Residenz ausgesucht, die so sehr vor dem Auge der Pyramide geschützt ist? Warum sonst hättest du deine Elementenneigungen verborgen?«
»Nein! Ich bin ein Magier… ein…«
»Du bist ein Elementenmeister, Boaz, sieh das doch ein! Und ich bin eine Elementistin. Streite nicht ab, daß du das weißt.«
»Nein, Tirzah. Hör auf. Du sprichst dein eigenes Todesurteil.
Ich werde dich töten müssen…«
Ich lachte. »Dann tu es. Töte mich.«
Er fluchte und wandte sich ab. »Ich glaube dir nicht. Ich kann nicht einer dieser… Elementenmeister sein.«
Ein leises Geräusch kam von der Veranda, aber ich verließ mich darauf, daß Kiamet auf seinem Posten war.
»Ach ja? Das sagt ausgerechnet der Mann, der die Locken von Toten verwahrt? Das sagt der Mann, der Stein in Haar zurückverwandelt hat? Das sagt der Mann, der das Buch der Soulenai wie einen Schatz hütet?«
»Nein! Ich will davon nichts mehr hören.« Boaz wich vor mir zurück.
»Und doch sagt sie die Wahrheit, Bruder.«
Zabrze! Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. Vielleicht würde Boaz ihm glauben.
Aber er war am Ende mit seiner Geduld. »Raus! Ich will, daß ihr beide verschwindet!«
»Nein«, sagte Zabrze leise. »Mir reicht es jetzt, und ich weiß, daß es Tirzah genauso geht. Der Augenblick ist gekommen, an dem du zugeben mußt, wer du wirklich bist, Boaz.«
»Kiamet!« brüllte dieser.
»Er wird nicht kommen, Boaz«, sagte Zabrze. »Kiamet ist einer meiner Männer.«
Das verblüffte mich ebenso wie Boaz. Kiamet?
»Hat Kiamet mich die ganzen Monate bespitzelt?« wollte Boaz wissen.
»Er hat auf dich aufgepaßt. Aber bespitzelt? Nein. Kiamet ist mir treu ergeben, aber er hat nicht über dein Leben hier in dieser Residenz berichtet.« Zabrze sah mich an. »Auch wenn ich wünschte, ich hätte ihn darum gebeten. Es hätte mir einige Überraschungen bei meiner Ankunft erspart.«
»Wir sind in der Kammer zur Unendlichkeit gewesen, Hoher Herr«, sagte ich. »Das Glas in der Kammer ist außer sich vor Verzweiflung. Es ist…« Ich erschauderte. »Boaz hat seine Hände auf das Glas gelegt und es gehört. Es hat ihn angefleht, es zu retten. Hoher Herr, nur einem Elementisten ist das möglich.«
»Boaz«, sagte Zabrze. »Du bist ein Elementist. So glaube uns doch!«
Boaz wollte es erneut abstreiten, und ich wandte mich angewidert ab.
Boaz, Boaz.
Ich fuhr herum. Es war der Froschkelch. Ich sah die Brüder nacheinander an. Boaz hatte die Rufe offensichtlich gehört, denn sein Blick war nun wie gebannt auf das Glas gerichtet, während Zabrze weiterhin seinen Bruder gereizt anstarrte.
Das beantwortete eine Frage. Ich hatte gedacht, auch Zabrze könnte ein Elementist sein, aber dieser Ruf war so laut gewesen, daß ihn selbst der schwächste unter den Elementisten gehört hätte.
Boaz.
Es waren nicht viele Stimmen. Nur eine.
»Nein!« rief Boaz zornig und sprang auf das Glas zu.
Es leuchtete auf. Glühendes Licht erfüllte den Raum, und mir stockte der Atem.
»Was bedeutet das?« murmelte Zabrze.
»Der Kelch ist Soulenaimagie«, sagte ich, blinzelte, um wieder scharf sehen zu können, und hielt verzweifelt nach Boaz Ausschau. Was tat er? »Sie rufen Boaz.«
Ein leises Klirren ertönte, und ich glaubte, Boaz hätte das Glas zerschlagen.
»Nein!« Das war nicht ich, sondern Boaz.
Er hockte vor der Truhe und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Mann stand vor ihm, streckte ihm seine Hand entgegen.
Boaz.
Kein Mann, sondern ein Geist, aus Nebel gewebt.
»Bei den Göttern!« rief Zabrze. »Avaldamon!«
Boaz hob ungläubig den Kopf.
Boaz. Die Geisterhand trieb näher heran, und Boaz griff zitternd danach.
Boaz. Hör auf die Frösche. Lerne ihr Lied. Folge dem Weg, den sie dir weisen, denn er allein wird deine Rettung sein.
Denn ich sage dir, Boaz, zerstöre die Pyramide.
Und dann war er verschwunden.
Ich rieb mir die Augen, fragte mich, ob er überhaupt da gewesen war. So etwas hatte ich noch nie gehört – über welche Macht gebot Avaldamon, daß er aus dem Jenseits zu uns kommen konnte!
»Avaldamon!« flüsterte Zabrze, und dann ging er zu seinem Bruder, kniete nieder und umarmte ihn.
Ich glaube, es war Zabrzes Umarmung, die Boaz’ Widerstand endgültig zerbrach – mehr noch als die flüchtige Erscheinung Avaldamons. Er fing laut an zu schluchzen, und Zabrze tröstete ihn.
Schließlich blinzelte Boaz, als würde er aus einem Traum erwachen. »Tirzah, wo bist du?«
»Hier bin ich.« Ich eilte zu ihm, ergriff seine Hand und sagte: »Hör mir jetzt zu! Die Soulenai sagen, du bist der einzige, der die Pyramide zerstören kann.«
»Oh nein, Tirzah. Ich kann nicht…«
»Du bist durch die Schule der Magier gegangen«, sagte ich und wiederholte, was die Soulenai mir erklärt hatten. »Du verstehst die Macht der Eins. Du verstehst die Pyramide. Und du gebietest über diese große« – ich küßte seine Wange – »wunderbare« – ich küßte seine Stirn – »Macht der Elemente.
Und was auch immer die Pyramide bedeutet, du kannst ihrer Macht entgegenwirken. Du bist der Schlüssel zur Zerstörung der Pyramide.«
Boaz sank in sich zusammen. »Mein Vater…«
»Avaldamon war ein Elementenmeister«, sagte Zabrze. »Das hat er mir erzählt. Ich kenne den Grund dafür nicht, denn solch ein Geständnis war mehr als gefährlich in einer Welt, die die Magier beherrschten. Vielleicht ahnte er da schon seinen nahen Tod und mußte es deshalb jemandem erzählen.«
Boaz hob sein tränennasses Gesicht Zabrze entgegen. »Und du hast ihm geglaubt?«
»Avaldamon war freundlich und verständnisvoll an einem Hof, an dem sich nur wenige so verhielten. Ich vertraute ihm.
Und ich bewundere ihn mehr als jeden Mann, den ich seither kennen gelernt habe. Seine Macht war erstaunlich – ich habe sie ein paar Mal miterlebt –, und doch war sein Mitgefühl überwältigend.« Zabrzes Mund verzog sich zynisch. »Er war ein großer Gegensatz zu den Magiern bei Hof.«
»Und zu dem, was aus mir wurde«, sagte Boaz sehr leise.
»Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Ich war so lange fort, als du jung warst. Bei meiner Rückkehr fand ich heraus, daß die Magier dich völlig vereinnahmt hatten. Ich… zögerte… zu verkünden, daß du der Sohn eines Elementenmeister bist.«
Selbst Boaz hatte dafür ein mattes Grinsen übrig.
»Kommt«, sagte ich und half beiden Männern auf die Beine.
»Wollen wir uns an einem bequemeren Ort hinsetzen. Ihr seid beide zu alt, um so würdelos auf dem Boden zu hocken.«
Es war ein schwacher Versuch, witzig zu sein, aber Boaz und Zabrze schienen dankbar dafür zu sein. Sie setzten sich an den Tisch, und ich nahm den Kasten mit dem Buch und den Kelch und stellte beides vor Boaz hin.
»Du hast es immer gewußt, Boaz«, sagte ich. »Gib es zu.«
Es war eine Erleichterung für ihn, es sich endlich eingestehen zu können.
»Ja, auch wenn ich lange nicht begriffen habe, was es bedeutete.« Seine Stimme war sehr ruhig, er hielt den Blick auf den Kasten gerichtet. »Ich fühlte mich so verlassen, als meine Mutter starb. Es gab niemanden, an den ich mich wenden konnte…«
Ich sah Zabrze an. Seine Miene war gequält, und ich berührte sacht seine Hand.
»… und eines Tages kam ein Magier und unterhielt sich mit mir. Er sagte, die Macht der Eins sei eine wundervolle Sache, und wenn ich mich ihr öffnen würde, dann würde ich niemals mehr allein sein. Es klang so… fürsorglich. Ich stürzte mich mit Leib und Seele« – seine Lippen verzogen sich bei dem unfreiwilligen Witz – »auf das Studium der Eins. Es schien das zu sein, wonach ich mich immer gesehnt hatte. Geborgenheit.
Gesellschaft – die Gesellschaft und Gemeinschaft der Magier wie auch der Eins. Macht. Das reizte mich.«
»Vielleicht hast du dich auch nur danach gesehnt, deine eigene Macht kennenzulernen«, sagte ich, »und hast deine Sehnsucht falsch verstanden.«
»Vielleicht. Wie auch immer, es bedurfte keiner großen Anstrengung, mich zu der einzigartigen Hingabe an die Eins zu bewegen. Ich lernte schnell, die Magier waren stolz auf mich.
Ich glaube, sogar Chad Nezzar war es, denn ich war ein Waisenjunge ohne großes Erbe. Überlaßt ihn den Magiern, sagte er, sollen sie sich um ihn und seine Erziehung kümmern.«
»Wann hast du erkannt, daß es Tiefen in dir gibt, die anders sind?« fragte ich. Ich hielt seine Hand fest in meinen Händen.
»Etwa mit zwanzig. Ich erkannte, wenn ich gewisse Dinge berührte, wie Glas oder Metall, daß sie mir etwas zuflüsterten.
Ich wußte sofort, was da geschah. Und man hatte mir beigebracht, daß die Magie der Elemente böse und verderbt war. Und so fühlte ich mich selbst auch böse und verderbt. Ihr beide werdet nie verstehen können, wie lange ich in Angst und Schrecken lebte. Ich baute Mauern und Festungen, hinter denen ich mich verbarg. Ich wurde der perfekte Magier. Ich brauchte sieben Jahre, aber ich schaffte es. Schließlich glaubte ich, das vernichtet zu haben, was mich so verdorben hatte.«
»Aber du hast noch immer von dem Lied der Frösche geträumt«, sagte ich.
»Immer seltener. Aber vielleicht habe ich die Träume auch so aus meinem Bewußtsein ausgeklammert, daß ich mich nicht mehr daran erinnerte. Ich war unverletzbar. Der perfekte Magier. Bis du mir in Setkoth diese verfluchten Frösche geschliffen hast.«
Zabrze schaute verwirrt drein, und ich schilderte ihm in kurzen Worten, wie ich bei meiner Ankunft in Setkoth das Glas bearbeitet hatte. Er nickte und erzählte Boaz, daß die Frösche beim Tod seines Vaters ein Klagelied angestimmt hatten.
»Nun«, sagte er dann und lehnte sich zurück. »Und jetzt?«
»Zerstören wir die Pyramide«, sagte ich energisch. »Wir müssen es tun.«
Boaz schwieg.
»Wir müssen es tun«, wiederholte ich. »Willst du immer noch nicht zugeben, daß sie etwas Angsteinflößendes hat?
Willst du das noch immer abstreiten?«
Er senkte den Blick. »Nein. Nein, sie hat tatsächlich etwas Bedrohliches. Aber mal davon abgesehen, die Pyramide abzureißen… ich wüßte nicht, wie…«
»Aber worin liegt dieses Bedrohliche?« fragte ich.
»Es liegt vermutlich an der merkwürdigen Macht, aus der sie gespeist wird.«
»Das Tal«, sagte ich und erinnerte mich.
»Das Tal?« wiederholte Zabrze. »Ich habe nur flüchtig davon gehört.«
»Es ist eine Machtquelle«, sagte Boaz langsam und dachte sorgfältig nach, bevor er sprach. »Die Magier wußten von ihrer Existenz, wie auch von ihrer Macht. Wir haben sie immer für den Ursprung der Schöpfung gehalten, das Nichts, aus dem das Universum und alles, was es enthält, entspringt. Wir glaubten, wir könnten sie uns nutzbar machen. Die Pyramide oder vielmehr die Kammer zur Unendlichkeit würde eine Brücke, eine Verbindung zur Unendlichkeit und Unsterblichkeit sein.«
»Boaz«, sagte ich mit wachsendem Entsetzen, »und was ist, wenn jemand von der anderen Seite zu uns herüberkommt?
Was ist, wenn es in dem Tal jemanden gibt, der die Brücke als Verbindung zu unserer Welt benutzt?«
Schweigen.
»Verdammt, Bruder«, stieß Zabrze hervor und packte Boaz’ Arm. »Was hast du getan?«
»Bin ich jetzt für alles verantwortlich?« fauchte Boaz und riß sich los. »Der Bau der Pyramide wurde schon begonnen, lange Zeit bevor Avaldamon mich zeugte. Ich habe die letzten Tage ihrer Fertigstellung überwacht, sonst nichts! Ich bin nicht für die Pyramide verantwortlich!«
»Dann überwache jetzt ihre Zerstörung, Bruder!«
Boaz sah aus dem Fenster. »Zu spät, Zabrze. Es hat angefangen.«
Ich schaute hinaus. Das Licht der Morgendämmerung sickerte durch das Weinlaub auf der Veranda. Wie lange hatten wir miteinander gesprochen?
»Was meinst du damit, es ist zu spät?«
Boaz wandte sich wieder Zabrze zu. »Die Pyramide wird zu ihrer vollen Macht erwachen, wenn die Sonne genau über ihr steht. Am Mittag. Wenn das Licht die Kammer zur Unendlichkeit flutet. Es gibt nichts, was wir tun könnten, um das noch zu verhindern.«
»Aber ich dachte, die Riten… wenn du die Einweihungsriten nicht durchführst…«, sagte ich.
Boaz schüttelte den Kopf. »Die Riten finden nur aus zwei Gründen statt. Einmal, um den Menschen ein Schauspiel zu bieten. Jeder hat zur Fertigstellung der Pyramide irgendwelche Riten erwartet. Die Riten sollen mit Prunk und Pracht durchgeführt werden, um die Magier noch großartiger aussehen zu lassen. Und zweitens, was viel wichtiger ist, die Riten wurden entwickelt, damit mindestens ein paar Magier in der unmittelbaren Nähe der Kammer zur Unendlichkeit sind, wenn die Sonne durch sie hindurchfährt. Wir wollten die ersten sein.«
»Darum also hast du darauf bestanden, die Riten selbst durchzuführen«, sagte ich leise. Er hatte mich verlassen wollen. Mich zugunsten der Unendlichkeit und allem, was sie versprach, verlassen wollen.
»›Bestehen‹ ist ein zu netter Ausdruck, Tirzah. Nein, die Riten werden nicht den geringsten Unterschied machen, ob die Pyramide nun erwacht oder nicht. Was auch geschieht, sobald die Sonne ihre größte Kraft erreicht…«
»Dann reißen wir sie eben einfach ab«, sagte Zabrze energisch, und Boaz lachte rauh.
»Sie abreißen, Bruder? Es hat acht Generationen gebraucht, um sie zu bauen, und wir haben nur sechs Stunden Zeit, um sie abzureißen.«
»Mir steht ein Heer zur Verfügung.«
»Und du vertraust ihm? Die Macht der Eins ist beim Militär stark vertreten. Die Magier haben sie seit Jahren, seit Jahrzehnten kultiviert, weil sie vorbereitet sein wollten, falls Chad Nezzar versucht, mit der Armee die Pyramide für sich zu beanspruchen. Und das Versprechen, der Bann, in den die Macht sie geschlagen hat, wird viele veranlassen, ihre Hand nicht gegen sie zu erheben.«
Zabrze schwieg auf beredte Weise, und ich dachte an den Respekt, den der diensthabende Offizier an der Pyramide Boaz erwiesen hatte.
»Und ich bezweifle sehr stark«, fuhr Boaz leise fort, »daß die Pyramide es zulassen würde, daß man sie zerstört. Du hast bereits Kostproben ihrer Macht zu spüren bekommen. Wenn jemand mit einem Hammer in ihre Nähe kommt…«
»Trotzdem müssen wir es versuchen«, sagte Zabrze.
Und dann fiel mir ein, daß einer seiner Offiziere verstohlen mit Azam gesprochen hatte. »Hoher Herr…«
»Ja, ich weiß«, sagte er. »Wir müssen uns Yaqobs bedienen.«
Niemand sagte etwas. Dieser Mann würde einen großen Chad abgeben, denn er überraschte ständig alle, die in seiner Umgebung waren, mit seinem scharfen Verstand.
»Wieso Yaqob?« sagte Boaz mit einem entschieden scharfen Unterton in der Stimme.
»Boaz«, sagte ich sanft. Boaz konnte Yaqob aus vielen Gründen nicht leiden, die nichts damit zu tun hatten, daß er möglicherweise ein Elementist war. »Die Sklaven werden alles dafür tun, die Pyramide zu zerstören. Sie wissen ganz genau, wie bedrohlich, wie finster sie ist.«
»Und sie planen ohnehin einen Aufstand«, vollendete Zabrze den Satz.
»Und warum überrascht mich das nicht?« murmelte Boaz.
»Und wieso weißt du darüber Bescheid, Zabrze?«
»Shetzah! Ich kann nicht glauben, daß du so viel Zeit in Setkoth verbrachtest und trotzdem so wenig Ahnung von Hofintrigen hast!« Zabrze lehnte sich vor. »Als ich herkam, erwartete ich Schwierigkeiten – von verschiedenen Seiten. Ich hatte Gerüchte über die Pyramide gehört, über die ›Unfälle‹ auf der Baustelle, also rechnete ich mit Problemen durch die Pyramide selbst – ich hatte nur keine Vorstellung, wie schlimm alles tatsächlich werden würde. Ich wußte auch, daß Chad Nezzar mit der vagen Idee spielte, die Macht der Pyramide an sich zu reißen, und ich wußte, daß die Magier einen Großteil der Armee auf ihre Seite gebracht haben. Ich war mir nicht sicher, wie sehr, aber immerhin so sehr, daß ich einem großen Teil meines Stabes nicht mehr vertrauen kann. Und dann begegneten wir hier einem riesigen Lager voller Sklaven, deren Zukunft ungewiß ist. Natürlich habe ich mit irgendeiner Revolte gerechnet, oder zumindest einem Plan dafür!«
»Und so kamst du, bereit, sie niederzuschlagen?« fragte Boaz.
»Nein«, erwiderte Zabrze und sah seinem Bruder in die Augen. »Ich kam zur Hälfte in der Erwartung, sie als Verbündete zu gewinnen.«
»Ich habe einen Eurer Offiziere mit einem Mann sprechen gesehen, von dem ich weiß, daß er an dem Aufstand beteiligt ist«, sagte ich.
»Ja.«
»Aber wie habt Ihr so schnell davon erfahren?« wollte ich wissen. »Eure Männer waren noch keine zwei Stunden hier, als ich…«
»Ich habe es Prinz Zabrze gesagt, Tirzah«, sagte da eine Stimme, und ich drehte mich um und fragte mich, wann die Überraschungen wohl enden würden.
»Ich habe es ihm gesagt.«
»Kiamet«, sagte Boaz wütend.
»Azam ist mein Bruder«, sagte Kiamet. »Das weiß niemand. Niemand.«
Bei den Göttern. Ich stützte den Kopf in die Hände.
»Kiamet war sehr nützlich«, sagte Zabrze ruhig. »Sehr sogar.«
»Azam hat mich um vertrauliche Hinweise gebeten«, sagte Kiamet. »Aber ich wollte sie ihm nicht geben.« Er zögerte, sein Blick bettelte Boaz förmlich um Verständnis an. »Ich wollte Euch nicht verraten, Herr.«
»Aber du hast nicht gezögert, für meinen Bruder zu arbeiten«, sagte Boaz bitter.
»Ach, Boaz, sei doch vernünftig!« sagte Zabrze. »Du hattest es erkennen müssen! Kiamet gehörte nicht zu den Wächtern, die hier seit Jahren unter dem Einfluß der Magier stehen. Er kam mit den Soldaten, die Chad Nezzar bei seinem letzten Besuch vor einigen Monaten begleiteten. Er ist immer auf meiner Seite gewesen.«
Ich dachte darüber nach. »Und doch gibt es vieles, das er Zabrze hätte berichten können, aber nicht getan hat – über dich und mich, Boaz. Denk darüber nach. Er hat treuer zu uns gestanden, als es den Anschein hat.«
Kiamet warf mir einen dankbaren Blick zu. Ich erwiderte ihn.
Er hätte Azam erzählen können, was ich in der Residenz tat, was ich hier lernte. Aber er hatte es nicht getan.
»Es ist nicht immer einfach gewesen«, sagte Kiamet schlicht.
Boaz nickte, fand sich damit ab. »Und jetzt?«
»Jetzt sehen wir, wie viele wir wirklich um uns scharen können«, sagte Zabrze. »Wenn wir tausend oder mehr zusammenbekommen, dann können wir vielleicht einen Angriff auf die Pyramide selbst wagen. Den Schlußstein zerstören, vielleicht sogar die Kammer zur Unendlichkeit.
Alles zum Erliegen bringen.«
»Aber…«, fing Boaz an.
»Aber wenn wir das nicht schaffen?« Zabrze sah mich an.
»Tirzah? Wenn wir es nicht schaffen?«
»Dann mußt du tun, was dein Vater dir gesagt hat, Boaz«, sagte ich. »Du mußt dem Lied der Frösche zuhören. Es verstehen, es lernen. Lernen, wer du bist. Und dann wirst du vielleicht das aufhalten können, was vielleicht sonst heute Mittag passiert.«
»Und wie soll ich bitte lernen, das Lied der Frösche zu verstehen?«
»Ich habe ein paar Freunde.«
»Yaqob!« Er spie das Wort aus.
»Ja, und Isphet und ein Dutzend andere. Sie werden dir helfen. Es gibt da einen Ort, den Isphet kennt. Eine Gemeinde, in der die Magie der Elemente noch ausgeübt wird. Unter ihnen sind mächtige Anführer, die dich unterrichten können.«
Ich sah Zabrze an. »Hoher Herr, wenn es Euch nicht gelingt, die Pyramide zu zerstören, werde ich Boaz hier fortschaffen müssen.«
Zabrze nickte. »Kannst du ihn jetzt zu deinen Freunden bringen?«
»Ich glaube schon. Boaz, nimm das hier.« Ich gab ihm den Kasten mit dem Buch.
Dann wickelte ich den Froschkelch schnell in einen Überwurf ein und hielt ihn eng an meine Brust gepreßt.
»Kiamet«, sagte Zabrze, »begleite sie. Kümmere dich darum, daß ihnen nichts passiert. Dann geh wie geplant zu Azam.«
Kiamet nickte.
»Und, Tirzah?«
Ich schaute auf.
»Hör auf, mich Hoher Herr zu nennen. Unter diesen Umständen ist das irgendwie albern.«
Ich nickte, lächelte, dann drängten Kiamet und ich Boaz aus der Tür.