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Wir saßen in der Kühle des Abends am grünen Wasser auf dem Grund der Felsenkluft: Boaz, Yaqob, Isphet und ich.

Zabrze beriet sich mit Naldi darüber, wie die zurückkehrenden Boten sicher zu den Bergen und zur Kluft finden konnten; Zabrze hoffte, daß er in den nächsten Wochen Nachricht von den Nachbarländern erhalten würde, insbesondere von Prinz Iraldur von Darsis – Nachrichten, die Hilfe gegen Nzame versprachen.

»Was bedeutet denn dieses Lied der Frösche, Boaz?« fragte Yaqob.

Ich hatte Isphet bereits ein wenig über die Geschichte und das Lied berichtet, aber jetzt erzählten Boaz und ich die ganze Geschichte vom Lied der Frösche, erklärten den Kelch und welchen Einfluß die Frösche auf Boaz’ Leben und für unsere Beziehung gehabt hatten.

»Die Soulenai haben Tirzah gesagt, daß ich mich dem Lied der Frösche öffnen müsse, ihr Lied lernen, dem Weg folgen muß, den es mir zeigt. Ich hatte gedacht, daß nach meiner Ankunft… daß die Weisen…«

»Aber hier gibt es keine Frösche«, sagte Isphet. »Kein Lied, dem man zuhören könnte.«

»Nicht ganz«, erwiderte ich. »Wir haben den Froschkelch, das Lied hallt darin wieder. Und wir haben Fetizza.«

Wir alle sahen das Froschweibchen an. Sie saß am Wasserrand, anscheinend döste sie vor sich hin. Es schien so, als habe sie am vergangenen Tag ihre Größe verdoppelt und sei noch häßlicher geworden.

»Fetizza hat seit ihrer Erschaffung nichts anderes getan als gefressen«, sagte Boaz. »Und seht sie euch jetzt an. Wenn sie sich in den nächsten paar Minuten nicht bewegt, dann bin ich überzeugt, daß sie zu einem Teil des Felsens geworden ist.«

Als hätte Fetizza ihn gehört, blinzelte sie langsam und rülpste.

»Hast du gewußt, was aus dem Kelch kommen würde, als du den Zauber geschaffen hast, der uns herführte?« fragte ich Boaz.

»Nein. Ich weiß auch nicht, was ich da eigentlich gemacht habe – und das gleiche gilt für die Steinlocke, die ich verwandelt habe, Tirzah.«

Fetizza stieß erneut auf, so stark, daß ihr ganzer Körper erschüttert wurde.

»Dann müssen wir den Weisen vertrauen«, sagte Isphet fest und wollte aufstehen.

Fetizza stieß wieder auf, diesmal so stark, als ob sie würgen müßte, dann noch einmal, und dann fiel sie beinahe um, weil sie so stark gebeutelt wurde.

Ein kleiner bernsteinfarbener Frosch krabbelte aus ihrem Maul, balancierte unsicher auf einem Tropfen Spucke auf ihrer Unterlippe und ließ sich dann ins Wasser fallen.

Isphet setzte sich wieder und schaute Fetizza ungläubig an.

Fetizza würgte wieder, rollte mit den Augen und ein weiterer Bernsteinfrosch erschien.

»Kus!« fluchte Yaqob leise.

Fetizza ›gebar‹ noch drei weitere Frösche, machte es sich wieder auf dem Felsen bequem und schlief wieder ein.

»Nun«, sagte Isphet und stand auf. »Es sieht so aus, als seien doch Frösche hier, Boaz.«

Die fünf Bernsteinfrösche planschten im Wasser zu Fetizzas Füßen, dann schwammen sie zur Flußmitte, und wir verloren sie aus den Augen.

An diesem Abend hörten wir ganz leises Quaken aus dem Wasser zu uns aufsteigen, das von den Felsen der Kluft zurückgeworfen wurde.

Am Morgen berichtete ein Kind, das Fetizza beobachtet hatte, daß noch mehr Frösche aus ihrem Maul gekommen seien. Alle bernsteinfarben.

»Elementenmeister sind Elementisten, die gelernt haben, sich der Macht der Elemente zu bedienen«, erklärte Solvadale am Nachmittag, als wir im Wassersaal in dem Halbrund versammelt waren.

Gardar nahm den Faden auf. »Die Elemente, vor allem Edelsteine und Metall, können für die magischen Künste benutzt werden, weil sie noch immer viel von der Energie enthalten, die zu ihrer Erschaffung nötig war. Darum flüstern und schwatzen sie in einem fort. Sie sind genauso lebendig wie wir. Das habt ihr alle schon gefühlt.«

Wir nickten. Boaz hörte mittlerweile das unaufhörliche Schwatzen von Metall, Edelsteinen und Glas genauso gut wie ich. Er hatte den Froschkelch an unser Bett gestellt, und letzte Nacht war ich aufgewacht und hatte ihn dabei ertappt, wie er ganz ruhig dalag, ihn ununterbrochen in den Händen drehte und seinem Lied lauschte.

»Elementenmeister nutzen diese Macht«, fuhr Gardar fort, »um Veränderungen zu bewirken. Boaz, du hast die Macht des Froschkelches dazu verwendet, Fetizza zu erschaffen – die, wie es den Anschein hat, selbst mehr als nur ein bißchen magisch ist. Ihr alle, Boaz eingeschlossen, müßt lernen, diese Macht zu erkennen und euch ihrer zu bedienen. Damit werden wir heute anfangen.«

Während der nächsten drei Wochen lernten wir bei den Weisen an jedem Nachmittag Meditationsübungen. Es waren Übungen, die uns nicht nur mit unserer inneren Kraft in Berührung bringen sollten, sondern auch mit der in den Elementen enthaltenen Energie. Die Übungen schienen leicht zu sein, aber sie kosteten uns viele Stunden harter Arbeit und gelegentlich auch Flüche, bevor wir sie wirklich beherrschten.

Ich wußte, daß Isphet und Yaqob genau wie Boaz und ich jeden Abend Stunden damit verbrachten, weiter daran zu arbeiten, und Boaz und ich gingen oft so erschöpft ins Bett, daß wir zu müde waren, um uns zu lieben.

Aber wir machten Fortschritte. Am Ende der drei Wochen konnten wir unsere innere Kraft berühren, und wir konnten die Macht eines jeden Objektes aus Glas oder Metall mit den Händen ohne sichtliche Anstrengungen spüren. Boaz meinte eines Abends zu mir, es sei so, als könne man in die Seele des Objektes schauen, von dem man vorher lediglich ein Flüstern gehört hatte.

»Ihre Seelen leuchten so hell«, sagte er. »So farbenprächtig wie Regenbogen.«

Ich nickte und bewunderte seine Fähigkeiten. Ich konnte auch etwas davon erkennen, aber es waren nur kurze Augenblicke.

Boaz war mächtig… aber vielleicht sah und fühlte jeder von uns doch etwas anderes.

Als die Weisen davon überzeugt waren, daß wir die Übungen beherrschten, die uns mit der Lebenskraft der Elemente in Berührung brachten, unterrichteten sie uns darin, diese Kraft einzusetzen.

Weitere Übungsstunden, noch mehr Flüche. Verglichen mit dem, was jetzt von uns verlangt wurde, waren die Meditationsübungen einfach gewesen. Wir mußten eins mit dem Objekt in unseren Händen werden, so daß wir beinahe mit seiner Lebenskraft verschmelzen konnten.

»Aber ihr dürft dabei nicht zu weit gehen«, warnte Gardar, »verschmelzt nicht vollständig mit ihm, denn dann würden sich eure und die Seele des Objektes miteinander vereinigen… und euer Körper wird sterben.«

»Und dann hätten wir ein Objekt, vielleicht einen Armreifen, mit der Seele eines Boaz oder einer Isphet«, sagte Solvadale, »und das würde weder uns noch euch nutzen.«

Dieser Unterricht war anstrengend für die Weisen, denn sie konnten nichts praktisch vorführen. Es fehlten ihnen die Fähigkeiten dazu, und sie konnten nicht bis ins letzte Detail verfolgen, was wir taten oder wohin wir gingen. Sie mußten darauf vertrauen, daß wir ihnen folgten.

»Normalerweise würde ein Elementenmeister von einem Elementenmeister ausgebildet«, sagte Xhosm eines Tages zu uns. »Aber ihr habt nur uns. Wir hoffen, daß ihr später auch andere unterrichten könnt.«

»Nimm diese Glaskugel«, sagte Caerfom einmal zu mir, »und mach mit der ihm innewohnenden Macht Wellen im Wasser des Teiches. Das sollte dir leichtfallen, Tirzah.«

Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Ich berührte die Lebenskraft recht mühelos – ich glaube, das hätte ich im Schlaf tun können –, aber die Macht zu lenken war sehr viel schwerer. Ich brachte Caerfoms Kleidung in Bewegung, und ich verwüstete Isphets Haar, aber das Wasser blieb still.

»Wir versuchen es morgen noch einmal«, sagte Caerfom, seufzte und entließ uns für diesen Tag.

Mehrere Wochen nach unserer Ankunft weckte uns Zabrze eines Nachts.

»Verdammt, Zabrze«, murmelte Boaz, »du magst ja nichts Besseres zu tun haben, als hier faul herumzusitzen, aber Tirzah und ich hatten einen langen und schweren Tag.«

»Steht auf«, sagte Zabrze kurz angebunden, »und hört euch an, was ich zu sagen habe.«

Boaz setzte sich auf die Bettkante und rieb sich den Schlaf aus den Augen, und ich kämpfte mich hoch und zog das Laken bis über die Brüste. Würden Boaz und ich für den Rest unseres Lebens von Zabrzes mitternächtlichen Besuchen heimgesucht werden?

»Einer meiner Läufer kam heute abend zurück«, sagte Zabrze.

»Und?« fragte Boaz.

»Schlechte Neuigkeiten.«

Von der Tür kam ein Laut. Isphet kam mit Zhabroah auf dem Arm herein und setzte sich neben Zabrze. »Ich konnte nicht wieder einschlafen«, sagte sie.

»Komm schon«, sagte Boaz zu Zabrze, ohne auf Isphet einzugehen. »Was für Neuigkeiten?«

»Es war einer der Männer, die ich nach Darsis geschickt habe. Er kam nicht durch. Er hatte eine etwas andere Route als die anderen genommen; ich kann nur hoffen, daß sie es geschafft haben.«

»Zabrze…«

»Er reiste nach Nordnordost, statt nach Nordost, und so kam er nicht so weit wie die anderen, und war auch nicht so schnell… du verstehst, was ich damit sagen will?«

»Ja, ja. Was ist denn nun?«

»Eines Nachts, zwei Wochen nach Verlassen unseres Anwesens am Juit wurde er von einem Grollen geweckt. Er sprang auf die Füße, konnte aber nichts sehen, und der Lärm hatte aufgehört. Also legte er sich wieder schlafen. Als er am nächsten Morgen jedoch aufstand…«

»… sah er nur noch Stein um sich«, sagte ich leise.

»Ja«, erwiderte Zabrze mit müder Stimme. »Etwa fünf Schritt weiter westlich hatte sich alles Land in Stein verwandelt. Er wußte, was das zu bedeuten hatte. Er war bei der Pyramide, als… nun, in dem Land im Westen gab es nichts Lebendiges mehr. Nichts. Nur noch Stein. Nzame hat seine Macht noch weiter ausgedehnt.«

»Wie weit war er da von der Pyramide entfernt?« fragte Boaz.

»Etwa drei Tagesmärsche. Zwei Wochenmärsche vom Juitsee entfernt, hätten sie ihn ostwärts geradewegs zur Pyramide gebracht.«

»Setkoth«, sagte Boaz.

»Oh ihr Götter«, flüsterte ich.

»Ja«, sagte Zabrze. »Setkoth muß lange vorher versteinert sein.«

Zabrzes andere Kinder waren zweifellos von dem sich ausbreitenden Stein in der Stadt gefangen. Falls Nzame sie nicht vorher zusammengetrieben und verschlungen hatte. Falls es ihnen nicht gelungen war zu fliehen.

Zhabroah. Überlebender.

»Da ist noch etwas«, sagte Zabrze. »Der Stein hat meinen Boten so erschreckt, daß er nur noch so schnell wie möglich dort weg wollte. Er wandte sich genau nach Osten und lief Tag und Nacht. Fünf Tage, nachdem sich Nzame ausgebreitet hat, hat er bereits einige seiner Steinmänner ausgeschickt.

Glücklicherweise sah der Läufer sie, bevor sie ihn sahen. Er versteckte sich, als sie vorbeizogen, und was er gesehen hat, führte ihn dazu, lieber mir sofort Bericht zu erstatten, als zu versuchen, sich weiter nach Darsis durchzuschlagen.«

Zabrze hielt inne, nahm seinen Mut zusammen. Ich sah Boaz an, und er lehnte sich an mich und legte tröstend den Arm um mich.

»Es war eine Gruppe von sechsunddreißig Steinmännern.

Wie eine militärische Einheit. Sie marschierten, wenn man das so nennen will, in Formation, schlurften und zerbröckelten dabei. Ihre Gesichtszüge waren verzerrt und zerklüftet, Arme und Beine dick und unbeholfen. Ihre Münder standen offen und wie in ständiger Verzweiflung, hat mein Bote mir berichtet, stöhnten sie, ihre Köpfe rollten von einer Seite zur anderen… und sie stöhnten, stöhnten vor inneren Qualen.«

Wenn schon der Bericht Zabrze so quälte, wie schlimm mußte es den Mann getroffen haben, der sie tatsächlich gesehen hatte?

»Sie wurden von einem Mann angeführt«, fuhr Zabrze fort, »der auf etwas ritt, das man laut meinem Boten nur als schlurfenden, konturlosen Felsbrocken beschreiben kann, etwa von der Größe eines Esels. Dieser Anführer war… Chad Nezzar.«

»Was?« riefen Boaz und ich zugleich aus.

»Ein Chad Nezzar, der nicht in Stein verwandelt worden war, aber von Nzame unwiderruflich verändert worden ist. Er war wahnsinnig, sagt mein Bote. Er kicherte und sang über die Macht und die Herrlichkeit von Nzame. Er streichelte sein Steinreittier, als wäre es lebendig, und nannte es seine Geliebte. Sein Körper war vernarbt, wo er sich den Schmuck aus dem Körper gerissen hat, und schrecklich von der Sonne verbrannt.«

Wir saßen ein paar Minuten stumm da und dachten nach.

»Das mußt du den Weisen erzählen«, sagte Boaz schließlich.

»Ja. Und ich werde mir überlegen müssen, wie ich eine Armee aus zehntausend Steinmännern bekämpfen kann, denn so viele sind es bestimmt, die für Nzame kämpfen.«

»Und Chad Nezzar?« fragte ich. »Könnte er ein Heer anführen?«

Zabrze schüttelte den Kopf und wollte antworten, aber eine Stimme in der Tür kam ihm zuvor.

Solvadale.

»Ich habe es gehört«, sagte er. »Und ich glaube nicht, daß Chad Nezzar bloß verrückt ist. Ich glaube, er ist jetzt zu einem Teil von Nzame selbst geworden.«