17
Es gab keine weiteren Angriffe von Steinmännern; Nzame mußte eingesehen haben, daß es nutzlos war, kleine Gruppen gegen uns auszuschicken. Wir marschierten weitere fünf Tage durch die steinerne Landschaft, angespannt, aber nicht so mutlos wie zuvor. Hinter uns erstreckten sich Wasserflächen, die in der erneut zum Leben erweckten Erde versickerten. Die mit Wasser bedeckten Streifen waren noch nicht gewaltig, aber sie vermittelten uns ein Gefühl von Hoffnung, und an jedem Abend sahen wir zu, wie es sich Fetizza in der nächsten Spalte gemütlich machte, und wir lächelten, wenn das Wasser um sie herum hervorquoll.
Fetizza schien von der Aufmerksamkeit, die ihr jeder entgegenbrachte, völlig unberührt zu sein und zischte und duckte sich nur zusammen, wenn die Hündin sich ihr näherte.
Nicht, daß die Hündin das besonders oft machte; sie hatte bereits herausgefunden, daß der Frosch sehr fest zukneifen konnte, wenn er geärgert wurde, und einmal hatte er sie beinahe in einer knöcheltiefen Pfütze ertränkt.
Die Befreiten erholten sich immer mehr. Wir alle badeten jeden Abend, und jedesmal, wenn die Befreiten planschten, konnte ich beinahe spüren, wie ein paar ihrer Ängste vom Wasser fortgespült wurden.
Ich wünschte mir, das Wasser hätte genauso viel gegen meine Ängste tun können wie gegen ihre. Nzame hatte sich mir nicht mehr in meinen Träumen genähert, aber ich ging davon aus, daß er nur auf den richtigen Augenblick wartete.
Boaz war sehr still. Er schlief so ungestört wie ich, aber er war immer öfter tief in seine Gedanken versunken.
Am sechsten Tag nach Fetizzas Wiederauftauchen lernten wir Iraldur von Darsis kennen.
Die Spitze der Kolonne war plötzlich in helle Aufregung geraten, und ich sah etwas genauer hin.
»Boaz, schau! Da vorn sind Männer.«
Zabrze ritt nach vorn, einem von zwei schwarzen Hengsten gezogenen Streitwagen entgegen, der von einer Gruppe von sechs Reitern begleitet wurde. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich das Funkeln von Brustpanzern unter Seidentüchern sehen sowie die bösartige Krümmung blankgezogener Säbel.
Der Mann in dem Streitwagen war schwerer bewaffnet als seine Soldaten.
Als Zabrze sie anrief, gab der Mann im Wagen seinen Reitern ein Signal, daß sie ihre Pferde zügeln und ihre Waffen wegstecken ließ. Dann beugte er sich vor, um Zabrzes Hand zu ergreifen.
»Iraldur«, sagte Boaz. »Komm, Tirzah.«
Iraldur war etwa in Zabrzes Alter, ein wild aussehender Mann mit schmalen Augen und einer großen Vertrautheit mit seinen Waffen und seinem Streitwagen. Er schien schrecklich wütend zu sein.
»Zwei Tagesmärsche westlich bewegt sich ein Heer aus Steinmännern, Zabrze. Ihr habt diese Pestilenz in Eurem Reich beherbergt, sie mit Nahrung versehen, und jetzt bittet Ihr mich um Hilfe, sie loszuwerden?«
»Und ich danke Euch für Eure Hilfe«, sagte Zabrze ruhig.
»Denn Ihr seid gekommen.«
»Ich bin nur aus einem einzigen Grund hier, Zabrze. Dieses bösartige Wesen frißt auch meine Leute und mein Land! Ist Euch klar, daß wir hier auf etwas stehen, das einst fruchtbares Darsisland war? Kornfelder haben dieses Jahr nur Steine hervorgebracht, und dafür habe ich Euch zu danken!«
»Ich bin nicht verantwortlich…«
»Ihr seid der Chad, Zabrze, denn wie ich gehört habe, ist Nezzar völlig im Wahnsinn versunken, und als Chad seid Ihr für jedes Stück Scheiße verantwortlich, das jeder Eurer Untertanen hervorbringt.« Er spuckte auf den Boden. »Und dieses besondere Stück Scheiße habt Ihr allein zu verantworten!«
Iraldur entdeckte uns. »Ah! Magier Boaz! Seid Ihr gekommen, um zu erklären, was die Magier auf mein Land losgelassen haben? Seid Ihr gekommen, um weinenden Müttern zu erklären, warum ihre Männer zu Stein geworden sind und ihre Kinder verschleppt wurden, um den Hunger dieses…«
Dann entdeckte Iraldur Fetizza in Boaz’ Armen, und sein Mund blieb offen stehen.
»Vieles von dem, was zerstört wurde, kann wiederhergestellt werden«, sagte Boaz. Er setzte Fetizza am Boden ab. Sie fand eine passende Spalte und quetschte sich glücklich hinein, gab einen Laut von sich, von dem ich hoffte, daß es ein zufriedenes Seufzen war.
»Ich muß im Namen der Magier die Verantwortung für das übernehmen, was geschehen ist«, fuhr Boaz fort, als Iraldur endlich seinen Blick von dem Frosch losriß. »Ich allein trage die Verantwortung für das, was geschehen ist. Die Gier der Magier nach Unendlichkeit und Unsterblichkeit hat Böses entfesselt, aber mit Eurer Hilfe und der Hilfe von Zabrze hoffe ich, es wieder in Ordnung bringen zu können. Bringt mich zur Pyramide, Iraldur, und ich werde Euer Land und Euer Volk für Euch zurückgewinnen.«
Iraldur wollte gerade etwas darauf erwidern, als er das Glitzern des Wassers entdeckte, das um Fetizza hervorsickerte, und das Froschweibchen quakte und grinste ihn an.
Iraldur führte uns in sein Lager, eine Stunde Marsch entfernt.
Er hatte es auf dem Felsen aufgeschlagen, wie er erklärte, weil er Angst vor dem hatte, was möglicherweise geschehen würde, wenn er nahe an der Grenze gelagert und Nzame entschieden hätte, sein Einflußgebiet auszuweiten.
»Im Nu wären wir alle in Stein verwandelt gewesen«, sagte er, als er uns in ein kostbar ausgestattetes Zelt führte. »Und ich bin noch nicht für den lebenden Tod bereit.«
Isphet und ich begleiteten unsere Männer hinein. Iraldur war überrascht gewesen, daß Boaz sich eine Frau genommen hatte – ich glaube, daß das Boaz ihm tatsächlich etwas sympathischer machte –, aber er war überrascht und traurig, daß Neuf tot war.
»Ich will Euch nicht beleidigen, Hohe Dame Isphet«, sagte er, »aber ich habe Neuf seit meiner Jugend gekannt, und sie war mir eine Freundin.«
Isphet neigte anmutig den Kopf. Zweifellos würde sie auch in Zukunft noch mehr solcher Überraschungen auslösen.
Iraldur wartete, bis wir es uns bequem gemacht hatten, dann wandte er sich wieder Zabrze zu. »Erklärt es mir.«
Zabrze zeigte auf uns. »In diesem Zelt sind vier, die Geschichten zu erzählen haben, und es ist am besten, wenn Ihr sie alle hört. Ihr sagt, das Heer der Steinmänner steht zwei Tagesmärsche entfernt im Westen?«
Iraldur nickte.
»Dann habt Ihr ja heute Abend Zeit, zuzuhören. Nein, wartet.
Wie groß ist Eure Streitmacht?«
»Sechstausend Mann. Und genauso viele Pferde.«
»Dann werden wir die Steinmänner ohne große Mühen besiegen, und ich glaube, es wird Euch überraschen, was wir mit ihnen machen werden. Geduld. Diese Geschichten sind wichtig.«
Iraldur starrte Zabrze an, dann nickte er knapp. »Also gut.«
Er winkte einen Diener herbei, und man servierte uns gekühlten Fruchtsaft mit etwas, das sich in meinem Kopf kurz alles drehen ließ, dann aber allem schärfere Konturen verlieh.
»Boaz?« bat Zabrze leise. »Willst du anfangen?«
Iraldur hörte sich wortlos zuerst Boaz’ und dann Isphets, meine und schließlich Zabrzes Geschichte an. Der Prinz winkte gelegentlich den Diener herbei, um unsere Gläser nachzufüllen, und er unterbrach uns nur, um etwas klarzustellen oder, als ich sprach, mich zu fragen, ob er den Froschkelch und das Buch der Soulenai sehen dürfe.
Ich ließ Holdat diese Bitte ausrichten. Er trat in dem Augenblick ein, in dem Zabrze seine Geschichte beendete, und gab mir Buch und Kelch. Ich reichte sie Iraldur.
»Ihr erzählt eine erstaunliche Geschichte«, sagte er, dann sah er mich und dann Isphet an. »Sklaven werden zu Elementenmeistern und dann die Frauen von Prinzen und Chads.«
Isphet streckte die Arme aus. »Dann legt uns wieder in Ketten, Iraldur, wenn Ihr meint, wir würden es verdienen.«
»Ich kritisiere nicht, Isphet«, sagte Iraldur. »Im Laufe der Jahre habe ich von vielen Philosophen die Ansicht gehört, daß Sklaven die einzigen in einer Gesellschaft sind, die wirklich von echtem Adel sind. Vielleicht habe ich heute die Wahrheit dieser Theorie begriffen.«
Isphet verzog bitter die Lippen. »Ich bezweifle, daß diese Philosophen jemals selbst Sklaven waren, Iraldur. Ich habe noch keinen Sklaven kennengelernt, der das Edle seiner Existenz genießt.«
»Gebt mir mein Volk zurück«, sagte Iraldur sehr leise, »und ich werde höchstselbst Eure Füße ölen und küssen.«
»Werdet Ihr uns helfen, Iraldur?« fragte Zabrze. »Uns bleiben noch zwei Tage, bevor uns dieses verfluchte Steinheer erreicht. Ich kann es nicht allein schaffen. Werdet Ihr uns helfen?«
»Ja.« Iraldur schloß das Buch der Soulenai. »Ja, das werde ich.«
Ich glaubte, in dieser Nacht ruhig schlafen zu können, aber das war ein Irrtum.
Nzame erschien mir wiederum in der Gestalt des ansehnlichen schwarzäugigen Mannes, und wiederum auf den Sommerwiesen von Viland.
»Steinmänner sind nur ein Bruchteil der Macht, die mir zur Verfügung steht, dummes Ding. Ich schicke zehntausend gegen euch, aber ich kann genauso leicht zehntausend weitere erschaffen, und dann noch zehntausend, die ihnen folgen.
Kannst du so viele besiegen? Willst du dein Leben damit verbringen, so vielen die Hand aufzulegen? Kannst du eine solche Herausforderung überleben?«
Ich glaubte, wenn ich ihn nicht beachtete, mich abwandte, er des Spiels müde würde.
Aber meine Beine waren bis zu meinen Hüften zu Stein geworden, und mir wurde klar, daß ich alt werden und sterben würde, bevor Nzame dieses Spiel leid würde.
»Ich weiß, was Boaz vorhat, Tirzah. Weißt du es auch? Weißt du es?«
Ich konnte nicht anders. Ich schaute auf.
»Er glaubt, er könnte mich mit seiner Macht umschlingen und mich in die Unendlichkeit zerren. Seine Macht? Ha!«
Nzames Gelächter klang gehässig und laut, dann verstummte es so plötzlich, wie es begonnen hatte.
»Aber selbst wenn er Erfolg haben sollte, Tirzah. Selbst wenn er Erfolg haben sollte. Da würden wir sein, zusammen gefangen in der Unendlichkeit. Stell es dir vor. Dein Geliebter und ich, gefangen in unserer eigenen Unendlichkeit. Er würde nicht deine süße Umarmung spüren, sondern meine. Für alle Ewigkeit, Tirzah. Kein Entkommen. Meine Umarmung.«
»Nein!«
»Doch! Tirzah, denk nach. Wenn er zu mir kommt, wird er entweder Erfolg haben oder auch nicht. Welches Ende wäre vorzuziehen, Tirzah? Möchtest du lieber, daß Boaz scheitert… und stirbt? Oder soll er lieber siegen… und die Unendlichkeit in meiner Umarmung verbringen?«
Ich fing an zu schluchzen, wand mich, wünschte, ich könnte durch die Felder vor diesem Hohn fortlaufen.
»Ist er ein guter Liebhaber? Sollte ich die Unendlichkeit in seiner Umarmung genießen?«
Und plötzlich waren meine Beine frei, und mein Wunsch wurde mir erfüllt. Ich drehte mich um und rannte, so schnell ich konnte, barfuß durch das weiche Gras.
Nzames Gelächter verfolgte mich. »Was wäre dir lieber, süße Tirzah? Was? Ich werde dafür sorgen, daß es geschieht. Was wünscht du deinem Geliebten? Den Tod? Oder…«