KAPITEL 14
SCHÜSSE
New York, 21. Februar 1965.
Mord an Malcolm X.
Ali hatte nie einen Zweifel, daß sein Sieg in Miami rechtmäßig und wiederholbar war. »In Miami war ich Kolumbus«, sagte er. »Da reiste ich ins Unbekannte. Da mußte ich vorsichtig sein, weil ich nicht wußte, was mich erwartete. Jetzt weiß ich es.«
Doch selbst seine engsten Vertrauten spürten den Anflug eines Zweifels in den Knochen. Liston war noch immer stark und bedrohlich, und Ali war so jung, so schwer zu verstehen, daß seine Leistung im Rückblick wie ein Phantasiegebilde wirkt. Alis Betreuer und Geldgeber gingen den Kampf in allen Einzelheiten durch – Alis lässige Dominanz in den ersten Runden, wie er in der fünften blind ums Überleben kämpfte, wie Liston vor der siebten auf seinem Hocker aufgab, obwohl er gar nicht niedergeschlagen worden war –, das alles war noch immer schwer zu begreifen. »Man glaubte, man sah gar nicht, was man sah«, sagte Ferdie Pacheco. »Erst löste sich alles in Zweifel auf, weil Liston aufgab. Das nahm der ganzen Sache viel von ihrem Glanz. Es trübte den Sieg. Man wußte nur eines sicher, daß der Junge es überlebt hatte. Es herrschte kein Jubel wie damals, als Joe Louis den Titel wiedergewonnen hatte und ganz Harlem und das ganze Land feierten. Es blieben Zweifel.«
Dieser Zweifel reichte bis in den Senat der Vereinigten Staaten. Es stellte sich heraus, daß Alis Geldgeber mit denen Listons für den Fall einer überraschenden Niederlage per Handschlag eine Vereinbarung über einen automatischen Rückkampf getroffen hatten. Listons Intercontinental Promotions bezahlte Ali 50 000 Dollar für das Recht, seinen nächsten Kampf zu promoten, sei es nun ein Rückkampf gegen Liston oder gegen sonst jemanden. Mehrere Aspekte fielen dem Senat auf. Erstens waren solche Absprachen gesetzlich verboten, weil sie einen Anreiz für einen Champion darstellten, zu verlieren und dann einen Rückkampf mit einer viel höheren Börse zu veranstalten. Zweitens hatte Liston, der Unbesiegbare, aufgegeben, ohne niedergeschlagen worden zu sein. Das wollte den Senatoren nicht in den Kopf. Drittens hatte Liston Estes Kefauvers väterlichen Rat in den Wind geschlagen, sich seine Manager sorgfältiger auszusuchen. Carbo war inzwischen zwar in Haft, doch Liston war noch immer das Eigentum von Männern wie Pep Barone und Sam Margolis, und er war mit Ash Resnik befreundet.
Und so hielt der Unterausschuß des Senats für Kartelle und Monopole, nun unter dem Vorsitz des Demokraten aus Michigan Philip A. Hart, im März 1964 eine Anhörung ab. Diese förderte nicht allzuviel zutage, was die Leser der Sportkolumnen nicht auch schon wußten. Jack Nilon sagte aus, Liston sei tatsächlich »ein schwieriger Mann«, ein »Neurotiker«, der sich geweigert habe, hart zu trainieren oder Anweisungen zu befolgen. Wenn er einen Schnupfen gehabt habe, habe Liston »sich aufgeführt, als läge er im Sterben«, und sei im Bett geblieben. Auch sei es richtig, daß Liston in Miami die Gesellschaft diverser zwielichtiger Personen gesucht habe. »Sonny hält eine ganze Menge von Mr. Barone«, sagte Nilon aus. »Er glaubt, Pep Barone bringt ihm Glück. Sonny ist sehr abergläubisch. Bei ihm darf man keinen Strohhut aufs Bett werfen.«
Der andere Nilon-Bruder, Bob, sagte allerdings aus, bei aller Aufsässigkeit Listons, bei aller Unwilligkeit, ordentlich zu trainieren und der moralischen Anleitung anderer zu folgen, hätten seine Betreuer und Geschäftspartner nicht den geringsten Anlaß gehabt zu glauben, ein Rückkampf gegen Muhammad Ali werde nötig. »Zu keiner Zeit sah ich auch nur entfernt die Möglichkeit, daß Cassius Clay Sonny Liston schlagen könnte«, sagte Bob Nilon aus. »Bei meinem Gott – ich habe nicht geglaubt, daß der eine größere Chance gehabt hätte, Sonny Liston zu schlagen, als wenn er mit Grandma Moses im Ring gestanden hätte. Allerdings fand ich, daß Clay ein großes Talent fürs Showbusineß zeigte, das größte seit Jenny Lind.«
Harts Unterausschuß maulte, richtig streng wurde er aber nicht. Die Senatoren förderten keinen Beweis für eine unziemliche Absprache zutage, erst recht keinen dafür, daß Schiebung im Spiel gewesen wäre, und stellten einem zweiten Kampf Ali gegen Liston nichts in den Weg. Das einzige Ergebnis war eine Reihe altvertrauter Vorsätze, die Vorschriften zu verschärfen – nicht gleich natürlich, aber schon sehr, sehr bald.
Liston trainierte für den Rückkampf in einem Karate- und Judoclub im Süden Denvers. Zum ersten Mal seit den Anfangstagen seiner Karriere schien er entschlossen, sich auf einen langen Kampf vorzubereiten. Frühmorgens fuhr er häufig in die Berge und rannte zum Schrein von Mutter Cabrini. Er lief die 350 Stufen zur Statue des Heiligen Herzens hinauf und machte dort Schattenboxen, ganz allein in der kühlen Bergluft. Als es Zeit wurde, sein Camp nach Neuengland zu verlagern, richtete sich Liston in White Cliffs ein, einem schönen alten Country Club in der Nähe des Plymouth Rock, von dessen Golfplatz man einen Blick auf den Atlantik hatte. Jeden Morgen rannte Liston wenigstens fünf Meilen durch die Dünen, nachmittags machte er dann im Turnraum seinen Übungsplan und sparrte. Um seine Beweglichkeit zu steigern, trainierte er sogar mit einem Kampfkunstlehrer. In Miami war Willie Reddish, sein Trainer, stinksauer auf ihn gewesen; er fand es unerträglich, wie sein Kämpfer sein Talent mit Whiskey und Prostituierten verschleudert hatte. Nun aber war Liston geradezu mönchisch gestimmt, wütend, darauf geeicht, Ali zu schlagen. Reddish sah einen neuen Liston, oder wenigstens den alten, den wilden Kämpfer, der Patterson zweimal in weniger als fünf Minuten aus dem Ring gefegt hatte.
Ende Oktober bearbeitete Liston eines Nachmittags einen Sparringspartner namens Lee Williams so gründlich, daß dieser durch den Ring taumelte und eine üble Platzwunde zwischen den Augen hatte, die achtmal genäht werden mußte. Das versetzte Liston, wenn auch nicht Williams, in beste Stimmung. »Blut ist für einen Kämpfer wie Champagner«, meinte Al Lacey, ein alter Trainer. »Es gibt seinem Ego so ein prickelndes Gefühl. Es ist gut für den inneren Kämpfer im Mann. Dempsey hat man gegen Ende seines Trainings alte Herren vorgesetzt, die er verprügeln konnte, und das war immer sehr belebend für ihn.« Andere Sparringspartner Listons gingen wieder, weil, so einer von ihnen, Dorsey Lay, »manche einfach keinen Sinn darin sehen, sich für fünfzig Mäuse am Tag das Gesicht ruinieren zu lassen«.
Ali trainierte nicht weniger hart. Rasch hatte er die Pfunde, die er auf seiner Afrikareise zugelegt hatte, wieder runter. Er begann mit einem Laufpensum, das noch strenger war als zuvor. Ali wirkte auch kräftiger, breiter als in Miami; sein Körper reifte, und dennoch wurde er mit seiner wachsenden Stärke nicht langsamer. Dundee hörte natürlich, daß Liston mit größerer Disziplin arbeitete, doch das schien ihn nicht zu stören. Liston wurde in Boston nicht jünger, so Dundees Gedanke. Auch hatte sich der stilistische Unterschied zwischen den beiden Boxern – ganz zu schweigen vom Altersunterschied – nicht verändert, und auch das Ergebnis würde sich nicht ändern: »Liston kauft einem alles ab. Er ist ein einspuriger Kämpfer. Mit einem zwei- oder gar vierspurigen Kämpfer, der vor und zurück und auch noch seitlich gehen kann, wird er nicht fertig.«
Die Buchmacher hielten den Kampf in Miami für einen Ausreißer. Die Welt, so kalkulierten sie, werde bald wieder ins Lot kommen. Eine Woche, bevor der Kampf im Boston Garden beginnen sollte, stand die Vegas-Quote neun zu fünf für Liston.
Auch die Promoter waren gehobener Stimmung. Im Gegensatz zu der wirtschaftlichen Katastrophe in Miami versprach der jetzige Kampf Profite. Die Fans würden neugierig auf einen Kampf zwischen einem verwundeten Liston und einer aufsteigenden Gestalt sein, die so schnell und laut war wie Ali. Die Vertreter des Boston Garden prophezeiten ein ausverkauftes Haus und eine Rekordeinnahme von fünf Millionen Dollar aus Übertragungs- und Rundfunkrechten. Also überall gute Kunde.
Drei Tage vor dem Kampf, es war Freitag, der 13. November, war Ali im Zimmer 611 des Biltmore und ruhte sich aus. Am Vormittag war er fünf Meilen gelaufen, doch das war alles gewesen. Er sparrte nun nicht mehr. Er hielt sich nun hauptsächlich im Hotel mit seinem wachsenden Troß auf – darunter sein Bruder, der sich nun Rahaman Ali nannte, sowie Bundini, Dundee, Captain Sam und diverse neue Muslim-Freunde. Hin und wieder schauten Prediger und Trabanten wie Clarence X, Louis X, Thomas J., Brother John und Prediger George herein, um guten Tag zu sagen. Es war ein Fastentag der Muslims, aber da der Kampf bevorstand, aß Ali ein bescheidenes Mahl – ein Steak, Gemüse, eine Ofenkartoffel. Danach setzte er einen 16-mm-Projektor in Gang und sah sich einen ausgeliehenen Film an: Der kleine Caesar mit Edward G. Robinson.
Plötzlich, es war kurz nach halb sieben Uhr abends, sprang Ali vom Bett auf, stürzte ins Bad und erbrach sich. Er hatte furchtbare Schmerzen.
»Oh, da stimmt was ganz und gar nicht«, sagte Ali matt, als er wieder herauskam. »Du mußt was unternehmen.«
»Ich rufe einen Arzt, damit die Presse keinen Wind bekommt«, sagte Rahaman.
»Scheiß auf die Presse«, sagte Ali. »Bring mich ins Krankenhaus, Mann. Ich bin richtig krank.«
Captain Sam, Rudy und einige andere trugen Ali auf einer Trage durch die Korridore des Hotels zu einem Lastenaufzug. Sie legten ihm ein Handtuch übers Gesicht, damit die Presse nicht aufmerksam wurde. Sie trugen ihn durch einen Wäscheraum zu einem Nebenausgang. Binnen weniger Minuten war Ali in einem Krankenwagen, einem kastenartigen Fahrzeug, das eher wie ein Eiswagen aussah, unterwegs zum Boston City Hospital. Als die Ambulanz im Krankenhaus eintraf, war schon ein Fotograf vom Boston Herald da, den Fotoapparat im Anschlag. Ein Kader der Fruit of Islam überzeugte ihn, daß es besser war, es sein zu lassen.
»Weg da!« brüllte Louis X. »Hier kommt keiner durch. Wer’s versucht, kriegt was ab.«
Die Ärzte entdeckten rasch den Grund von Alis Schmerzen: eine Schwellung von der Größe eines Eis in den rechten Eingeweiden, ein gefährlicher Zustand, bekannt als Brucheinklemmung. Hätte Ali länger gewartet, wäre der Bruch lebensbedrohlich geworden; eine sofortige Operation war unumgänglich.
Während er darauf vorbereitet wurde, beruhigte ihn eine Krankenschwester, so gut sie konnte: »Denken Sie jetzt nur daran, daß Sie der Größte sind.«
»Heute abend aber nicht«, sagte er.
Der Operateur meinte, es sei jammerschade, einen so herrlichen Körper aufzuschneiden, doch es gebe keine andere Wahl. Eine Menge Leute war jetzt im Krankenhaus, darunter sämtliche Betreuer Alis. Dundee war im Kino gewesen, wo er sich die Übertragung eines College-Football-Spiels angesehen hatte; dort wurde er auch benachrichtigt. Er hetzte ins Krankenhaus, und als er von einem lokalen Fernsehsender interviewt wurde, weinte er. Bundini sagte zu einem Reporter, den Blick auf Dundee: »Ich wünschte, die Black Muslims könnten Angelo jetzt sehen. Das sind Tränen, echte Tränen der Liebe eines Weißen für einen Neger. Die glauben, so was kann es gar nicht geben. Das sollte ihnen eine Lehre sein.«
Als die Nachricht von Alis Krankheit und der unausweichlichen Verschiebung des Kampfs durchsickerte, verbreiteten sich Gerüchte, Ali sei vergiftet worden. Das gehörte alles zum Krieg zwischen der Nation of Islam und den Anhängern Malcolm X’. Ali täusche auf Anweisung von H. L. Hunt oder Robert Kennedy oder Elijah Muhammad eine Verletzung vor. Es sei die Mafia. Ali selbst habe sich den Bruch zugefügt, weil er Angst vor Liston habe.
Geraldine Liston hörte die Nachricht im Fernsehen, und alle im Camp hörten sie aufkreischen: »Chaaaarles! Komm schnell! Weißt du, was der Junge gemacht hat?«
Als Sonny die Nachricht verdaut hatte, köpfte er eine Flasche Wodka und machte sich einen Screwdriver. Das Training war nun offiziell beendet. »Wenn Clay nicht so rumlaufen würde«, sagte Liston, »dann wär jetzt auch nichts mit ihm. Wenn er den Mund aufmacht, geht eine Menge Wind rein. Davon hat er auch den Bruch gekriegt. Tut mir leid, es hätte schlimmer kommen können. Es hätte mich treffen können.« Doch trotz seiner Witzeleien war Liston am Boden zerstört. Er war in bester körperlicher Verfassung, und niemand konnte sagen, ob er noch einmal die Kraft oder die Disziplin aufbrachte, von vorn anzufangen. Die ganze Nacht hindurch murmelte Liston vor sich hin: »Dieser blöde Idiot. Dieser blöde Idiot.«
Der Promoter Sam Silverman sollte Hunderttausende Dollar verlieren. Seine Reaktion auf die Nachricht von Alis Bruch unterschied sich kaum von der Listons. Er goß sich einen großen Bourbon ein.
Der Rückkampf wurde auf den 25. Mai 1965 verschoben.
Ende 1964 hatte Malcolm X allen Grund zu der Annahme, daß er ein weiteres Jahr nicht überleben würde. Die Nation of Islam hatte ihm den Krieg erklärt; verschiedene Prediger verkündeten dies überall, von den Kanzeln in Chicago und Boston bis zu den Seiten von Muhammad Speaks. Malcolm traf alle nur möglichen Vorsichtsmaßnahmen. Als er in ein Fernsehstudio in New York ging, um ein Interview zu geben, war das Gebäude von Männern mit Schrotflinten bewacht. Bevor er auf Sendung war, rief er seine Frau in ihrem Haus in Queens an und sagte: »Laß die Dinger bei der Tür und laß keinen rein, bis ich komme.« Sechs Wochen später, am Valentinstag 1965, wurde auf Malcolms Haus eine Brandbombe geworfen. Die ganze Familie, Malcolm, Betty und ihre vier Töchter, entkamen ohne ernsthafte Verletzungen. Während das Feuer im Haus wütete, stand Malcolm auf der Straße, barfuß und im Schlafanzug, eine 25-mm-Pistole in der Hand. Er war wütend, aber nicht überrascht. Seit Monaten hatte Malcolm immer wieder gehört, die Nation habe Todeskommandos auf ihn angesetzt. Es gab Gerüchte von Autobomben und Killern; die Artikel in Muhammad Speaks bestätigten nur, was er schon wußte. Malcolm glaubte sogar, daß Elijah Muhammads Leute mit dem Klan und der amerikanischen Nazipartei zusammenarbeiteten, um ihn loszuwerden. Am 18. Februar rief er das FBI an – diejenige Behörde, die ihn mit solchem Eifer und über so lange Zeit überwacht und schikaniert hatte – und sagte, es gebe ein Mordkomplott gegen ihn.
»Jetzt ist die Zeit für Märtyrer da«, sagte er zu dem Fotografen Gordon Parks. »Und wenn ich denn einer sein soll, dann für die Sache der Bruderschaft.«
Am 21. Februar sollte Malcolm im Audubon Ballroom im Manhattaner Stadtteil Washington Heights eine Rede halten. Nachdem er in einem Hinterraum kurz seinem Ärger und seinen angegriffenen Nerven Luft gemacht hatte, vorgeblich, weil keine Vorredner bereitstanden, ging Malcolm hinaus ans Rednerpult und begann mit dem traditionellen islamischen Gruß. Während die Menge in gleicher Weise antwortete, zündete ein Fahrer der Moschee Nr. 7 in Newark eine Rauchbombe und schrie: »Nimm die Hand aus meiner Tasche!« Während die meisten im Publikum sich danach umdrehten, kauerten sich drei Bewaffnete vor der Bühne hin.
»Halt!« brüllte Malcolm.
Dann fielen Schüsse. Malcolm wurde von mindestens einer Schrotladung getroffen und starb fast auf der Stelle. Er war neununddreißig Jahre alt. Ein Schütze, Talmadge X Hayer, wurde festgenommen, die beiden anderen entkamen.
Ein paar Stunden nach den Schüssen brannte es in Alis Wohnung in der South Side von Chicago. Der Brand wurde als Unfall dargestellt. »Da hat eine Tagesdecke auf dem Fußboden Feuer gefangen«, sagte Ali gegenüber der Presse. »Elijah warnte vor schlechter Publicity und sagte, das würde die schwachen Anhänger auf die Probe stellen. Es werden weitere Tests kommen, und die wahren Gläubigen werden überleben. Die Weißen haben alle Flugzeuge und alle Kugeln, aber ich habe keine Angst vor ihnen. Warum sollte ich da Angst vor den Schwarzen haben?« Zwei Tage danach explodierte eine Bombe vor der New Yorker Moschee der Nation, und in dem anschließenden Feuer brannte die Moschee vollständig nieder.
Weder Elijah Muhammad noch Muhammad Ali zeigten sich über Malcolms Tod befriedigt, aber Anteilnahme drückten sie auch nicht aus. »Malcolm X war mein Freund, und er war der Freund aller, solange er Mitglied der Nation war«, sagte Ali. »Ich möchte jetzt nicht über ihn sprechen. Wir waren alle schockiert darüber, wie er getötet wurde. Elijah Muhammad hat bestritten, daß die Muslims verantwortlich dafür waren. Wir sind nicht gewalttätig. Wir haben keine Waffen.«
»Malcolm starb, wie er gepredigt hat«, sagte Elijah Muhammad am 26. Februar auf einer Versammlung in Chicago. »Er predigte Gewalt, und an Gewalt ist er nun zugrunde gegangen.«
Nachdem Ali sich von seiner Operation erholt hatte, trainierte er schon mal ein wenig in Miami und beschloß dann, am 1. April nach Neuengland abzureisen. Es war vorgesehen, mit seinem Bus von Miami zum Trainingszentrum in Chicopee Falls, Massachusetts, zu fahren. Zusätzlich zu der zwölf Personen umfassenden Entourage, zu der seine Sparringspartner Cody Jones und Jimmy Ellis, seine Frau Sonji und diverse Freunde, Köche und Adjutanten gehörten, lud Ali auch noch ein paar Journalisten ein: Edwin Pope vom Miami Herald, Mort Sharnik und George Plimpton von der Sports Illustrated sowie Bud Collins vom Boston Globe. Alle versammelten sich vor Alis Haus in Nordwest-Miami und warteten darauf, daß der Champion fertig wurde.
»Wir brauchen keine Karte«, sagte Ali zu ihnen. »Wir richten nur den alten Bus nach Norden und sind wie der Wind in Boston.«
Sonji kam aus dem Haus und unterbrach ihren Mann in seinem Monolog.
»Ali«, sagte sie, »hast du die Sachen für die chemische Reinigung erledigt?«
»Alles abgeschickt.«
»Und meine Schuhe reparieren lassen?«
»Erledigt.«
»Dann trag jetzt den Müll raus.«
Ali legte einen Finger an den Mund.
»Champs tragen keinen Müll raus«, protestierte er, fügte sich aber doch.
Als der Bus dann mit destilliertem Wasser, Soda und Hühnchen beladen war, stiegen alle ein, und es ging los Richtung Sunshine State Turnpike. Der Bus war noch immer mit Alis Werbeslogans geschmückt – »World’s Most Colorful Fighter« und so weiter –, drinnen aber wies er keine Besonderheiten auf. Die Hälfte der Sitze war kaputt. »Vom Moment der Abreise an war die Atmosphäre wie in einem altmodischen Zirkuswagen«, sagte Pope, »und Muhammad war natürlich die große Attraktion.« Ali saß oft am Steuer (eine etwas beängstigende Angelegenheit, besonders wenn er den Bus auf siebzig oder achtzig Meilen pro Stunde beschleunigte, sich dabei auf dem Sitz umdrehte und Vorträge hielt). Manchmal überließ Ali das Fahren auch einem aus dem Troß und gab seinen Auftritt ohne das Handicap, das Steuer festhalten zu müssen. Am Anfang der Fahrt stellte er sich in den Türgraben des Busses und gab, wobei er sich mühsam im Gleichgewicht hielt, einen Step in seinen Arbeitsstiefeln, während Howard Bingham »The Darktown Strutter’s Ball« sang.
»Ich muß zugeben«, sagte Ed Pope, »daß ich Ali vor dieser Busfahrt nicht verstanden hatte, obwohl ich in Miami oft mit ihm zusammen war. Er wirkte abweisend und seltsam auf mich. Aber in dem Bus bekam ich einen Eindruck davon, wie nett er sein konnte und wie komisch er war, immer komisch.«
Abends hielten sie in Sanford, Florida, Bundinis Heimatstadt. Bundini erzählte allen, als er klein gewesen sei, hätten die Leute im Schwarzenviertel der Stadt, Goose Hollow, an den Abenden, wenn Joe Louis kämpfte, Lautsprecher in die Kiefern gehängt, um die Übertragung zu hören.
Dann fuhren sie weiter, immer weiter nach Norden in die Nacht, bis Bundini gegen elf verkündete, er habe nun furchtbaren Hunger. »Essen wir irgendwo was«, sagte er. »Ich hab Hunger.« Sie machten Halt in Yulee, unweit von der Grenze zu Georgia, vor einem alten, halb verfallenen Imbißlokal an der Straße. Bundini und die vier weißen Journalisten stiegen aus dem Bus, die anderen blieben sitzen.
»Jetzt seht ihr gleich, wie ein Mann sich der Wirklichkeit stellt«, sagte Rahaman.
»Ich könnte nicht willkommen sein«, sagte Ali zu Bundini, »und überhaupt halte ich nichts davon, die Integration zu erzwingen. Aber geh du mal, Jackie Robinson.«
Bundini war in Florida aufgewachsen, aber nach so vielen Jahren im Ausland und im Norden glaubte er, er könne einen Zwischenfall vermeiden. Doch der Geschäftsführer des Imbisses erklärte ihnen brüsk, es gebe eine abgetrennte Ecke, ein Fenster »nach hinten«, wo sie etwas zu essen bekommen könnten, wenn sie unbedingt zusammen essen wollten.
»Sie meinen, der Weltmeister kann nicht wie jeder andere auch bedient werden, wenn er hier reinkommen möchte?« fragte Bundini.
»Genau.«
»Ist diese Diskriminierung nicht ungesetzlich?« sagte Bud Collins.
»Nicht in Nassau County«, antwortete der Geschäftsführer.
»Gehört dieses County nicht zu den Vereinigten Staaten?«
»Noch nicht.«
Ali ging hinein, packte Bundini am Kragen und fing an, herumzuschreien. »Was ist los mit dir – du blöder Idiot! Ich hab dir gesagt, du sollst ein Muslim sein. Dann gehst du auch nicht da hin, wo du nicht erwünscht bist. Du verschwindest hier, Nigger! Du bist hier nicht erwünscht!«
Ali hörte nicht auf, redete bis zum Bus auf Bundini ein. Die Journalisten sahen sich das verblüfft an. Bundini war den Tränen nahe.
»Der hat dich vorgeführt, Bundini. Der hat dich vorgeführt!«
Der Bus fuhr weiter, doch Ali ließ nicht locker. Er verlangte von Bundini, daß er zugab, daß er endlich, endlich der Wirklichkeit ins Auge gesehen hatte, brüllte »Onkel Tom! Tom! Tom!« und schlug ihm mit einem Kissen ins Gesicht.
Bundini konnte nur noch matt antworten: »Ich bin ein freier Mann. Um mein Herz sind keine Sklavenketten.«
Bundini weinte nun; Plimpton fand, Bundinis Gesicht ähnele der traditionellen Maske der Tragödie. Als Ali schließlich sah, wie fertig Bundini war, beruhigte er ihn und scherzte mit ihm, bis sie wieder Brüder waren.
Alis wackliger Bus hielt bis Fayetteville, North Carolina, durch, wo er den Geist aufgab und stehengelassen werden mußte. Die Gruppe mußte die Reise per Trailways fortsetzen.
»Mein armer kleiner roter Bus«, sagte Ali. »Du warst der allerberühmteste Bus, den es auf der Welt je gegeben hat.«
Fünfzig Stunden später erreichten sie Chicopee Falls.
»Ich bin Cassius Clay«, verkündete Muhammad Ali am Empfang des besten Motels der Stadt. »Geben Sie mir die Sechzig-Dollar-Suite.«
»Aber da ist schon jemand drin«, sagte der Mann.
»Na, dann holen Sie ihn raus. Hier ist der Größte.«
Anfang Mai, es waren nur wenige Wochen bis zum Kampf, beschloß die Boxbehörde von Massachusetts in einer seltsamen Anwandlung von Moralismus, den Kampf in ihrem Staat nicht stattfinden zu lassen, da man fürchtete, sich bei Promotern möglicherweise mit zweideutigen Referenzen und vielleicht (was wußte man schon?) organisiertem Verbrechen zu infizieren. In die Bresche sprangen Behördenvertreter von Maine, die auf die Publicity und das Geld scharf waren. Sie boten St. Dominic’s an, eine Schulhockey-Halle in der verarmten Textilstadt Lewiston. Die Stadt liegt fünfzig Kilometer nördlich von Portland und verströmt nicht sonderlich viel Glamour. Die 41 000 Einwohner waren überwiegend Franko-Kanadier; es gab genau zwei Hotels und ein Nachtlokal. Henry Hollis vom Hotel Hollis’ Leopard Room mietete für den Mai noch eine zusätzliche Stripperin an. »Wir nennen sie Tänzerinnen«, sagte er. »Das klingt besser. Die Stadt ist klein. Sie kann sich nur eine Strip… äh, Tänzerin leisten.«
In der St. Dominic’s-Halle war nur Platz für 5000 Seelen. Seit dem Unabhängigkeitstag 1923, als Jack Dempsey gegen Tommy Gibbons in Shelby, Montana, kämpfte, hatte es einen kleineren Austragungsort für einen Titelkampf im Schwergewicht nicht gegeben. Shelby war ein heruntergekommenes Kuhdorf mit 500 Einwohnern. Dempseys Manager Jack »Doc« Kearns überredete die Stadtväter, Dempsey eine Garantiesumme von 300 000 Dollar im voraus zu zahlen (Gibbons bekam nichts). Nur 7000 Zuschauer kamen, und Dempsey lieferte einen erbärmlichen Kampf ab, tat gerade so viel, daß es für einen Punktsieg nach fünfzehn Runden reichte. Als der Kampf vorbei war, flohen Kearns und Dempsey in einem Zug, den Kearns für den Fall einer solchen Katastrophe bereitgestellt hatte.
Doch während der Dempsey-Kampf Shelby praktisch ruinierte, ging Lewiston kein großes Risiko ein; das meiste Geld für den Ali-Liston-Kampf kam ohnehin aus Medienrechten. Es war sogar von Vorteil, den Kampf in Maine auszutragen. Nun würde Massachusetts nicht von der Direktübertragung ausgespart sein.
Der vierundzwanzigjährige Bürgermeister von Lewiston fand Boxen zwar abgeschmackt, glaubte aber, die Publicity werde von unschätzbarem Wert sein. Er merkte bald, daß sein ruhiges Städtchen jetzt im Zentrum einer eher morbiden Aufmerksamkeit stand: düstere Attentatsgerüchte waberten durch jede Zeitung des Landes. Von der Polizei, den Reportern, den Städtern, den Boxcamps wurden alle erdenklichen Gerüchte in die Welt gesetzt, nicht zuletzt auch von Harold Conrad, jenem unverwüstlichen Publizisten, der dem Ereignis nur zu gern eine Aura des Bedrohlichen verlieh, um desto mehr Karten für die Kinos, in denen der Kampf übertragen wurde, zu verkaufen. Einem Gerücht zufolge hatten die Anhänger Malcolm X’ ein Killerkommando in einem roten Cadillac nach Lewiston in Marsch gesetzt, um Ali zu töten, möglicherweise im Ring, möglicherweise aber auch schon vorher. Jimmy Cannon griff das Gerücht auf, nachdem er es von Conrad gehört hatte, und brachte es groß in seiner Kolumne. Das wiederum veranlaßte natürlich den Sportredakteur der New York Post, Ike Gellis, zum Hörer zu greifen und bei Milton Gross anzufragen, wo denn seine Mord-und-Totschlagsgeschichte bleibe. Die komme schon noch, beteuerte Gross, und er habe ja noch nicht mal die halbe Geschichte gehört.
Einem anderen Gerücht zufolge hatte die Nation of Islam gedroht, Liston umzubringen, sollte er sich nicht freiwillig auf die Matte legen. Listons Betreuer Joe Pollino sagte Jack McKinney gegenüber, Liston habe tatsächlich Besuch von zwei Black Muslims bekommen, und danach habe Liston nahezu »katatonisch« gewirkt. McKinney, der diesmal nicht in Listons Camp in Neuengland war, sagte: »Sonny hatte mit Thad Spencer und Amos ›Big Train‹ Lincoln gesparrt, und er hatte ihnen die Scheiße aus dem Leib geprügelt. Aber nach diesem Besuch war Sonny ein Zombie, und die zwei Sparringspartner zerlegten ihn. Schließlich sagte Joe zu ihnen, er bezahle ihnen das Doppelte, wenn sie Sonny nur gut aussehen lassen würden.« Viele andere Kolumnisten jedoch fanden den Gedanken, Liston könne von den Muslims eingeschüchtert worden sein, lächerlich. »Sonny hatte doch die verdammte Mafia in seiner Ecke«, sagte Larry Merchant, damals noch bei der Philadelphia Daily News. »Warum sollte er vor zwei Kerlen mit Fliege Angst haben, wo er doch das Produkt der härtesten Jungs im ganzen Land war?«
Die weißen Reporter in der Stadt wurden wegen der neuen und unübersehbaren Präsenz der Muslims um Ali nervös. Cannon und Gross und selbst manche der jüngeren Reporter fanden die Muslims mit ihren Fliegen und dem stahlharten, theatralischen Blick der heiteren Karnevalsatmosphäre, die sie von einem Titelkampf im Schwergewicht erwarteten, wenig zuträglich. Sogar der stets so gefällige Angelo Dundee wurde nervös. Einmal ging er zu einer der Muslim-Frauen in Alis Camp, um sich bei ihr zu bedanken, daß sie ihm ein Hemd genäht hatte; dabei legte er der Frau die Hand leicht auf den Arm. Rahaman Ali rief Dundee streng zu sich.
»Kommen Sie mal mit«, sagte er. »Legen Sie nie wieder die Hand auf eine der Schwestern.«
»In Miami hielten sich die Black Muslims noch ziemlich im Hintergrund, aber in Lewiston waren sie ungeheuer präsent«, erinnerte sich Robert Lipsyte. »Überall sah man diese hochgewachsenen, kräftigen, nüchternen Muslims mit dem leuchtenden Blick. Die haben sogar versucht, den Reportern für ein Interview mit Ali Geld rauszuleiern. Die meisten waren ehemalige Sträflinge, weil damals viel in den Knästen rekrutiert wurde.«
Als die Reporter immer mehr Berichte über die bedrohliche Atmosphäre schrieben, reagierten die Lewistoner Behörden mit gesteigerten Sicherheitsmaßnahmen. Bei Pressekonferenzen und später auch beim Kampf selbst wurde jeder sorgfältig durchsucht. Melvin Durslag vom Los Angeles Herald-Examiner schrieb, daß die Polizei sogar die Stricknadeln seiner Frau konfiszierte. Der Polizeichef von Lewiston, Joseph Farrand, schickte 250 Beamte auf Streife, darunter Hilfssheriffs, Nationalgardisten und neunzig Mann Reserve aus benachbarten Countys. Am Abend des Kampfs stellte er noch weitere fünfundvierzig Sicherheitsleute bereit. Aus New York traf ein Sondertrupp des Morddezernats ein. Keine Vorsichtsmaßnahme, so schien es, war zuviel. »Ich will nicht, daß die Stadt in die Geschichte als diejenige eingeht, in der der Schwergewichtschampion umgebracht wurde«, sagte Chief Farrand.
Es gab auch Momente von eigenartiger Komik. In Chicopee Falls trainierte Ali in einem Ballsaal im Schine Inn. Der behelfsmäßige Boxraum lag direkt über einer Bowlingbahn, und während des ganzen Trainings wurde Alis Stimme immerzu vom Krachen der Bowlingkugeln und Kegel überlagert. Seine Entourage reichte von abgehärteten Mitgliedern der Black Muslims bis zu dem alten Vaudeville-Komiker Stepin Fetchit. Ali nannte Fetchit seinen »Geheimstrategen«, weil es nämlich hieß, Fetchit sei mit seinen dreiundsiebzig alt genug, um Alis historisches Vorbild Jack Johnson gekannt zu haben. Fetchit, der als Lincoln Theodore Monroe Andrew Perry geboren wurde, weil sein Vater ihn nach vier Präsidenten benennen wollte, fungierte als Aufwärmnummer und Conférencier. Fetchit hatte in Dutzenden von Filmen von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre mitgespielt, darunter in Dampfschiff an der Flußbiegung und Wem die Sonne lacht. Anfang der zwanziger Jahre, als er in Texas lebte, hatte er sich nach dem Pferd genannt, das dasjenige geschlagen hatte, auf das er seine gesamte weltliche Habe gesetzt hatte. Fetchit hatte beim Film ein beträchtliches Vermögen verdient (»Eines meiner Häuser war so groß, wenn es in der Küche drei Uhr war, war es im Wohnzimmer fünf«), doch Anfang der sechziger Jahre war er in Chicago zum Sozialfall geworden. In den Tagen vor einem großen Kampf streichen die Journalisten verzweifelt um die Camps auf der Suche nach Stimmen und Meinungen. Fetchit hatte, anders als die grimmigen Muslims, immer viel zu erzählen. Vielleicht weil er selbst ein so verschmitzter Schauspieler gewesen war, hatte Fetchit einen Sinn für Alis Wandlungsfähigkeit. »Die Leute verstehen den Champ nicht, aber irgendwann wird er einer der größten Helden des Landes sein«, sagte er zu einem Reporter. »Er ist wie einer in den Stücken, in denen einer im ersten Akt der Schurke ist und sich im letzten dann als der Held erweist. Genauso wird es mit dem Champ sein. Und genauso will er es auch, weil es besser für die Einnahmen ist, daß die Leute ihn mißverstehen.«
In den wissenden Augen der weißen Reporter im Camp war Fetchit auch der Inbegriff des Onkel Tom, der ständig »Yassuh, I’m a-comin’, suh!« (»Ja, Sir, komme schon, Sir!«) sagt. Einmal unterbrach Fetchit Ali bei einer Pressekonferenz, als das Wort »Onkel Tom« fiel: »Onkel Tom war kein minderwertiger Neger. Er war das Kind eines Weißen. Sein wirklicher Name war MacPherson, und er wohnte in der Nähe von Harriet Beecher Stowe. Tom war der erste der Neger-Sozialreformer und Integrationisten. Der minderwertige Neger war Sambo.«
Die Reporter waren verdutzt.
»Was ist los?« brüllte Ali. »Schreibt das auf. Sind eure Stifte gelähmt?«
»Sag’s ihnen, Bruder!« kam der unerwartete Schrei von den Muslims. »Oh, mach’s ihnen klar!«
»In Wahrheit«, erinnerte sich Robert Lipsyte, »war dieser Stepin Fetchit sehr komisch, und er betonte immer wieder, daß sein Kopfkratzen und Füßescharren nur seine Art der Selbstbehauptung war, die verschlagene Höflichkeit des kolonisierten Inders im von den Briten beherrschten Indien.« Ein paar Jahre später trat Fetchit denn auch zur Nation of Islam über.
Für die meisten Zeitungen hieß Ali nach wie vor Clay. Viele Reporter waren mit ihren Redakteuren einer Meinung und hätten nicht im Traum daran gedacht, dieses Thema anzusprechen. Lipsyte hingegen war es peinlich, daß die Times den Champion noch immer Clay (»der zuweilen auch als Muhammad Ali bekannt ist«) nannte, und ging zu Ali, um ihm das zu erklären. Ali tätschelte ihm den Kopf und sagte, er solle sich deswegen keine Sorgen machen.
»Sie sind einfach bloß der kleine Bruder der weißen Machtstruktur«, sagte er.
Wie immer war Ali offen für alle Reporter und Besucher. Eines Tages kam ein junger Olympiasieger in den Boxraum.
»Können Sie mir irgend etwas raten?« fragte Joe Frazier Muhammad Ali.
»Ja«, sagte er. »Nehmen Sie ein bißchen ab und boxen Sie im Halbschwergewicht.«
Als Ali ein paar Tage vor dem Kampf von Chicopee Falls in ein Holiday Inn umzog, das näher an Lewiston lag, erwartete ihn ein Dutzend uniformierter und ziviler Polizisten an der Staatsgrenze und geleitete ihn nach Maine. Ali akzeptierte den Schutz, lachte aber auch darüber. »Ich fürchte nur einen, Allah«, sagte er. »Er wird mich schützen. Weiße, Schwarze, Gelbe, alle lieben mich. Niemand will mich umbringen. Und wenn sie schießen, explodiert ihnen die Waffe in den Händen. Ihre Kugeln werden sich gegen sie selbst wenden. Allah wird mich schützen. Zudem«, meinte Ali, »bin ich zu schnell, um von einer Kugel getroffen zu werden.« Für den Champion war das ja alles schön und gut, doch die Herausgeber des Boston Globe schlossen für ihre fünf Reporter in Lewiston eine Zusatzversicherung ab.
Verglichen mit seinen Mätzchen vor dem Kampf in Miami war Ali hier relativ ruhig. Jedenfalls nach seinen Maßstäben. Er erklärte feierlich, Listons Camp in Poland Springs einen Besuch abstatten zu wollen, überlegte es sich aber anders, als er erfuhr, daß der Hotelbesitzer vom staatlichen Wildgehege zwei Schwarzbären ausgeliehen und am Eingang angekettet hatte.
Ali hatte sich die Pfunde, die er in Afrika angesetzt hatte, natürlich wieder abgearbeitet, dennoch wurde er beim Sparren ziemlich mitgenommen, besonders von Jimmy Ellis. Doch das sollte so sein. Während seiner gesamten Karriere bereitete Ali sich auf größere Kämpfe immer damit vor, daß er seinen Sparringspartnern erlaubte, ihn zu verprügeln, da dies seine Verteidigungskünste und sein Stehvermögen verbessern sollte.
Richtig litt Ali jedoch zu Hause. Seine Beziehung zu Sonji kühlte zunehmend ab. Sonji hatte sich durchaus um die Muslims bemüht, doch sie trug häufig Make-up oder Kleider, die der Masse der Nation-Mitglieder, die nun ständig um Ali herum waren, unpassend erschienen, und Ali war das alles zu peinlich. Einmal beklagte er sich lauthals, als Sonji enge Jeanssachen trug. Ali verlangte, daß sie wieder hineinging und sich etwas Züchtigeres anzog.
Jahre später räumte Ali ein, Sonji sehr geliebt zu haben, und daß ihre Ehe oft glücklich war, besonders, wenn sie allein und nicht den urteilenden Blicken der anderen Muslims ausgesetzt waren. Nachts sang er ihr seinen Lieblingssong vor, Ben E. Kings »Stand by Me«. Dann wiederum konnte Ali die Kluft zwischen ihnen nicht ertragen. Er wurde wütend, wenn sie die Zwänge und Mythologien der Muslims hinterfragte oder ihn darauf aufmerksam machte, wie anders er in Gegenwart Herbert Muhammads und der anderen Muslims war. Einmal schlug er Sonji sogar, was er noch dreißig Jahre später bedauerte. »Das war falsch«, sagte er zu Thomas Hauser. »Das war das einzige Mal, daß ich so was gemacht habe, und hinterher tat es mir mehr leid als ihr. Es tat mir mehr weh als ihr. Ich war jung, zweiundzwanzig, und sie machte Sachen gegen meine Religion, aber das ist keine Entschuldigung. Ein Mann darf nie eine Frau schlagen.«
Doch trotz aller Unruhe, aller Gerüchte um eine Gewalttat und der häuslichen Zwietracht blieb Ali ruhig, obwohl ja auch der Rückkampf mit Liston bevorstand. Als er sein Training vor dem Kampf allmählich auf ein paar Läufe mit Howard Bingham frühmorgens reduzierte, verbrachte Ali die meiste Zeit in seiner Suite im zweiten Stock des Holiday Inn. Eines Nachmittags waren Bundini und Pat Putnam vom Miami Herald bei Ali und Sonji. Bundini war im Badezimmer, Ali lag auf dem Bett. Sonji saß an der Frisierkommode und bürstete sich die Haare. Ein paar Zimmer weiter, auf dem Außengang, waren Polizeiwachen. Plötzlich fiel ein Schuß. »Das war dieser bescheuerte Bundini, der im Badezimmer mit seiner Pistole spielte, die dann losging«, sagte Putnam. »Alle waren angespannt bis in die Haarspitzen, nur Ali nicht. Ali machte Bundini natürlich zur Schnecke, aber dann war’s auch wieder gut. Seine Gedanken waren beim Kampf, nicht bei Killerkommandos.«
Liston trainierte nun in dem Heilbad Poland Springs. Unter den Hotelgästen befanden sich über hundert katholische Priester, die sich zu einer Tagung in der Stadt aufhielten, sowie Teilnehmer an einem gewaltigen Trommel- und Trompetenwettbewerb. Die Boxjournalisten, die glaubten, die Sonne gehe um zehn auf, waren äußerst ungehalten darüber, morgens um sieben von Trommeln und Trompeten geweckt und dann beim Frühstück von unzähligen schwarzgewandeten Männern verstört zu werden. Auch das Poland Spring Hotel selbst beeindruckte sie nicht sonderlich; seine Einrichtung beschwor die verstaubten hölzernen Wirtshäuser aus den Western John Fords herauf. Die »Feuerleiter« bestand aus einem langen Seil in jedem Zimmer. Es gab nur Gemeinschaftsbaderäume.
In Listons Camp wich die Entschlossenheit einer allgemeinen Trägheit; es kam zu Meinungsverschiedenheiten. Liston lieferte sich Brüllgefechte mit Jack Nilon, nicht nur auf dem Zimmer, sondern auch im Foyer; zumeist ging es um Geld. Geraldine Liston sagte Jahre später, daß Sonny für den zweiten Kampf gegen Ali 250 000 Dollar bekam, nie jedoch die 150 000 Dollar, die er noch für den Kampf in Miami bekommen sollte. Liston war in Lewiston sehr schlecht gelaunt.
»Es war alles sehr enttäuschend«, sagte Geraldine Jahre später. »Das Training war schlecht. Es war naß. Es war feucht. Und die kleine Halle, in der sie dann kämpften, war grauenhaft, wissen Sie, und so war Sonny sehr enttäuscht, und ich … ich glaube, er war schon an dem Punkt angelangt, wo er sagte, na egal, ob ich jetzt siege oder verliere, was soll’s. Er war ziemlich niedergeschlagen.«
Wenn Liston Besuch von der Nation of Islam bekommen hatte, machte er kein großes Aufheben davon, und er gab sich alle Mühe, Ali mit Verachtung zu behandeln. Wiederum war er von den Traditionalisten im Schwergewicht umgeben – Louis, Marciano, Walcott, Braddock und Patterson –, und er trainierte auch ganz traditionell. Unter einem spektakulären Kronleuchter und im Sonnenlicht, das grün durch bemaltes Glas fiel, hüpfte er Seil zu Lionel Hamptons »Railroad No. 2«, ein schnelleres Stück als »Night Train«. Für das ungeübte Auge beherrschte er wie üblich seine Sparringspartner, die so tapfer waren, bis zum Ende auszuharren. »Sagt mir nicht, ich habe Angst vor Clay«, sagte Liston einmal beim Training zu Reportern. »Angst habe ich bloß davor, daß er sein großes Maul so weit aufreißt, daß mein Arm drin verschwindet. Ich muß mich rehabilitieren, nachdem ich zugelassen hab, daß dieser Clay mir meinen Titel genommen hat … Den bekehr ich schon – zu einer Leiche.« Sechs Tage vor dem Kampf bezeichnete der Arzt der Maine Athletic Commission Liston als den »fittesten Mann, den ich je untersucht habe«.
Die Ärzte aus Maine waren anscheinend einen relativ niedrigen Fitneßgrad gewöhnt. Die Wahrheit sah nämlich anders aus. Die Verschiebung hatte Liston aus dem Rhythmus geworfen. Angesichts seiner empfindlichen Psyche und seines fortgeschrittenen Alters war es für ihn unerträglich, das, was er mit dem ersten Training geschafft hatte, über Bord zu werfen und nach Alis Bruch noch einmal von vorn anzufangen. Er trank, zumeist J & B, und blieb die ganze Nacht wach. Die Erfahreneren unter den Ringspezis und Reportern im Camp sahen Liston vor ihren Augen altern. Besonders wenn einer der Sparringspartner, Wendell Newton, in den Ring stieg und Alis Schnelligkeit imitierte, wirkte Liston matt. Was würde er gegen den echten tun? Amos »Big Train« Lincoln tat sein Bestes, um Liston aus seiner Lethargie zu wecken, indem er sich ihm offen darbot, doch es half wenig. Und je weiter es mit ihm bergab ging, desto mehr ließ Liston seine Launen auch an den Reportern um ihn herum aus, was Mark Kram von Sports Illustrated zu dem Kommentar veranlaßte: »Liston ist noch immer Liston, sozial primitiv, schrecklich argwöhnisch und der ewige Kindmann.«
Ein Priester in Listons Camp nannte ihn einen »verletzten Mann, einen gedemütigten Mann«. Gil Rogin, der später Herausgeber von Sports Illustrated wurde, hatte für die Zeitschrift, noch als Liston in Massachusetts trainierte, einen ahnungsvollen Artikel geschrieben, in dem er beschrieb, wie Listons Stimmung und Fertigkeiten allmählich zerfielen.
»Man sieht es in seinen Augen«, sagte einer von Listons Sparringspartnern zu Rogin. »Die sind nicht mehr so furchterregend.«
»Einmal bist du der Champ, dann sagen deine Freunde: ›Ja, Champ, dich kann keiner auf der Welt schlagen‹«, sagte Liston einmal, als er und Geraldine vom Einkaufen ins Camp zurückkamen. »Dann bist du nicht mehr der Champ, und du bist ganz allein. Danach reden deine Freunde und die Leute, die sich an dir eine goldene Nase verdient haben, nicht mehr mit dir, sondern über dich, und was sie dann sagen, ist nicht mehr das, was sie am Tag davor gesagt haben.«
Liston wirkte grüblerisch, nachdenklicher und trauriger als je zuvor. In Poland Springs war er die pure Melancholie. Er und Geraldine besuchten einen Friedhof aus dem neunzehnten Jahrhundert unweit des Hotels. Vor einem Grabstein blieben sie stehen; er war für einen Mann namens Richard Pottle und lautete:
So leb denn wohl
Warum soll ich weinen
Wo dein Schlaf
Doch ist so stolz?
Geraldine sagte: »Charles, wir müßten uns mal ein paar Fotos von den Grabsteinen hier besorgen.«
»Wozu?« antwortete Liston. »Du wirst da schon früh genug und lange genug drin sein.«