EPILOG
ALTE MÄNNER AM KAMIN
Berrien Springs, Michigan, 1989. Mit Lonnie.
Drei Monate nach Alis Sieg gegen Patterson begann sein Kampf mit der Regierung der Vereinigten Staaten. Die ohnehin schon komplizierte Geschichte mit seiner Musterungsbehörde wurde noch komplizierter. 1960, als er achtzehn war, hatte er sich in Louisville registrieren lassen. 1962 war er als 1-A eingestuft. Zwei Jahre später, nur wenige Wochen vor dem ersten Kampf gegen Liston, wurde er zur Musterungsbehörde der Armee nach Coral Gables bestellt, wo er sich den körperlichen und schriftlichen Tests unterziehen sollte, die für alle Wehrpflichtigen Pflicht waren. Er bestand den fünfzigminütigen Eignungstest nicht und erreichte dabei einen so niedrigen Wert, daß die Armee seinen IQ mit 78 bewertete.
Anschließend erklärte er schüchtern, er habe nicht nur nicht die Antworten gewußt, sondern auch die Fragen nicht verstanden. Das war eine Demütigung für ihn, doch wie immer versuchte er, das alles mit Humor zu überspielen. »Ich habe gesagt, ich bin der Größte«, sagte er allen. »Nicht der Klügste.« Die Armee stufte ihn auf sechzehn Prozent ein – vierzehn Punkte niedriger als Bestanden – und gab ihm eine 1-Y, untauglich für den aktiven Dienst. Zwei Monate später, Ali war nun Weltmeister, testete die Armee ihn erneut, um sicherzugehen, daß er nicht Unwissenheit vorschützte. Das war nicht der Fall.
Zwei Jahre später, nach dem Kampf gegen Patterson, kam Bob Lipsyte nach Miami, um einige Artikel über Ali zu schreiben und über den Beginn des Frühjahrstrainings zu berichten. »Ich weiß noch, wie ich an dem Morgen in meinem Hotel aufwachte und mir im Fernsehen eine Sitzung des Senatsausschusses für Auswärtige Beziehungen ansah, die ersten wirklich hitzigen Debatten über Vietnam«, erinnerte sich Lipsyte. »Der Vorsitzende war William Fulbright, und er und Senator Wayne Morse nahmen General Maxwell Taylor so richtig in die Zange. Taylor trat mit einer sehr maskulinen Bestimmtheit auf, wie Generale es damals taten. Es war Anfang 1966. Die Stimmung im Land war noch immer gegen die Peaceniks und für den Krieg. Sie war noch nicht umgeschlagen. Doch in dieser Debatte spürte man, daß etwas in Bewegung geraten war.«
Am frühen Nachmittag fuhr Lipsyte zu Alis Haus, einem flachen Betonbau in einem schwarzen Viertel. Die beiden Männer setzten sich hinaus auf den Rasen auf Plastikstühle. Ali war im Training, hatte an dem Tag aber schon Schluß gemacht. Die Schule war gerade aus, und Ali betrachtete die vorbeigehenden High School-Mädchen und kommentierte sie auf harmlos-beiläufige Art und Weise. Ein paar von Alis Muslim-Freunden waren da – Captain Sam und einige andere –, und einer kam heraus und sagte, Ali werde am Telefon verlangt. Es war eine der Nachrichtenagenturen. Der Reporter sagte Ali, die Armee habe während der Erhöhung ihrer Truppenstärke in Vietnam die Kriterien geändert; seine Note bei dem Eignungstest sei nun gut genug. Ali sei wiederum neu eingestuft worden. Er sei jetzt wieder 1-A. Er könne bald mit einem Anruf von seiner Musterungsbehörde rechnen. Ob er dazu etwas sagen wolle?
»Ali kam wieder heraus, und seine Stimmung war vollkommen umgeschlagen. Er schäumte vor Wut«, sagte Lipsyte. »Bis zu dem Moment dachte ich, wie schön es doch war, daß man in dieses Refugium eintreten konnte, wo die Zeit stillstand, wo nichts etwas mit dem Krieg zu tun hatte. Ich war bei der Armee gewesen, in Fort Dix, wo ich über tapfere Köche in New Jersey schrieb. Ich hatte die Abschiedsrede beim Schreibstubenlehrgang gehalten. Da war ich schon Reporter bei der Times. Meine Artikel waren so brillant, daß der Philadelphia Inquirer mir eine Stelle anbot. Ich verstand den Krieg eigentlich gar nicht. Ich hatte so eine Ahnung, daß Fulbright recht hatte und der Krieg ein Unrecht war, aber so ganz stand ich da noch nicht dahinter. Ich war achtundzwanzig und machte eine Karriere als Sportreporter.
Ali wußte noch weniger über den Krieg als ich. Der kam auf seinem Radarschirm überhaupt nicht vor. Als er immer wieder hineinging und Anrufe entgegennahm und dann die Übertragungswagen angerollt kamen, begann der Muslim-Chor zu glucksen. Sie waren alle in der Armee gewesen. Sie waren alle nach einer schweren Zeit zu den Muslims gestoßen, nach dem Knast, nach der Armee, und sie erzählten nun Ali: ›Klar, die Weißen machen mit dir, was sie wollen.‹ Sie sagten ihm, daß ihm irgend so ein Rassisten-Sergeant eine Handgranate in die Hose stecken und ihm die Eier wegfetzen würde.«
Die Anrufe kamen jetzt nonstop. Es war ein großes Thema; Erinnerungen an andere junge Sportler und Popstars, die man auf dem Höhepunkt ihrer Karriere einberufen hatte, wurden wach, an Joe Louis, Ted Williams, Elvis Presley. Doch hier lag die Sache anders, hier ging es um Vietnam, und das war viel undurchsichtiger, viel verwirrender. Mittlerweile war er es gewohnt, zur Rassenpolitik befragt zu werden, nun aber hörte er neue Fragen: Was halten Sie von LBJ? Wie stehen Sie zur Einberufung? Was halten Sie vom Krieg? Was vom Vietcong? Eine Weile stockte Ali.
»Und plötzlich traf er genau den Ton«, erinnerte sich Lipsyte.
»Mann«, sagte Ali schließlich zu einem Reporter, »I ain’t got no quarrel with them Vietcong« – »Ich hab keinen Ärger mit den Vietcongs.«
Dieser Satz kam so schnell herausgeschossen, daß Lipsyte, der sich gerade zum Schreiben hinsetzte, ihn gar nicht mitbekam. »Keine Frage, die Geschichte hab ich verbockt.« Doch genügend Zeitungen und Fernsehstationen brachten das Zitat, so daß es sogleich zum geflügelten Wort wurde. Schließlich brachte es auch die New York Times. Wie schon davor und auch immer wieder in der Zukunft war Ali der Hauptdarsteller in seinem eigenen improvisierten amerikanischen Drama. Mochte er auch nicht einmal in der Lage gewesen sein, Vietnam auf der Landkarte zu finden, und auch so gut wie nichts über die Kriegspolitik wissen, reagierte er doch wie im Ring mit Schnelligkeit und Witz, als er mitten in die nationale Agonie hineingestoßen wurde: I ain’t got no quarrel with them Vietcong.
»Es war der Augenblick für Ali«, sagte Lipsyte. »Für den Rest seines Lebens sollte er wegen dieses Satzes, der wie eine vorbereitete Erklärung wirkte, jedoch gänzlich improvisiert herauskam, geliebt und gehaßt werden.« Wie schon davor und auch danach hatte Ali seine Gabe, intuitiv und schnell zu handeln, unter Beweis gestellt, und diesmal handelte er auf eine Weise, die seine ganze Ära charakterisierte, mit ihrem Widerstand gegen die Obrigkeit, ihrem Beharren darauf, daß Loyalität dem Land gegenüber weder automatisch noch absolut war. Seine Rebellion, die als eine rassische begonnen hatte, hatte eine neue Dimension erfahren.
In den kommenden Tagen und Wochen standen Alis Telefone nicht still; nicht nur Reporter riefen an, sondern auch Leute, die ihren Haß ausdrücken wollten, die ihm den Tod wünschten. Andere riefen aber auch an, um ihn ihrer Unterstützung zu versichern, darunter der britische Philosoph und Pazifist Bertrand Russell.
»In den kommenden Monaten«, schrieb Russell Ali später, »werden die Männer, die Washington beherrschen, ohne jeden Zweifel versuchen, Ihnen in jeder Weise, die ihnen zur Verfügung steht, zu schaden, doch ich bin mir sicher, daß Sie wissen, daß Sie für Ihr Volk und für die Unterdrückten überall in mutigem Widerstand gegen die amerikanische Macht gesprochen haben. Man wird versuchen, Sie zu zerbrechen, weil Sie das Symbol einer Kraft sind, die sie nicht zerstören können, nämlich des erwachten Bewußtseins eines ganzen Volkes, das sich nicht mehr abschlachten und mit Furcht und Unterdrückung erniedrigen lassen will. Sie haben meine rückhaltlose Unterstützung. Rufen Sie mich an, wenn Sie nach England kommen.«
Ungefähr um die Zeit, als Ali Russells Brief erhielt, zog die Regierung seinen Paß ein. Von da an bezog Ali eine scharfe politische Stellung und zog von einem Collegecampus zum nächsten, um Reden gegen den Krieg zu halten. Er lernte mehr über Vietnam und vertiefte seine Kenntnis dessen, was mit seinem Land wie auch mit ihm selbst geschah. Im Namen einer Regierung, die kaum die Menschlichkeit seines eigenen Volkes anerkannte, wollte er keine Vietnamesen töten. Binnen kurzem kostete Ali die Entscheidung, nicht zu dienen, alles: seinen Titel, seine Popularität bei Millionen von Menschen und zweifelsohne auch Millionen von Dollar. Die Mitglieder der Louisville Sponsoring Group wußten, daß ihre Zeit als Alis Management-Team abgelaufen war, aber dennoch eröffneten sie ihm rasch bequeme Wege, die Ali eine Alternative zum Armeedienst ermöglichten: die Reserve, Dienst bei der Nationalgarde. Wenn es zum Schlimmsten kam, so glaubten sie, würde die Armee Ali auf Schaukämpfe für die Truppe herumschicken. Damit, so glaubten sie, könnte Ali, wie zuvor schon Joe Louis, sein öffentliches Image aufpolieren, ohne sein Leben und sein Vermögen aufs Spiel zu setzen. »Doch es spricht für ihn, daß er das alles ablehnte«, sagte der Anwalt der Louisville Group, Gordon Davidson. »Dabei ging es ihm so richtig ums Prinzip, und er wollte es sich dabei auch nicht leicht machen. Er hatte dieses Bild von sich nun einmal geschaffen, und daran hielt er sich auch.«
Natürlich wurde Ali sogleich von Jimmy Cannon, Red Smith oder Arthur Daley angeprangert, all jenen Kolumnisten, deren Vorstellung vom richtigen Verhalten eines Champion in der Zeit Joe Louis’ geprägt worden war. »Ali gibt ein ebenso übles Bild ab wie all jene ungewaschenen Strolche, die gegen den Krieg demonstrieren«, schrieb Red Smith. Verschiedene Senatoren und Kongreßabgeordnete erklärten Ali zum Verräter und zu einem Paria. Selbst die Regierung in seiner Heimatstadt, der Staatssenat von Kentucky, fühlte sich bemüßigt, in einer Erklärung festzustellen, daß er »Schande gebracht hat über all jene loyalen Kentuckyer und die Namen der Tausenden, die während seiner Lebzeiten ihr Leben für das Land gegeben haben«.
Im Verlauf des nächsten Jahres kämpfte Ali gegen eine Reihe von Herausforderern – George Chuvalo, Henry Cooper, Brian London, Karl Mildenberger, Cleveland Williams, Ernie Terrell –, während sein Einberufungsdrama ablief. Alis Sieg über Terrell am 6. Februar 1967 war besonders brutal, nicht zuletzt deshalb, weil Terrell sich wie Patterson weigerte, Ali beim richtigen Namen zu nennen. Terrell beschuldigte Ali, mit dem Daumen zu schlagen und im Clinch schmutzig zu kämpfen, was Ali bestritt. Während Ali Terrell seine Jabs um die Ohren schlug, rief er immer wieder: »Wie heiße ich? Wie heiße ich?« Für die Kolumnisten, die Alis Haltung zu Vietnam erzürnte, wurde der Terrell-Kampf, der nach fünfzehn Runden mit einem klaren Punktsieg für ihn endete, zur Metapher für die Schlechtigkeit des Champions. »Dieser Mann ist, wie die Black Muslims behaupten, einer ihrer Prediger. Aber was für ein Geistlicher ist das denn?« schrieb Jimmy Cannon in einem besonders perversen Artikel im New York World-Journal & Telegram. »Seine Meinung deckt sich mit der von Leuten, die die Feinde von Priestern sind. Die Black Muslims fordern, daß die Neger in ihren Schranken bleiben. In der Frage der Segregation stimmen sie mit dem Ku-Klux-Klan überein. So hatte es wohl seine Richtigkeit, daß Cassius Clay es Spaß bereitete, einen anderen Neger zu verprügeln. Es war ein großer Spaß, wie wenn man sie mit Hunden hetzt und mit einem Wasserstrahl wegfegt.«
Während der ganzen Zeit wurde Ali vom FBI überwacht, genauso, wie es jahrelang mit Malcolm X und Martin Luther King geschehen war. J. Edgar Hoover bekam regelmäßige Berichte über alles, was Ali tat, von Reisen und Telefonaten bis hin zu seinen Auftritten in Fernseh-Talkshows. In den Augen des FBI war er zu einem größeren subversiven Element geworden, als Jack Johnson es je gewesen war. Seine Rechtsberater machten ihm herzlich wenig Hoffnung; Gefängnis war durchaus im Bereich des Möglichen, das Ende seiner Boxkarriere praktisch Gewißheit. Alis Anwalt, Hayden Covington, sagte zu ihm: »Das riecht nach Ärger, Champ. Das ist anders als jeder andere Fall, den ich bisher hatte. Joe Namath kommt billig davon und kann weiter Football spielen, und George Hamilton bleibt draußen, weil er mit der Tochter des Präsidenten geht, aber bei Ihnen ist die Sache anders. An Ihnen wollen sie ein Exempel statuieren.«
Im Lauf der Zeit, während die Regierung ihn unter Druck setzte, machte Ali seine Haltung klarer und deutlicher. Er werde keine Schaukämpfe für die Armee veranstalten. Er werde nicht ins Ausland gehen. »Warum verlangen sie von mir, eine Uniform anzuziehen und zehntausend Meilen von zu Hause Bomben und Geschosse auf braune Menschen in Vietnam zu werfen, während die sogenannten Negermenschen in Louisville wie Hunde behandelt werden?« sagte er zu einem Reporter von Sports Illustrated. »Wenn ich glauben würde, der Krieg brächte den zweiundzwanzig Millionen meines Volkes Freiheit und Gleichheit, müßten sie mich nicht einziehen. Ich würde gleich morgen von selber kommen. Aber entweder befolge ich die Gesetze des Landes oder die Gesetze Allahs. Ich habe nichts zu verlieren, wenn ich mich zu meinen Ansichten bekenne. Wir sind seit vierhundert Jahren im Gefängnis.«
Am Morgen des 28. April 1967 erschien Ali im Rekrutierungsbüro der US-Army in der San Jacinto Street in Houston, wohin er bestellt worden war, um eingezogen zu werden. Auf dem Gehweg stand eine Gruppe Demonstranten, hauptsächlich Studenten, aber auch ältere Leute, die schon skandierten: »Don’t go! Don’t go! Draft beer – not Ali!« H. Rap Brown, einer der führenden Aktivisten des Student Nonviolent Coordinating Committee, brüllte: »Hep! Hep! Don’t take that step!« Brown reckte die Faust hoch, das Zeichen für Black Power, und Ali antwortete gleichermaßen. Dann ging er hinein, um sich der Einberufung zu stellen.
»Es ist schwer, die Gefühle jener Zeit zu vermitteln«, sagte die Dichterin und Bürgerrechtsaktivistin Sonia Sanchez. »Es war noch die Zeit, als sich kaum Prominente der Einberufung widersetzten. Es war ein Krieg, in dem unverhältnismäßig viele junge Brüder umkamen, und da stand dieser schöne, witzige, poetische junge Mann auf und sagte nein! Das müssen Sie sich einmal vorstellen! Der Weltmeister im Schwergewicht, ein magischer Mann, verlagerte seinen Kampf aus dem Ring heraus in die Arena der Politik und blieb standhaft. Was das für eine Botschaft war!«
Ali und fünfundzwanzig weitere angehende Rekruten wurden aufgefordert, Formulare auszufüllen, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen und dann auf die lange Busfahrt nach Fort Polk, Louisiana, zu warten. Es war früher Nachmittag, als sich die Rekruten in einer Reihe vor einem jungen Leutnant, S. Steven Dunkley, zu einer letzten Formalität aufstellten. Der Offizier rief den Namen eines jeden Mannes und sagte ihm, er solle einen Schritt vortreten – den Schritt in die Streitkräfte. Schließlich wurde Alis Name aufgerufen – »Cassius Clay! Army!« Ali bewegte sich nicht. Er wurde »Ali« genannt, erneut keine Regung. Dann führte ein anderer Offizier Ali in ein Zimmer und belehrte ihn, daß die Strafe für die Wehrdienstverweigerung fünf Jahre Haft sowie ein Geldbuße sei. Ob er das verstehe? Ja. Er verstand. Ali bekam noch einmal die Gelegenheit, auf seinen Namen zu antworten und vorzutreten. Erneut blieb er stehen. Ali war ohne Furcht, ohne die Unruhe jener Minuten, als er sich im Ring aufwärmte, um gleich zum ersten Mal Liston gegenüberzutreten. Schließlich forderte einer der Einberufungsoffiziere Ali auf, eine Erklärung mit den Gründen für seine Verweigerung abzufassen.
»Ich weigere mich, in die Armee der Vereinigten Staaten eingezogen zu werden«, schrieb Ali, »weil ich als Prediger der islamischen Religion beanspruche, davon befreit zu werden.«
Ali trat aus dem Gebäude in einen Schwarm von Reportern. Auch die Demonstranten waren noch da und schrien Ermutigungen. Doch noch Jahre später erinnerte sich Ali auch an eine Frau mit einer kleinen amerikanischen Flagge in der Hand, die schrie: »Du bist auf dem Weg ins Gefängnis! Du gehst auf die Knie und bittest Gott um Vergebung! Mein Sohn ist in Vietnam, und du bist nicht besser als er. Ich hoffe, du verrottest im Gefängnis.«
Alis Weigerung, nach Vietnam zu gehen, berührte junge Leute, insbesondere junge Schwarze, zutiefst. Der Literatur-professor Gerald Early, der sich ausführlich mit der »Kultur des Schlagens« beschäftigt hat, erinnerte sich an diesen Augenblick des Jahres 1967 in seinem Essay »Tales of the Wonderboy«: »Als er verweigerte, empfand ich etwas Größeres als Stolz: Mir war, als sei meine Ehre als schwarzer Junge, meine Ehre als Mensch verteidigt worden. Er war doch der große Ritter, der Drachentöter. Und ich sah mich, den kleinen Slum-Jungen, der ich war, als seinen Lehrling bei der grandiosen Phantasie, dem grandiosen Wagnis. An dem Tag, als Ali den Kriegsdienst verweigerte, weinte ich in meinem Zimmer. Ich weinte um ihn und auch um mich, um meine Zukunft und auch seine, um alle unsere schwarzen Möglichkeiten.«
Ali wurde zu fünf Jahren Haft und zu einer Geldstrafe von 10 000 Dollar verurteilt – die Höchststrafe. Im Juni 1971 rehabilitierte ihn der Oberste Gerichtshof schließlich in einer einstimmigen Entscheidung, doch nachdem er einen Monat nach seiner Verweigerung Zora Folley k. o. geschlagen hatte, sollte er dreieinhalb Jahre nicht mehr boxen – es wären seine besten Jahre als Boxer gewesen. Erst 1974 holte er sich den Weltmeisterschaftstitel zurück, als er George Foreman in Kinshasa an den Seilen überlistete. »Ich schätze, diese Entscheidung kostete ihn zehn Millionen Dollar an Preisgeldern, Nebeneinkünften und so weiter«, sagte Gordon Davidson. Sie kostete ihn auch das Wohlwollen vieler Amerikaner, die glaubten, er sei nur ein reicher junger Mann, der sich um den Militärdienst drücken wolle und dafür als Entschuldigung seine Religion anführe. Doch Ali bedauerte diesen Preis nie. Er sah mit an, wie sein alter Freund aus Louisville, Jimmy Ellis, und danach Joe Frazier seinen Titel errangen. Seinen Titel, den er ersehnt hatte, seit er zwölf war. Doch selbst für einen jungen Mann, der in seinen Ruhm verliebt war, gab es größere Prioritäten. »Ich war entschlossen, ein Nigger zu sein, den die Weißen nicht kriegten«, sagte er gegenüber der Zeitschrift Black Scholar. »Ein Nigger, den du nicht gekriegt hast, weißer Mann. Verstehst du? Ein Nigger, den du nicht kriegst.«
Während Ali gegen die Gerichte kämpfte, fiel sein alter Gegner Sonny Liston allmählich der Vergessenheit anheim. 1966 kaufte Liston ein pastellgrünes Haus am Ottawa Drive in Las Vegas, direkt gegenüber dem sechzehnten Fairway des Stardust Country Club. Zuvor hatte dort der Geschäftsmagnat Kirk Kerkorian gewohnt. Die Listons hatten zwei Cadillacs; einen schwarz-grünen für Sonny, einen pinkfarbenen für Geraldine. Geraldine ließ ihr silbernes Teeservice vergolden. Das brauchte man nicht so oft zu polieren. Im Wohnzimmer hingen zwei Paar Boxhandschuhe: ein bronziertes aus einem der Kämpfe Listons, und ein nerzbesetztes zu Ehren von Geraldine.
Liston erneuerte seine Freundschaft mit Ash Resnik und diversen zwielichtigen Elementen. Er spielte viel Blackjack, und abends trank er entweder in den Kasinos oder zu Hause vor dem Fernseher. Die Polizei in Las Vegas drückte bei ihm stets ein Auge zu, was sie in St. Louis, Philadelphia oder Denver nie getan hatte. Wenn sie ihn in seinem schwarzen Fleetwood anhielten und J & B in seinem Atem rochen, ließen sie ihn nach Hause fahren.
»Uns geht’s hier ziemlich gut, das muß ich sagen«, erzählte Liston einem Reporter von Sports Illustrated. »In keinem Hotel muß ich für nix bezahlen, das erledigen immer die.«
Eine Zeitlang redete Liston davon, den Titel zurückzuholen, die Wahrheit sah aber so aus, daß er nach seinen Kämpfen gegen Ali eine Reihe zweitklassige Boxer besiegte und dann von einem seiner alten Sparringspartner, Leotis Martin, ausgeknockt wurde. In seinem nächsten – und letzten – Kampf trat Liston in Jersey City gegen Chuck Wepner an. Wepner, der »Bayonne Bleeder«, blutete nach dieser Prügelei aus tiefen Wunden, die mit siebenundfünfzig Stichen genäht werden mußten. Die Börse betrug 13 000 Dollar. »Das Dumme war, daß Liston 10 000 Dollar auf einen anderen Kampf – Jerry Quarry gegen Mac Foster – gesetzt und verloren hatte. Zudem schuldete er seinen Betreuern noch 3000«, sagte sein Freund Lem Banker, der mit Sonny zurück nach Hause flog. »Er gab ihnen das Geld in braunen Papiertüten und ging mit Null nach Las Vegas zurück. Genau Null.«
Liston fuhr oft an den Lake Mead, wo er allein in einem kleinen Motorboot saß, Bier trank und die Angel ins Wasser hielt. Die schönsten Augenblicke seiner letzten Tage waren vielleicht, wenn er frühmorgens mit seinem Freund Davey Pearl, einem Ringrichter, der in Jersey City in seiner Ecke gewesen war, lange Läufe unternahm. »Wir waren draußen, rannten im Morgenlicht, auf irgendeinem verlassenen Golfplatz lief die Sprinkleranlage, und ich glaube, damals jedenfalls war Sonny gut in Schuß«, sagte Pearl. »Trotzdem war es bei Sonny so, egal, wie nahe man ihm kam – und wir standen einander sehr nahe –, man hatte immer das Gefühl, daß da was Trauriges war, über das er nicht sprechen wollte.« Liston war ein Mann mit tiefen Beschränkungen, derer er sich auch sehr bewußt war. Als sein alter Freund Father Edward Murphy ihn fragte, warum er sich nicht für die Bürgerrechtsbewegung engagiere, ließ Liston seinen alten Sarkasmus beiseite (»Weil mein Arsch nicht hundesicher ist«) und sagte treffender: »Wenn ich mich engagieren würde, würde ich plötzlich ganz vorn in einem Marsch laufen und müßte was sagen, und dann wüßte ich nicht, was ich sagen soll.« Besonders jetzt, ohne den Glanz des Meisterschaftsgürtels, der alle möglichen Blutegel anzog, war Liston ein einsamer Mann. »Oft, wenn ich mit Sonny Liston zusammen war, sagte er: ›Du magst mich doch, oder?‹, wie ein kleiner Junge«, sagte sein alter Sparringspartner Ray Schoeninger einmal. »Ich sag: ›Klar, ich mag dich.‹ Darauf er: ›Ich mag dich nämlich auch.‹ Ich glaube, wegen seiner schrecklichen Kindheit suchte er einen, der ihn nicht kritisierte und der ihn nicht mit einem Knüppel oder Stock schlug.«
Noch lebenden Freunden zufolge war Liston immer knapp bei Kasse und arbeitete nebenher in seinem alten Job als Geldeintreiber – nun für Kredithaie und möglicherweise auch Drogenhändler. Banker, zu der Zeit einer der erfolgreichsten Spieler der Stadt und ein enger Freund Listons, sagte, er habe in den letzten Wochen des Jahres 1970 einen Anruf vom Sheriff von Las Vegas bekommen, der ihm sagte, Sonny lasse sich mit den »falschen Leuten« ein, und er solle sich nur vorsehen, wenn er nicht in eine Drogenrazzia, die kurz bevorstehe, geraten wolle.
Ende Dezember besuchte Geraldine ihre Mutter in St. Louis. Als sie am 5. Januar 1971 nach Las Vegas zurückkam, fand sie eine Leiche. Sonny lag in Unterwäsche tot auf einer Bank am Fußende ihres Bettes. Sein Körper war aufgedunsen, und an der Nase war geronnenes Blut. Geraldine hatte mit Sonny seit ihrer Abreise nicht mehr gesprochen. Vor der Tür stapelten sich die Zeitungen. Die Polizei schätzte, daß Liston schon ungefähr sechs Tage tot war. Einem Polizeisprecher in Las Vegas zufolge hatte Geraldine ihren Anwalt angerufen, aber möglicherweise zwei Stunden gewartet, bis sie die Polizei verständigt hatte. Die Polizei entdeckte in einem Schränkchen kleine Mengen Marihuana, eine Spritze und einen »Ballon« Heroin, genug für ein paar Schüsse. Neben dem Bett fanden sie auch einen .38er Revolver und ein Glas Wodka auf einem Tisch. Die Autopsie ergab Spuren von Morphium und Kodein eines Typus, der bei der Aufspaltung von Heroin im Körper entsteht, und dennoch gab der Bericht als Todesursache Blutstau in der Lunge und Herzversagen an.
Die verbreitetste Theorie von Listons Tod, sie wird von Freunden und der Polizei vertreten, ist, daß er ermordet wurde, daß er von jemandem, den er verärgert hatte, der ihn beseitigen wollte, einen »goldenen Schuß« bekam, eine tödliche Dosis Heroin. Sergeant Gary Beckwith, ein Polizeibeamter, der als verdeckter Ermittler im Drogenmilieu war, sagte, die Polizei sei mit dem Untersuchungsbericht nie zufrieden gewesen und habe die Möglichkeit untersucht, daß ein ehemaliger Polizist aus Las Vegas in einen Anschlag auf Liston verwickelt gewesen sein könnte. Der betreffende Polizist sei, so Beckwith, auch wegen einiger Einbrüche in der Gegend verurteilt worden. Nach dieser Theorie soll der Beamte Liston im Auftrag Resniks getötet haben, der wütend auf Liston war, weil der sich in einem seiner letzten Kämpfe nicht habe schlagen lassen.
»Wir haben alles Menschenmögliche versucht, das zu beweisen«, sagte Beckwith. »Wir haben diesen ehemaligen Beamten wegen der Einbrüche befragt und versucht, diesen Teil der Geschichte zu untermauern, aber wir konnten nicht den Hauch eines Beweises dafür finden. Ich habe selber Zweifel.«
Harold Conrad unterhielt sich in den Jahren nach Listons Tod mit verschiedenen Mobstern und Cops in Las Vegas, und auch er hörte die Theorie, ein krimineller Cop habe ihn auf Bestellung ermordet. Doch Conrad konnte nur bestätigen, daß Liston das Ende gefunden hatte, das alle immer erwartet hatten, das Ende, das Sonny Liston selbst immer erwartet hatte. »Ich habe mit einem Bekannten im Büro des Sheriffs von Las Vegas gesprochen, und das hat er gesagt: ›Ein schlimmer Nigger. Er hat gekriegt, was er verdient hat‹«, sagte Conrad. »Ich glaub das nicht. Er hatte auch seine guten Seiten, aber ich glaube, er ist schon am Tag seiner Geburt gestorben.«
Liston bekam ein echtes Las Vegas-Begräbnis. Geraldine sagte, Sonny habe immer gesagt, wenn »ihm etwas zustoße«, sei es sein letzter Wunsch, noch ein letztes Mal über den Strip zu gehen. Das Begräbnis begann mit einem Gottesdienst für vierhundert Menschen in der Palm Mortuary. Die Bänke waren gefüllt mit dem Vegas-Adel und Beinahe-Adel: Nipsy Russell, Ed Sullivan, Ella Fitzgerald, Jerry Vale, Jack E. Leonard, Doris Day. Joe Louis verspätete sich ein wenig, weil er gerade am Craps-Tisch war. »Sonny hätte das verstanden«, sagte er, bevor er die Würfel hinlegte. Father Murphy flog aus Denver ein und hielt die Trauerrede. »Wir sollten von den Toten nur gut sprechen«, sagte er. »Sonny hatte Eigenschaften, von denen die meisten nichts wußten.« Ein Chor sang »Just a Closer Walk with Thee«. Die Ink Spots sangen »Sunny«.
Während sich der Leichenzug den Strip entlang bewegte, kamen Spieler aus den Kasinos, in der Sonne blinzelnd, um den Schwergewichtschampion in seinem Stahlsarg das letzte Geleit zu geben. »Die Leute kamen aus den Hotels, um ihn vorbeifahren zu sehen«, sagte Father Murphy. »Sie unterbrachen alles. Sein ganzes Leben lang hatten sie ihn ausgenutzt. Auf seinem Weg zum Friedhof nutzten sie ihn noch immer aus. Er war eben eine Las Vegas-Show von vielen. Gott helfe uns.«
Liston wurde in den Paradise Memorial Gardens bestattet, einer grünen Oase in der Wüste an der Patrick Lane, Ecke Eastern Avenue. Das Grab liegt in der ersten Reihe des »Peace«-Teils. Auf einer dreißig Quadratzentimeter großen Plakette steht: »Charles ›Sonny‹ Liston, 1932–1970. A Man«. Sechsundzwanzig Jahre später ging ein anderer ehemaliger Schwergewichtsmeister und ehemaliger Sträfling, Mike Tyson, in die Paradise Memorial Gardens, um einen Blumenstrauß auf Listons Grab zu legen. Es waren die einzigen Blumen dort, und sie verdorrten rasch in der Frühsommersonne. Tyson kämpfte einige Tage später gegen Evander Holyfield um den Titel. Wenn er sich nicht gerade bis spät in die Nacht Gangsterfilme ansah, legte Tyson hin und wieder eine Kassette ein und sah sich Liston an, wie er zu »Night Train« trainierte. Liston bei der Arbeit zuzusehen, sagte Tyson, sei »orgasmisch«.
»Sonny Liston, mit dem identifiziere ich mich am meisten«, sagte Tyson an einem Nachmittag im Haus Don Kings am Rande von Las Vegas. »Das klingt vielleicht morbid und hart, aber ich identifiziere mich schon ziemlich mit seinem Leben. Er wollte, daß die Leute ihn respektieren oder lieben, aber das passierte nie. Man kann die Leute nicht dazu bringen, daß sie einen respektieren und lieben, indem man es herbeisehnt. Man muß es von ihnen verlangen.
Vielleicht haben sie ihn wegen seiner Herkunft nicht gemocht, aber diejenigen, die ihn näher kennengelernt haben, haben eine völlig andere Meinung von ihm. Er hatte eine Frau. Die hat ihn bestimmt nicht für ein Stück Dreck gehalten … Jeder respektierte Sonny Listons Fähigkeiten. Entscheidend ist aber, daß man ihn als Mann respektiert. Auch meine Fähigkeiten kann niemand voraussehen. Aber mich wird man respektieren. Das verlange ich.«
Die Ähnlichkeiten zwischen Tyson und Liston waren unheimlich: beide waren arme Kinder, wuchsen in einer labilen Familie auf, beide wurden schon früh kriminell, lernten, daß der einzige Weg, der aus ihrem demütigenden Leben herausführte, das Boxen war. Sie waren Männer, die keinem trauten, nicht, als sie den Titel hatten, und auch nicht später. Tyson hatte wegen Vergewaltigung, Liston wegen bewaffneten Raubüberfalls gesessen. Wie Muhammad Ali hatte Tyson den Vorteil, ein gewandter Redner und reich zu sein (er verdiente zig Millionen), sonst aber war er mit Ali nicht zu vergleichen. Seine Äußerungen hatten nichts Vergnügliches, sein Witz etwas Ätzendes, Selbstverletzendes. Tyson fühlte sich allein und strebte einem bösen Ende entgegen. Er fühlte sich wie Liston.
»Ich hab keine Freunde, Mann«, sagte er. »Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, mußten sie alle weg, meine alten Freunde. Wenn du in meinem Leben keinen Zweck hast, Mann, dann mußt du weg … Wozu will man denn einen um sich haben, wenn der keinen Zweck hat. Bloß, damit man einen Kumpel oder Freund hat? Ich hab eine Frau. Meine Frau kann mein Kumpel und mein Freund sein. Ich will nicht kalt sein, ich hab das eben irgendwie mitgekriegt … Wenn ich gefickt werde, dann nicht von denen, die mich früher schon gefickt haben. Ich werde von den neuen Leuten gefickt …«
»Mich hat man mein ganzes Leben lang ausgenutzt«, fuhr Tyson fort. »Man hat mich benutzt, man hat mich entmenscht, man hat mich gedemütigt und mich betrogen. Das ist mehr oder weniger das Ergebnis meines Lebens, und deswegen bin ich irgendwie verbittert, irgendwie wütend auf manche Leute … Im Boxen stößt sich jeder gesund, bloß nicht der Boxer selbst. Der ist im Grunde der einzige, der leidet. Er ist der einzige, der im Keller ist. Der einzige, der den Verstand verliert. Manchmal wird er verrückt, manchmal hängt er an der Flasche, weil das ein hoch intensiver Sport ist, da ist man unter Druck, und viele verlieren dabei. Da kannst du so viel erreichen, und dann gehst du kaputt.«
Ein paar Abende später stieg Tyson in den Ring mit Holyfield, und als er merkte, daß er nicht mehr der war, der er einmal war, daß er Holyfield nicht durch den Ring jagen konnte, biß er zu. Er biß Holyfield ein Stück Ohr ab. Und dann biß er ihn noch einmal.
»Mit meiner Karriere ist Schluß«, sagte er in der Kabine nach dem Kampf. »Schluß, aus. Ich weiß es.«
Nachdem Floyd Patterson die Boxhandschuhe an den Nagel gehängt hatte, zog er sich nach New Paltz im Staate New York zurück. Er gründete den Huguenot Boys’ Club, wo er kostenlos junge Boxer trainierte. »Das hat mich vor der Straße bewahrt, als ich klein war, deshalb wollte ich das gleiche für andere tun«, sagte er zu mir. 1995 machte der neue Gouverneur, George Pataki, Patterson zum Vorsitzenden der Sportkommission des Staates New York, der die Boxund Wrestlingveranstaltungen im Staat organisierte. Das Gehalt betrug 76421 Dollar, und der Job stellte keine höheren Anforderungen. In New York fanden kaum noch Kämpfe statt, das Geschäft war nach Las Vegas oder Atlantic City gezogen. Für Patterson gab es also wenig zu tun. Und dennoch war es offensichtlich, daß er mit seinen Aufgaben kaum fertig wurde, und auch dies weitgehend nur durch die Arbeit einiger diskreter Helfer an diversen staatlichen Stellen. Schon seit Jahren wurde gemunkelt, daß Pattersons Gedächtnis nachließ, daß er endlich die Nachwirkungen von vierundsechzig Berufskämpfen und zahllosen Niederschlägen spürte, doch niemand wollte diesen anständigen Mann gern in Verlegenheit bringen. Bei den Boxreportern war Pattersons Zustand ein offenes Geheimnis, doch lange druckte keiner etwas darüber. Was war schlimm daran, daß er diesen Posten hatte? Da wurde endlich mal einer ein bißchen gefördert, der es verdient hatte.
Als ich Patterson interviewte, sah er mit seinen dreiundsechzig Jahren fast genauso aus wie damals als Weltmeister: derselbe gepflegte, sehnige Körperbau, dieselben großen, flehenden Augen, dieselbe Chuck Berry-Frisur. Wenn man ihm gegenüberstand, fand man es unfaßbar, daß er einmal Weltmeister im Schwergewicht gewesen war oder mit Liston und Ali im Ring gestanden hatte. Er hatte die Statur eines Sterblichen. Nur seine gewaltigen Hände, die geschwollen und rauh wie Sandpapier waren, deuteten überhaupt auf Kraft hin. Bei unserem Gespräch wiederholte Patterson sich gelegentlich und vergaß auch mal Namen, Orte und Daten, doch er war weniger »abwesend« als vielmehr unsicher, ob er beim Thema bleiben und sich an Details erinnern konnte.
»Komme ich Ihnen vor wie einer, den das Boxen geschädigt hat?« fragte er einmal. »Klinge ich nicht völlig normal? Ich liebe Boxen. Boxen ist wunderbar. Boxen hat mir alles auf der Welt gegeben.«
Ein paar Monate später, im März 1998, sollte Patterson in einem Verfahren gegen die Promoter von »ultimate fighting«, einer besonderen Form des organisierten Chaos, das in New York verboten war, eine ausführliche Aussage machen. Die Aussage geriet für Patterson zur Katastrophe. Über drei Stunden wurde er unter Eid von einem Anwalt namens David Meyrowitz befragt.
Frage: Gegen wen haben Sie (um den Schwergewichtstitel im Jahr 1956) gekämpft?
Patterson: Da müßte ich mal überlegen … Ich kann mich nicht mehr erinnern, gegen welchen Gegner ich da gekämpft habe, aber schließlich habe ich ihn geschlagen und bin Weltmeister im Schwergewicht geworden …
F.: Wo fand der Kampf statt?
Patterson: Das weiß ich wirklich nicht. Ich glaube, in New York …
F.: Kennen Sie den Namen Ihres Vorgängers?
Patterson: Ja, ich komme gleich drauf. Einen Moment. (Stöbert in seinen Taschen.) Ich hab’s gleich. (Kann es nicht finden.)
F.: Mr. Patterson, kennen Sie den Namen Ihres Vorgängers als Vorsitzender der Sportkommission des Staates New York?
Patterson: Ja, doch, aber, ähm, ehrlich gesagt, ich habe letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen und bin sehr, sehr müde, und wenn ich müde bin, fällt mir das Denken schwer …
F.: Kennen Sie die Namen der beiden anderen Kommissionsvorsitzenden, die zu der Zeit, als Sie berufen wurden, Kommissionsvorsitzende waren?
Patterson: Nein …
F.: Kennen Sie die Namen der anderen Kommissionsvorsitzenden der Sportkommission des Staates New York?
Patterson: Äh, ja und nein. Ich kenne sie, aber es fällt mir schwer, jetzt nachzudenken. Ich bin gestern abend erst sehr spät ins Bett gekommen …
F.: Die beiden anderen Kommissionsvorsitzenden?
Patterson: Es ist einmal eine Dame und ein Mann.
F.: Haben Sie die Telefonnummer dieser Behörde (der Kommission in Poughkeepsie)?
Patterson: Ich habe die Nummer zu Hause.
F.: Und könnten Sie uns die Nummer jetzt sagen?
Patterson: Nein …
F.: Wie heißt die Sekretärin?
Patterson: O Mann … Ich sehe sie ziemlich häufig. Ich kenne sie sehr gut. Ich hab nur gerade vergessen, wie sie heißt …
Und so weiter. Die schmerzhafte Befragung fand am 20. März statt und kam zehn Tage später in die Zeitungen. Patterson wußte den Namen des Kommissionsanwalts nicht, er kannte die grundlegendsten Boxregeln nicht (Größe des Rings, Zahl der Runden bei einem Weltmeisterschaftskampf), und er wirkte ganz allgemein verwirrt. Daß er sich nicht an den größten Abend seines Lebens erinnern konnte – seinen Sieg über Archie Moore 1956 in Chicago, mit dem er den Titel gewann –, machte ihn völlig fertig.
»Worüber reden wir hier?« sagte er einmal. »Ich weiß nichts mehr.« Er räumte ein, wenn er müde sei, könne er sich schlecht an Namen erinnern: »Manchmal fällt mir nicht einmal mehr der Name meiner Frau ein, und ich bin jetzt zwei-, dreiunddreißig Jahre mit ihr verheiratet.«
Als die New York Post deutlich machte, daß sie einen Bericht über diese Aussage bringen wolle, schrieb Patterson schnell einen Brief an Gouverneur George Pataki und trat von seinem Posten zurück.
»Wenn ich müde bin, fällt mir das Denken schwer«, sagte Patterson. »Manchmal fällt mir nicht einmal mein eigener Name ein.«
Die besten Schwergewichtler zu Alis Zeiten und auch danach – Patterson, Liston, Joe Frazier, George Foreman, Larry Holmes, Mike Tyson, Evander Holyfield –, alle stehen sie im Schatten Alis. Sie waren alle gute Boxer, sogar hervorragende, doch sie konnten sich nie Hoffnungen darauf machen, Alis Resonanz wie auch seine Brillanz zu erreichen. »Mit der Zeit lernte ich Ali lieben«, sagte Patterson zu mir. »Allmählich erkannte ich, daß ich Boxer war und er Geschichte.«
Es könnte sich erweisen, daß Ali der Höhepunkt des Boxens und auch sein Ende war. Seine Nachfolger kamen zu einer Zeit, als das Boxen selbst schon im Schwinden begriffen war. Eines nach dem anderen schließen die berühmtesten Box-Gyms im Land. Das Fifth Street Gym, das Gramercy Gym, Stillman’s, das Times Square Gym – alle dicht. In Arenen wie dem Madison Square Garden finden pro Jahr höchstens noch einige wenige Kämpfe statt. Boxen wird zunehmend zum anachronistischen Entertainment in Glücksspielstädten, vergleichbar mit Wayne Newton und Siegfried und Roy. Immer mehr Frauen sehen und betreiben Sportarten wie Basketball, Baseball und sogar Hockey; Boxen dagegen wollen sie nicht mehr sehen. Die Folge ist, daß die Sender bei ihren Olympiade-Übertragungen fast kein Boxen mehr zeigen. Und nicht zuletzt ist Boxen als ein Sport, der darauf angelegt ist, das Gehirn zu lähmen, kaum noch zu verteidigen. Boxen steht heute für einen völligen Mangel an Chancen, nicht für die Chance an sich. Boxen besitzt eine Schönheit – auch in einer Schlacht steckt eine furchtbare Schönheit, besonders für den Nichtkämpfenden –, doch wenn man einmal genügend ehemaligen Boxern begegnet ist, wenn man versucht, ihr wirres Gerede zu entziffern, kommt man doch ins Grübeln. Welche Schönheit ist das wert? Was ist Floyd Pattersons geistige Verwirrung wert? Was sind die gewaltigen Schäden wert, die Jerry Quarry von all den Schlägen davongetragen hat, was ist es wert, daß Wilfred Benitez gegen seine Gespenster wütet? Und das waren die Top-Boxer, die Männer, die mehr austeilten als einsteckten. Was ist mit den Möchtegernen, den Profis mit einer Statistik von 47:44, mit Blumenkohlohren und einem auf immer zerdepperten Gehirn? Was ist mit denen?
Wie so viele andere vor ihm war Ali überzeugt davon, er werde einmal so vernünftig sein, mit dem Boxen rechtzeitig Schluß zu machen. »Ich habe nicht vor, mit häßlichen Andenken an meine Karriere aufzuhören«, sagte er, als er Mitte Zwanzig war. »Ich werde mich vom Boxen nicht mit Narben, Blumenkohlohren und einer gebrochenen Nase zurückziehen. Ich werde körperlich intakt, so wie ich jetzt bin, mit dem Boxen aufhören. Das wird so sein, weil mein Boxstil mich vor Wunden und Verletzungen schützt, und ich dennoch gewinne. Man könnte sagen, ich schlage meine Gegner sanft …«
Ali glaubte, sein Stil werde ihn weitgehend vor den üblichen Verletzungen und Demütigungen bewahren. »An mich kommt keiner ran!« schrie er immer. Doch als er aus seinem langen Exil zurückkehrte, hatte seine Schnelligkeit gelitten; sie kam nur in kurzen Schüben. Er mußte andere Kampfformen lernen. Die vielleicht ärgerlichste Entdeckung seiner zweiten Karriere war, daß er auch einstecken konnte. Und er mußte Hunderte von Treffern einstecken: von Frazier, Foreman, Ken Norton, Ernie Shavers, Holmes, Leon Spinks; von einer Reihe zweitrangiger Schwergewichtler wie Jean-Pierre Coopman, Alfredo Evangelista und Trevor Berbick; von einem Aufgebot an Sparringspartnern, die den Auftrag hatten, im Gym auf Ali einzuprügeln, damit er desto besser auf die Kämpfe vorbereitet war. Einstecken zu lernen war für Ali eine Form des kurzfristigen Überlebens – es war das Geheimnis seiner großen Triumphe in Zaire und auf den Philippinen –, aber auf lange Sicht war es eine Katastrophe.
An einem Frühlingsnachmittag besuchte ich Ferdie Pacheco, der in einem abgezäunten Viertel in Miami lebt. Die meiste Zeit verbringt er mit Malen und Schreiben, gelegentlich kommentiert er auch einmal einen Kampf fürs Fernsehen. 1977, nach dem Kampf gegen Shavers, den Ali nach Punkten gewann, in dem er aber auch schwere Treffer hatte einstecken müssen, verließ Pacheco Alis Camp. Nach dem Kampf hatte Pacheco erfahren, daß Alis Nieren geschädigt waren; eigentlich war er schon nach dem dritten Kampf gegen Frazier 1975 in Manila überzeugt davon gewesen, daß Ali in ernster Gefahr war, daß sein Gehirn geschädigt würde, wenn er nicht aufhörte. Pacheco schickte medizinische Gutachten an Ali, an seine Frau Veronica und an Herbert Muhammad. Alle wimmelten sie ihn nur ab. Also beschloß Pacheco, daß es Zeit war zu gehen. Die andern aus der Entourage, einschließlich Angelo Dundee, blieben. Alle Beteiligten – auch Ali – waren süchtig nach dem Geld und dem großen Thrill der Kämpfe selbst.
»Angelo war der – irrigen – Ansicht, daß man, wenn man mit einem Boxer anfängt, auch mit ihm aufhört«, sagte Pacheco. »Schön und gut, aber der Boxer sollte auf einen hören, wenn es Zeit zu gehen ist. Und wenn er nicht hören will, sollte man selber gehen. Bei allen großen Sportlern kommt die Zeit, wenn Babe Ruth nicht mehr Babe Ruth ist, wenn Joe Louis von einem italienischen Wurstmacher niedergeschlagen wird und wenn John Barrymore den Monolog aus Hamlet nicht mehr bringt. Es kommt der Tag, an dem es vorbei ist, an dem das Alter einen ausknockt.«
1981, als Ali seine letzten Kämpfe gegen Larry Holmes in Las Vegas und gegen Trevor Berbick auf den Bahamas bestritt, hatte sein neurologischer Niedergang sehr wahrscheinlich schon begonnen. Er sprach schon undeutlich, und seine Reflexe waren nicht mehr annähernd so wie einst. Diese Kämpfe waren nur noch kriminell.
»Aber Schuld ist ein hartes Wort«, sagte Pacheco. »Ich beschuldige niemanden. Die schlitterten da alle so rein, weil sie glaubten, irgendwie würde Ali es eben doch noch schaffen, so wie er es immer geschafft hat. Sie begriffen nicht, daß diese Siege auf Kosten seines Körpers gingen, das akzeptierten sie nicht, obwohl die Boxerdemenz in jedem x-beliebigen Box-Gym vorkommt. Das konnten sie mit diesem großen, wunderbaren, herrlichen Kerl, der immer noch gleich aussah, nicht in Einklang bringen. Das ist das Problem. Sie sehen genauso aus. Ich war in Sugar Ray Robinsons Ecke bei einem seiner letzten Kämpfe. Der hat auch genauso ausgesehen.
Zuletzt sah ich Ali (als Arzt) 1977. Aber ich habe seinen Niedergang beobachtet. Jetzt sehe ich ihn immer wieder. Wenn ich ihn heute sehe, sagt er: ›Hi, Doc, wie geht’s denn so‹, und erzählt mir, daß ich meinen Erfolg ihm verdanke, was ich ihm hundertprozentig bestätige. Er sagt, wie überrascht er ist, was wir alles erreicht haben, er und ich. Aber eigentlich sagt er nichts. Platitüden, Scherze, Gags. Ich versuche gar nicht erst, mich richtig mit ihm zu unterhalten. Das hab ich schon oft genug tun können. Es gibt nichts mehr, was er mir oder was ich ihm sagen kann, das etwas daran ändert, wie es mit ihm weitergeht, und ich weiß, wie es mit ihm weitergeht.
Zum Glück hat er das, was wir alle gern hätten: inneren Frieden. Er ist der einzige, den ich kenne, der das hat. Er hat den totalen Seelenfrieden, weil er sich überzeugt hat, daß das, was wichtig ist, nicht hier abläuft. Daß das im Himmel läuft. Und er arbeitet mit aller Macht daran, daß er da hinkommt, und er hat das absolute Wissen, daß er da hinkommt. Sehen Sie, Ali war einmalig. Ali und Boxen sind zwei verschiedene Themen. Das einzige, was bei Ali reines Boxen war, war das tragische Ende, das alle Boxer nehmen, wenn sie zu gut waren und es nicht lassen können. Joe Louis, Sugar Ray Leonard, Sugar Ray Robinson, George Foreman, Larry Holmes, Tommy Hearns. Die wollen einfach nicht aufhören! Also enden sie tragisch. Das ist das eine, das einzige, was Ali zu einem Boxer wie alle andern macht.«
Ali sitzt im Büro seiner Farm in Michigan. Das Büro liegt im zweiten Stock eines kleinen Hauses, das hinter dem Hauptgebäude steht; es ist das Hauptquartier einer Firma mit dem Namen GOAT – »The Greatest of All Times«. Draußen ziehen Gänse über den Teich. Ein paar Männer arbeiten auf den Feldern. Jemand mäht den großen Rasen, der sich vom Haus zum Tor des Anwesens erstreckt. Schöne Autos stehen da, darunter ein Stutz Bearcat. Es gibt einen Tennisplatz, einen Swimmingpool und einen Spielplatz mit Geräten, die für eine kleine Schule in einer gutbetuchten Gemeinde reichen würden. Ali ist Vater von neun Kindern; die älteste ist Maryum, sie ist achtundzwanzig, der jüngste ist Assad Ali, ein sechsjähriger Junge, den Lonnie und Muhammad adoptiert haben. »Muhammad hat endlich einen Spielgefährten gefunden«, sagte Lonnie. »Für seine anderen Kinder war er nicht oft da, aber mit Assad spielt er nun die ganze Zeit.« Die Alis haben gern auf der Farm gelebt, aber nun suchen sie einen Käufer. Sie hatten Gespräche mit Leuten, die sie kaufen und ein Wellness-Center daraus machen wollten; sie haben sogar versucht, sie an einen Teleshopping-Sender abzustoßen. Irgendwann, sagte Lonnie, zieht die Familie zurück nach Louisville, wo, wie sie hofft, einmal ein Muhammad-Ali-Zentrum gebaut wird. Alis Eltern sind tot, doch sein Bruder arbeitet noch in Louisville.
Alis Tag beginnt vor sechs Uhr mit dem ersten von fünf täglichen Gebeten. Manchmal betet er in einer Laube auf dem Rasen oder aber im Wohnzimmer. Lonnie ist auch Muslimin und trägt zumeist unauffällige, wenn auch nicht ganz traditionelle Kleidung. Alis religiöse Richtung hat sich mit der Zeit geändert. Elijah Muhammad starb 1975, danach teilte sich die Nation of Islam zwischen den Anhängern von Muhammads Sohn Wallace, der versuchte, die Doktrin der Nation zu mildern, indem er die Göttlichkeit seines Vaters bestritt und sich dem traditionellen Islam annäherte, und Louis X (heute Louis Farrakhan), der Wallace für einen schwachköpfigen Häretiker hält. Ali blieb bei Wallace Muhammad, und eine von Wallaces ersten Gesten der Versöhnung war, die New Yorker Moschee zu Ehren des alten Antagonisten seines Vaters in Malcolm X-Moschee umzubenennen. In vieler Hinsicht ist Ali Malcolms Weg gefolgt. Anfangs war Alis Mitgliedschaft bei der Nation überwiegend politisch begründet – als Zeichen von Selbstbewußtsein und Rassensolidarität –, doch wie Malcolm wurde er dann weniger ausschließlich in seinen Äußerungen und auch frommer. Alles an der Nation, das einmal so bedrohlich oder undurchsichtig war – die separatistischen Phrasen, die so herzlich vom Ku-Klux-Klan begrüßt wurden, das Gerede vom »großköpfigen« Yacub und von mysteriösen Raumschiffen –, das alles ist für Ali schon lange vergessen.
Ali ist außerordentlich stolz auf seine Vergangenheit, doch wenn es eines gibt, auf das er mit Bedauern zurückblickt, dann ist es seine grausame und übereilte Ablehnung Malcolms. Eine von Alis ersten Handlungen, als ich ihn in Berrien Springs aufsuchte, war, einen gewaltigen Aktenkoffer zu öffnen und ein Foto von ihm und Malcolm herauszuholen, das Howard Bingham in Miami kurz vor seinem ersten Kampf gegen Liston gemacht hatte.
»Das war Malcolm, ein großer, großer Mann«, sagte er mit seiner leisen Flüsterstimme.
Zu Hause wie auch unterwegs führt Ali den Menschen, denen er täglich begegnet, eine Reihe von Tricks vor. Auch mir hat er sie natürlich vorgeführt. Er macht gern Zauberkunststückchen: Er »levitiert« auf einem Fuß; indem er zwei Finger aneinanderreibt, vermittelt er einem den Eindruck, als hörte man eine sehr lästige Grille hinterm Ohr; er läßt einen kleinen Ball verschwinden. Es ist so, als wollte er sein Gegenüber und sich selbst mit diesen simplen Tricks an die größeren Kunststücke in seiner Karriere erinnern: an den gespielten Nervenzusammenbruch beim Wiegen vor dem Kampf gegen Liston, die glupschäugigen Lyrikrezitationen, seine Geschicklichkeit im Ring. Doch dann – ein Muslim kann niemanden täuschen – enträtselt er seine Zauberei und erklärt einem, wie die Tricks funktionieren, zeigt einem, wie man sich auf einem Zeh aufstellt, um sich zu »levitieren«.
Doch Tricks sind nur Tricks, sie bedeuten ihm nicht mehr viel. Ali nimmt seinen Glauben ernst. Gern spricht er über Glauben und Islam, indem er die »Konsistenz« islamischer Texte mit der der Bibel vergleicht, und zwar auf eine todernste wissenschaftliche Art und Weise. Stets hat er eine lange Liste mit textlichen »Inkonsistenzen« im Alten und Neuen Testament bei sich. Als ich bei ihm war, verbrachte er mindestens ebensoviel Zeit damit, in seiner alten, abgenutzten Bibel zu blättern und diese Inkonsistenzen nachzuschlagen, wie mit Fragen der Rasse oder des Boxens oder was sonst. So verwies er beispielsweise auf eine Inkonsistenz zwischen dem Markus- und dem Matthäusevangelium, als habe er mit einem Schlag eine eherne Säule des Christentums erschüttert.
»Davon gibt es dreißigtausend!« sagte er. »Das hat jemand herausgefunden.«
Alis Glaube ordnet sein Leben und hilft ihm, mit seiner Krankheit zurechtzukommen. Auch einem unbedeutenderen Mann könnte man gelegentliche Stunden der Trübsal nachsehen, denn mit Ali haben wir einen Darsteller, dem das, was einmal als sein Wesen galt – seine körperliche Schönheit, seine Schnelligkeit, sein Witz, seine Stimme –, genommen worden ist, und dennoch zeigt Ali niemals Selbstmitleid. »Ich weiß, warum das so gekommen ist«, sagt er. »Gott zeigt mir, daß ich nur ein Mann wie jeder andere bin. Das zeigt er auch Ihnen. So können Sie von mir lernen.«
Nicht, daß Ali mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hätte. Er verdient seinen Lebensunterhalt, indem er Bilder signiert, die dann auf Auktionen und von Händlern verkauft werden. Für ihn arbeiten mehrere Agenten und Anwälte, und alles wird von Lonnie koordiniert.
Manchmal träumt Ali von seinen alten Kämpfen, besonders von den dreien gegen Joe Frazier. Auch schwelgt er durchaus gern in der Vergangenheit. Als der Dokumentarfilm über seinen Triumph in Zaire, When We Were Kings, herauskam, sah Ali sich das Band gleich mehrmals an. Er war in Hollywood, als der Regisseur des Films, Leon Gast, einen Oscar dafür bekam. Ali stand auf und nahm wortlos stehende Ovationen entgegen, so wie er es auch heute tut.
Seinen größten Triumph im Ruhestand erlebte er an einem Sommerabend in Atlanta, als er zur Überraschung so ziemlich aller Zuschauer unvermittelt mit einer Fackel in den Händen erschien und die Olympiade 1996 eröffnete. Ali stand da, die schwere Fackel vor sich ausgestreckt. Drei Milliarden Menschen am Fernseher konnten sehen, wie er zitterte, teils von der Parkinsonschen Krankheit, teils wegen des großen Augenblicks selbst. Doch er stand ihn durch. »An dem Abend ging Muhammad stundenlang nicht ins Bett«, sagte Lonnie Ali. »Er schwebte auf einer Wolke. Er saß nur in einem Sessel im Hotelzimmer und hielt die Fackel in den Händen. Es war, als wäre er zum vierten Mal Weltmeister geworden.«
Ali ist ein amerikanischer Mythos, der für viele Menschen vielerlei Bedeutungen erlangt hat: Er wurde zum Symbol des Glaubens, zum Symbol für Selbstgewißheit und Widerstand, zum Symbol von Schönheit, von Können und Mut, zum Symbol von Rassenstolz, von Geist und Liebe. Alis körperlicher Zustand ist nicht zuletzt deswegen schockierend, weil er das vorwegnimmt, was wir alle fürchten, den Alterungsprozeß, die Unvorhersehbarkeit und die Gefahren des Lebens. In Ali erblicken wir die Schwäche selbst eines Mannes, dessen Beruf es war, die furchteinflößendste Gestalt der Welt zu sein. Doch Alis Krankheit ist nichts Neues mehr, nicht mehr ganz so schockierend, und auch wenn seine Bewegungen ungelenk sind, auch wenn er in der Öffentlichkeit kaum noch spricht, kann er uns dennoch überall, wohin er kommt, in jedem Raum, in jeder Arena, jedem Stadion, in dem er sich befindet, Respekt einflößen. Als Ali aus dem Exil zurückkehrte und wieder Weltmeister wurde, war fast alle Wut, die sich gegen ihn gerichtet hatte, verflogen. Ein Grund dafür war, daß die meisten sahen, wie ehrlich er war, auch wenn sie die Nation of Islam oder seine Gründe, den Kriegsdienst zu verweigern, nicht akzeptieren konnten. Er brachte sie zum Lachen. Und schließlich hatten die Zeiten sich geändert, die Menschen hatten sich geändert, einige jedenfalls. Red Smith beispielsweise, dessen Kolumnen zuvor so feindselig Ali gegenüber gewesen waren, war nur einer von vielen Amerikanern, die nach den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren die Welt und auch Ali in einem anderen Licht sahen. Nachdem Ali 1974 wieder Weltmeister geworden war, erschien eine Sonderausgabe von DC Comics, in der er gegen Superman antrat und siegte. Ali ist ein lebendes Symbol, so vielschichtig und ungebunden wie viele Symbole, aber er bleibt wichtig.
»Clay war mein Sklavenname«, sagte er leise zu mir, als der Nachmittag sich hinzog und er zunehmend müde wurde. Nun kam eines seiner ältesten Themen. »Sie hören ›Chruschtschow‹, und Sie wissen, der ist Russe. ›Ching‹, der ist Chinese. ›Goldberg‹ ist Jude. Was ist ›Cassius Clay‹? So klar. So wahr. George Washington, so heißt kein Schwarzer. So klar. So wahr. Der Islam war etwas Mächtiges und Starkes. Das konnte ich berühren und fühlen. Als Jugendlicher hab ich gelernt, daß alle weiß waren. Jesus Christus war weiß. Alle beim letzten Abendmahl, weiß. Aber dann die Muslims, die stellen plötzlich alles in Frage. Und ich glaube, ich hab dabei geholfen. Jetzt sehen Sie einen Werbespot im Fernsehen. Drei Kinder – zwei schwarze, ein weißes. Oder umgekehrt. Damals gab’s das nicht. Vieles hat sich verändert. Vieles hat sich verändert. Und ich hab dabei geholfen. Cassius Clay war mein Großvater. Cassius Clay war auch mein Vater. Aber das hab ich geändert. Das hab ich auch geändert.«
Während wir noch Videos von den Kämpfen gegen Liston und Patterson sahen, fragte ich Ali, wie er gern in Erinnerung bleiben würde. Er gab keine Antwort. Doch vor langer Zeit, als sein Körper ihm noch die freie Rede gestattete, hatte Ali diese Frage schon einmal beantwortet:
»Ich will Ihnen sagen, wie ich in Erinnerung bleiben möchte: Als Schwarzer, der den Titel im Schwergewicht gewonnen hat, der humorvoll war und jeden gerecht behandelt hat. Als ein Mann, der nie auf die herabgesehen hat, die zu ihm aufgesehen haben, und der so vielen seines Volkes wie nur möglich geholfen hat – finanziell und auch in ihrem Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Als ein Mann, der sie nicht kompromittiert hat. Als ein Mann, der versucht hat, sein Volk durch den islamischen Glauben zu vereinen, zu dem er gefunden hat, als er den Ehrenwerten Elijah Muhammad hörte. Und wenn das alles zuviel verlangt ist, würde es mir auch genügen, wenn man mich nur als großen Boxchampion, der Prediger und ein Champion seines Volkes wurde, in Erinnerung behält. Und es würde mir nicht mal was ausmachen, wenn die Leute vergessen, wie schön ich war.«
Das Telefon klingelte. Ali nahm den Hörer ab, wobei es allerdings mehrere Sekunden dauerte, bis er ihn ans Ohr gehoben hatte. Er hatte nun kaum noch die Kraft, Hallo zu sagen. Es kamen viele Anrufe, und jedesmal sagte Ali, egal, wer dran war, er solle später anrufen, morgen, nächste Woche, dann ist Lonnie wieder da. Es dauerte lange, bis er den Hörer wieder aufgelegt hatte. Nahezu alles dauerte lange bei ihm.
»Das einzig Wichtige ist jetzt noch, ein guter Muslim zu sein«, sagte er. »Andern helfen.«
Dann hörte er ganz auf zu sprechen. Er schloß die Augen. Und einige Minuten lang schien es, als schliefe er. Dann schlug er die Augen wieder auf und lächelte. Er scherzte.
»Erwischt!« sagte er.
Er machte eine längere Pause und sagte dann: »Der Schlaf ist eine Probe des Todes. Eines Tages wacht man auf, und es ist das Jüngste Gericht. Ich mach mir wegen der Krankheit keine Sorgen. Mach mir wegen nichts Sorgen. Allah wird mich schützen. Das tut er immer.« Das hat er oft gesagt.
Dann sagte Ali, er sei müde. Es war eine nette Form der Verabschiedung. Er begleitete mich die Treppe hinab bis zur Einfahrt.
»Ist das Ihr Wagen?« fragte er.
»Na ja, nur für heute«, sagte ich.
»Nicht mal das«, sagte Ali. »Man besitzt nichts. Man ist in diesem Leben nur Treuhänder. Passen Sie auf sich auf.«
Ich verabschiedete mich und fuhr den langen Weg hinab zum Tor. Im Rückspiegel sah ich Ali, er stand noch auf dem Kies. Er winkte einmal, sehr langsam, dann drehte er sich um und ging zurück ins Haus, um sein Nachmittagsgebet zu verrichten.