KAPITEL 12
DER WECHSELBALG
Ägypten, 1964.
Clay kam zu seiner morgendlichen Pressekonferenz im Veteranenzimmer der Convention Hall. Er beantwortete all die traditionellen Fragen, wie er sich fühle, gegen wen er als nächstes boxen könne, ob Liston härter als erwartet, weniger hart als erwartet oder exakt so hart wie erwartet gewesen sei. Die Stunde verlief nach Clays Maßstäben erstaunlich ruhig: keine Verse, keine Monologe, nichts Höhnisches. »Ich möchte jetzt nur noch ein netter, anständiger Herr sein«, sagte er. »Ich habe mich bewiesen. Jetzt werde ich ein Beispiel für alle netten Jungen und Mädchen sein. Das Reden habe ich hinter mir.«
Lauter, ironischer Beifall begrüßte diese Erklärung, und sogar Clay mußte lächeln. Wobei Clay die Presse aber eigentlich nie anlog; er glaubte das, was er sagte, während er es sagte. Und jetzt sah er seine Karriere als begrenztes Unternehmen.
»Ich kämpfe nur, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, und wenn ich genug Geld habe, kämpfe ich nicht mehr«, fuhr er fort. »Ich kämpfe nicht gern. Ich werde nicht gern verletzt. Ich verletze nicht gern andere … Liston tut mir leid. Er ist völlig am Boden.« Clay sagte, er werde ein Champion des Volkes sein und zurück nach Louisville gehen und »durch die Straßen streifen, mit den Armen und den Trinkern und den Pennern reden. Ich möchte die Menschen nur glücklich machen.«
Schließlich unterbrach ihn ein Reporter mit einer spitzen Frage. Stimme es denn nicht, wollte er wissen, daß Clay ein »eingetragenes Mitglied der Black Muslims« sei?
Clay stieß sich weniger daran, daß er sich offenbaren sollte – inzwischen ging er davon aus, daß jeder wußte, daß er zur Nation of Islam übergetreten war –, sondern vielmehr an der Wortwahl. »Eingetragen« schmeckte nach McCarthyismus, und gegen den Begriff »Black Muslim« hegten die Mitglieder der Nation eine tiefe Abneigung.
»›Eingetragen.‹ Was bedeutet das?« sagte Clay. »Ich glaube an Allah und an den Frieden. Ich will nicht in ein weißes Viertel ziehen. Ich will keine weiße Frau heiraten. Als ich getauft wurde, war ich zwölf, da wußte ich nicht, was ich tat. Ich bin kein Christ mehr. Ich weiß, wohin ich gehe, und ich kenne die Wahrheit, und ich muß nicht der sein, als den Sie mich haben wollen. Ich bin frei, das zu sein, was ich will.«
Das genügte, um all die Geschichten zu bestätigen, die in den Zeitungen gestanden hatten: Clay war ein Mitglied der Nation of Islam. Aber ob die Presse es nun verstand oder nicht, er hatte das Image des gutartigen Kämpfers, das von Joe Louis geprägt und dann von Jersey Joe Walcott, Floyd Patterson und Dutzenden anderer bestätigt worden war, still und leise abgelegt. Clay erklärte, er werde sich in kein Stereotyp pressen lassen, er werde keinem der üblichen Verhaltensmuster entsprechen. Und während Liston ebenfalls seine Unabhängigkeit von Konventionen (durch schieren Scheiß-drauf-Trotz) erklärt hatte, war Clays Botschaft eine politische. Nicht Jimmy Cannon oder die NAACP würde sein Schwarzsein, seine Religion, seine Geschichte definieren, sondern er. Er war ein sprachmächtiges Mitglied einer amerikanischen Randgruppe, und die werde Amerika schon bald kennenlernen.
Die Sportpresse, die so gut wie keine Ahnung von etwas namens Nation of Islam hatte, verlangte weitere Einzelheiten, und so stürzten sich am nächsten Morgen einige Reporter auf Clay und Malcolm X, als sie im Hampton House Motel beim Frühstück saßen. Wenn die Reporter glaubten, Clay werde sich von seinen Erklärungen vom Vortag distanzieren, irrten sie sich. Er wurde nur noch deutlicher.
»Ein Hahn kräht nur, wenn er das Licht sieht«, sagte Clay. »Setzt man ihn ins Dunkle, kräht er nie. Ich habe das Licht gesehen, und ich krähe.«
Malcolm erklärte: »Clay ist der hervorragendste Negersportler, den ich kenne, der Mann, der für sein Volk mehr bedeuten wird als jeder Sportler vor ihm. Er ist mehr, als Jackie Robinson war, weil Robinson der Held der Weißen ist. Die weiße Presse wollte, daß er verliert. Sie wollte, daß er verliert, weil er ein Muslim ist. Wie Sie wissen, kümmert sich niemand um die Religion anderer Sportler. Doch ihr Vorurteil gegenüber Clay machte sie für seine Fähigkeiten blind.«
Im weiteren Verlauf des Tages füllte Clay rasch alle Notizbücher, die um ihn herum gezückt waren. So umgeben von Reportern, stand Clay der Sinn nach Aufklärung.
»›Black Muslims‹ ist ein Wort der Presse«, sagte er. »Das ist kein legitimer Name. Der wirkliche Name ist ›Islam‹. Das bedeutet Frieden. Islam ist eine Religion, und auf der ganzen Welt gibt es siebenhundertfünfzig Millionen Menschen, die daran glauben, und ich bin einer davon. Ich bin kein Christ. Das kann ich gar nicht sein, wenn ich sehe, wie all die farbigen Menschen, die für eine erzwungene Integration kämpfen, in die Luft gejagt werden. Sie werden von Steinen getroffen und von Hunden gebissen, eine Negerkirche wird in die Luft gesprengt, und niemand findet die Killer. Jeden Tag bekomme ich Anrufe. Ich soll Schilder tragen. Ich soll demonstrieren. Man sagt mir, es wäre doch wunderbar, wenn ich eine Weiße heiratete, weil das gut für die Bruderschaft wäre. Ich will nicht in die Luft gejagt werden. Ich will nicht in die Kanalisation gespült werden. Ich will einfach nur mit meinesgleichen glücklich sein.
Ich bin der Weltmeister im Schwergewicht, aber im Moment gibt es einige Viertel, in die ich nicht ziehen kann. Ich weiß, wie ich Sprengladungen und Hunden ausweichen kann. Ich weiche ihnen aus, indem ich in meinem Viertel bleibe. Ich bin kein Unruhestifter. Ich glaube nicht an erzwungene Integration. Ich weiß, wo ich hingehöre. Ich werde mich bei niemandem ins Haus drängen …
Die Leute brandmarken uns als Haßgruppe. Sie sagen, wir wollen das Land übernehmen. Sie sagen, wir sind Kommunisten. Das ist nicht wahr. Die Anhänger Allahs sind die liebsten Menschen auf der Welt. Sie haben keine Messer, tragen keine Waffen. Sie beten fünfmal am Tag. Die Frauen tragen Kleider, die bis zum Boden reichen, und sie begehen keinen Ehebruch. Sie wollen nur eins, in Frieden leben.
Ich bin ein guter Junge. Ich habe noch nie Unrecht getan. Ich war nie im Gefängnis … Ich liebe die Weißen. Ich mag mein Volk. Beide können zusammenleben, ohne die Rechte des anderen zu verletzen. Sie können niemanden verurteilen, nur weil er Frieden will. Wenn Sie das tun, verurteilen Sie auch den Frieden selbst …«
An dem Tag, als Clay seinen Übertritt verkündete, beendete Elijah Muhammad auf einer Veranstaltung zum Erlösertag im Chicagoer Coliseum seine öffentliche Ambivalenz gegenüber Clay und nahm ihn in den Schoß der Gemeinde auf. Bis dahin hatte Muhammad Distanz gewahrt, da er glaubte, Clay werde verlieren und die Nation blamieren, doch nun, angesichts seines Sieges, hieß er ihn allzugern willkommen. Elijah Muhammad erklärte sogar, Clay habe den Kampf dank Allah und seinem Sendboten gewonnen. Und indem er sich als Clays Freund und geistliches Licht offenbarte, hatte er auch seinen Zwist mit Malcolm X angeheizt.
So ziemlich die einzigen, die auf die Nachricht von Clays Übertritt mit einem Achselzucken reagierten, waren die Männer in seiner Ecke. »Was ist ein Name?« sagte Dundee mit Shakespeare. »Für mich ist er immer noch derselbe Mensch, derselbe Junge. Ich hab gar nicht gewußt, was Muslim ist, ich hab gedacht, das ist ein Stück Stoff.« Vermutlich wäre kein anderer Trainer so töricht gewesen, es sich mit seinem neuen Champion zu verscherzen – dazu ging es um zuviel Geld. Doch Dundee kümmerte es nicht, welcher Religion sein Kämpfer angehörte, solange er nur immer zum Training kam. »Das habe ich schon als Kind gelernt«, sagte Dundee Jahre später. »Es gibt eines, wo du dich bei einem Kämpfer raushältst, das ist seine Religion. Und sein Liebesleben. Da hältst du dich auch raus. Wie er die Linke ansetzt – an solche Sachen hältst du dich.«
Doch außerhalb seines kleinen Betreuertrosses war Clays Übertritt ein Schock, nicht zuletzt für seine Familie. Sein Vater, der ja nie ein besonders frommer Christ war, hielt mit seinem Zorn persönlich und mittels der Presse nicht hinterm Berg. Clay senior erzählte den Reportern, sein Sohn sei von den habgierigen Muslims »betrogen« worden. »Ich ändere keinen Namen«, sagte er. »Wenn er das tun will, schön und gut. Aber ich nicht. Ich werde den Namen Cassius Clay sogar gut nutzen. Ich werde meinen Namen zu Geld machen. Ich werde Kapital daraus schlagen.« Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn verschlechterte sich derart, daß Clay bei seinem nächsten Besuch in Louisville in einem Hotel im Zentrum wohnte. »Er kam uns besuchen«, sagte seine Mutter, Odessa, »aber er blieb nur fünfundzwanzig Minuten und ließ das Taxi vor der Einfahrt warten. Man hat ihm gesagt, er soll sich wegen dieser religiösen Geschichte von seinem Vater fernhalten, und ich glaube, sie haben ihm gesagt, er soll sich auch von mir fernhalten. Die Muslims mögen mich nicht, weil ich zu hellhäutig bin.«
Die führenden Kolumnisten reagierten mit beinahe ebenso großer Empörung wie Cassius Clay senior.
»Die Boxbranche war seit ihren verkommenen Anfängen der Rotlichtbezirk des Sports. Doch nun hat man sie erstmals in ein Instrument des Hasses verwandelt«, schrieb Jimmy Cannon. »Sie hat vielen Männern den Körper verstümmelt und den Geist ruiniert, jetzt aber benutzt Clay sie als einer von Elijah Muhammads Missionaren als eine Waffe des Bösen beim Angriff auf die Seele. Ich bedaure Clay und verabscheue das, wofür er steht. In den Hungerjahren während der Depression benutzten die Kommunisten berühmte Leute in ähnlicher Weise, wie die Black Muslims Clay ausbeuten. Es ist eine Sekte, die den schönen Sinn der Religion verdirbt.« Cannons rassischer Orientierungspunkt war und blieb Joe Louis. Clays Verbindung mit der Nation of Islam, so Cannon, war ein »schädlicheres Symbol des Hasses als Schmeling und der Nazismus«.
Lipsytes Berichterstattung in der Times klang schon etwas anders, teils, weil die Kolumnen der Zeitung nicht viel Meinung zuließen, aber auch, weil er einer anderen Generation angehörte und ganz andere Erfahrungen gemacht hatte, nicht zuletzt durch seine enge Freundschaft mit Dick Gregory. »Es ist richtig, ich habe mich wegen des Übertritts nicht so ereifert wie Cannon oder Smith«, sagte er, »aber man darf auch nicht vergessen, wie sehr Malcolm X manchen Leuten angst machte, und nicht nur Weißen. Die New York Times etwa wußte nie so recht, wie viele Leute er für eine Revolution auf die Straße bringen konnte.«
Malcolm war Lipsyte für die Tiefgründigkeit und Zurückhaltung seiner Berichterstattung dankbar und sagte es ihm auch. Im Nachrichtenzimmer in der West Forty-third Street erzählte Lipsyte einem seiner Redakteure von dem Kompliment.
»Na, ist ja toll«, sagte der Redakteur. »Vielleicht sollten wir ja große Werbeplakate an unsere Laster hängen mit der Aufschrift: ›Malcolm X mag Bob Lipsyte‹.«
Die World Boxing Association sperrte den neuen Champion wegen »Verhaltens, das den Interessen des Boxsports zuwiderläuft«. Die Sperre war jedoch nicht von großer Wirkung, denn die wesentlichen Kommissionen der Staaten New York, Kalifornien und Pennsylvania machten deutlich, daß sie sie ignorieren würden. Einige aus der Louisville Sponsoring Group waren zunächst tief schockiert. Sie erkannten zu Recht, daß Clays Übertritt ihn wie auch sie Hunderttausende von Dollars kosten würde. Weiterhin erkannten sie ziemlich schnell, daß Clay seinen Vertrag mit ihnen 1966, wenn er auslief, wahrscheinlich nicht verlängern würde. »Wir schätzten, daß die Muslims die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen würden«, sagte Gordon Davidson. »Und das war ziemlich gut geschätzt.«
Praktisch der einzige weiße Politiker, der sich zugunsten des neuen Schwergewichtsmeisters äußerte, war Richard Russell, Senator aus Georgia und ein Befürworter der Segregation. Russell fand es großartig, daß das Ziel der Nation of Islam, die Rassen zu trennen, mit seinem eigenen zusammenfiel. (Tatsächlich hatte Elijah Muhammad 1961 Kontakt mit dem Ku-Klux-Klan aufgenommen, da beide Gruppen die Trennung von Schwarz und Weiß anstrebten.)
Die komplexesten Reaktionen kamen von schwarzen Kommentatoren und politischen Akteuren. Von Schwarzen geleitete Zeitungen waren sehr aktiv in der Bürgerrechtsbewegung und unterstützten sie, und die meisten mißtrauten der Nation of Islam. Es war Februar 1964, und das Land hatte in den zehn Jahren davor schon einige für die Bürgerrechte entscheidende Vorfälle erlebt: den Mord an Emmett Till 1955, der Busboykott von Montgomery 1955/56, die Schulkrise in Little Rock 1957/58, die Sit-ins der Studenten in Nashville 1960, die Freedom Rides 1961, James Merediths Integration von Ole Miss 1962, die Krawalle in Birmingham und die Bombe in der Sixteenth Street Church 1963, den Marsch auf Washington. Insbesondere viele Schwarze der Mittelschicht bewunderten insgeheim manche Aspekte der Nation – wie sie entlassene Sträflinge rehabilitierte, wie sie für eine bestimmte aufrechte Moral zu Hause und für Sicherheit auf der Straße stand –, befürchteten aber auch, daß eine solch vehemente Rhetorik der Konfrontation und ein religiöser Stil, der dem Durchschnittsamerika so fremd war, die Bewegung gefährden könnten.
In dem Blatt aus Clays Heimatstadt, dem von Schwarzen geleiteten Louisville Defender, schrieb Frank Stanley recht feinsinnig: »Wir haben nichts dagegen, daß Clay sich einer religiösen Gruppe anschließt, auch wenn wir Vorbehalte gegenüber den Motiven dieser Sekte haben. Wir sind bestürzt darüber, daß dieser junge Mann aus Louisville sich von der Anti-Segregationsbewegung lossagt.« Martin Luther King selbst, der nun in der Bewegung auf dem Gipfel seiner Macht war, gab sich nicht solchen Feinheiten hin. »Als Cassius Clay den Black Muslims beitrat und sich Cassius X nannte, wurde er ein Champion der Rassentrennung, und dagegen kämpfen wir«, sagte er. »Cassius sollte vielleicht mehr Zeit damit verbringen, sein boxerisches Können unter Beweis zu stellen, und weniger reden.« Schließlich rief King bei Clay an, um ihm zu seinen Boxtriumphen zu gratulieren – ein Telefonat, das vom FBI abgehört wurde. Den Aufzeichnungen des FBI zufolge versicherte Clay, daß er »mit MLK Kontakt halte, daß MLK sein Bruder ist und (Clay) zu hundert (Prozent) mit ihm übereinstimmt, aber kein Risiko eingehen kann«. Clay sagte zu King, er solle »auf sich aufpassen« und »ein Auge auf die Weißen« haben.
Einen Monat nach dem Kampf schrieb Jackie Robinson einen Artikel für den Chicago Defender, eine der prominentesten aller schwarzen Zeitungen, in dem er die Größe des Sieges des neuen Champions unterstrich und zur Gelassenheit gegenüber seinem Übertritt zur Nation of Islam aufforderte. Schrien Robinsons mutmaßliche Bewunderer unter den weißen Kolumnisten ihre Wut und Verwirrung über diesen anmaßenden neuen Champion hinaus, so sah Robinson durchaus etwas Gutes in der Entscheidung dieses jungen Mannes, auch wenn er sie nicht teilte.
»Ich glaube nicht, daß die Neger sich massenhaft dem Black Muslimism zuwenden, genausowenig, wie sie sich dem Kommunismus zuwandten«, schrieb Robinson. »Die Neger, Junge wie Alte, gingen in Amerika zu Zehntausenden auf die Straße und stellten ihre Bereitschaft unter Beweis, für die Freiheit zu leiden, zu kämpfen und sogar zu sterben. Diese Menschen wollen mehr Demokratie – nicht weniger. Sie wollen in die amerikanische Normalität integriert sein und nicht eingeladen werden, in einem kleinen Winkel dieses Landes in wunderbarer Isolation zu leben. Sollten sich die Neger je in größerer Zahl der Black Muslim-Bewegung zuwenden, dann nicht wegen Cassius oder sogar Malcolm X. Sondern weil das weiße Amerika sich geweigert hat, die verantwortliche Führung der Neger anzuerkennen und uns dieselben Rechte zu gewähren, die jeder andere Bürger dieses Landes genießt.«
Ende der sechziger Jahre, als Ali sich der Einberufung widersetzte und ins Exil ging, feierten ihn viele Stimmen, radikale wie nichtradikale, als mutige, unbotmäßige Gestalt. Eldridge Cleaver beschrieb ihn als »echten Revolutionär« und den »ersten ›freien‹ schwarzen Champion, der sich je dem weißen Amerika entgegengestellt hat«. Sportler wie Lew Alcindor wurden radikalisiert, bis sie konvertierten. Sogar Red Smith zog mit. 1964 jedoch gab es nur sehr wenige, Weiße wie Schwarze, die Clays Wandlung offen guthießen. »Ich erinnere mich, wie wir zu Hause Anfang der sechziger Jahre über Ali dachten«, sagte die Autorin Jill Nelson, die in Harlem und an der Upper West Side aufwuchs. »Wir wollten nicht gerade der Nation beitreten, doch wir liebten Ali wegen dieser ungeheuren Trotzhandlung. Es war Trotz dagegen, der gute Neger sein zu müssen, der gute Christ, der darauf wartet, von dem rechtschaffenen weißen Versorger belohnt zu werden. Wir liebten Ali, weil er so schön und mächtig war und weil er so eine dicke Lippe riskierte. Doch er verkörperte damals auch viele Gefühle der Schwarzen, unsere Wut, unsere berechtigten Ansprüche, die Notwendigkeit, besser zu sein, nur um den Durchschnitt zu bekommen, das Gefühl, sich gegen die Furien zu stellen.«
Clay fuhr nach Norden, nach New York, und stieg im Hotel Theresa in Harlem ab. Er fuhr in einem Cadillac mit Chauffeur vor, beeilte sich aber, den Reportern zu beschreiben, wie er auf seiner Zweitagesreise von Miami in verschiedenen Restaurants abgewiesen worden sei. (»Man it was really a letdown drag / For all those miles I had to eat out of a bag.« – »War das vielleicht öde, meine Güte, / Die vielen Meilen nur Essen aus der Tüte.«) Das Theresa, ein Wahrzeichen von Harlem, war da viel einladender. Joe Louis hatte dort gewohnt, ebenso Dutzende weiterer schwarzer Berühmtheiten, wenn sie in Manhattan waren. Fidel Castro hatte dort gewohnt. Nahezu jede Demonstration in Harlem begann vor dem Hotel Theresa.
Während der ersten Märztage hielt Clay im Hotel hof und ging mit Malcolm X überallhin – machte Spaziergänge in Harlem, am Times Square, er besichtigte die Vereinten Nationen und gab dort eine Pressekonferenz. Ein Reporter schrieb, der Boxer und der politische Führer hätten in der UN für die größte Aufregung gesorgt, seit Nikita Chruschtschow mit dem Schuh auf das Rednerpult geschlagen habe. Malcolm, dem viel daran lag, Clay für die neuen Koalitionen zu gewinnen, die er zu bilden gedachte, ging mit ihm sogar nach Long Island, um ihn zu überreden, sich in der Nähe von ihm, in Queens, ein Haus zu kaufen. Doch Clay konnte seine Loyalität nicht mehr lange strapazieren. Der Riß zwischen Muhammad und Malcolm X war tief; die Führung der Nation duldete wohl nicht länger, daß Clay einerseits Mitglied und andererseits mit dem Feind befreundet war. Noch während er in der Öffentlichkeit weiterhin Muhammad die Treue schwor, hatte Malcolm gesagt, er wolle versuchen, eine neue, unabhängige Gruppe zu bilden – eine Gruppe, die die Nation sogleich als Bedrohung ansehen mußte.
Am 6. März erklärte Elijah Muhammad in einer Rundfunkrede, dem Namen Cassius Clay mangele es an »göttlicher Bedeutung«, er müsse durch einen Muslim-Namen ersetzt werden. »Ich werde ihm den Namen ›Muhammad Ali‹ geben, solange er an Allah glaubt und mir folgt.« Früher hatte der Boxer immer den geschichtlichen Hintergrund und den Wohlklang seines Namens bewundert. »Dabei fallen einem doch gleich das Kolosseum und die römischen Gladiatoren ein. Cassius Marcellus Clay. Sagen Sie sich das mal vor. Ein schöner Name.« Nun aber hatte er andere Anweisungen bekommen: »Muhammad« bedeutete Lobenswerter, und »Ali« war der Name eines Vetters des Propheten. Die meisten Mitglieder der Nation hatten ein X als Nachnamen; Elijah Muhammad verlieh »vollständige« islamische heilige Namen hauptsächlich als große Ehre an langjährige führende Muslims, die der Bewegung schon Jahrzehnte angehört hatten. Elijah brauchte Clay nicht nur als Dukatenesel und Werbevehikel, sondern auch als Waffe im Krieg gegen Malcolm X.
Malcolm hörte die Rede im Autoradio und war außer sich. »Das ist ein politischer Schachzug!« sagte er. »Das hat er getan, damit er nicht mit mir kommt.«
Natürlich hatte Malcolm damit recht. Aus Chicago kamen Emissäre ins Hotel Theresa, um Appelle an den neuen Champion, an Muhammad Ali, zu richten. Sie appellierten an Alis Treue und seinen Glauben, sagten, er solle sich erinnern, wer der wahre »Sendbote« sei und wer nur der Prätendent. Sie versprachen Ali sogar eine Frau, eine von Elijah Muhammads Enkelinnen, wenn er wollte.
Ein paar Tage später kam Alex Haley im Auftrag des Playboy ins Hotel. Er stand Malcolm schon sehr nahe; ein-, zweimal die Woche kam Malcolm in Haleys Wohnung, um sich ausführlich für das Buch interviewen zu lassen, das seine Autobiographie werden sollte. Haley merkte sehr schnell, daß Ali sich entschieden hatte.
»Man lehnt sich nicht ungestraft gegen Mr. Muhammad auf«, sagte Ali. »Ich möchte nicht mehr über ihn reden.«
Die Härte, mit der Ali sich von Malcolm X trennte, ist kaum zu übertreiben. Ali begab sich auf eine einmonatige Reise durch Ägypten, Nigeria und Ghana in Begleitung seines engen Freundes Howard Bingham und zweier Freunde von der Nation of Islam, Osman Karreim (früher Archie Robinson) und Herbert Muhammad (der dritte von Elijahs sechs Söhnen und Alis zukünftiger Manager). In späteren Jahren sollten sich die Emotionen dieser Afrikareise – die Zuneigungsbekundungen, die »Ali! Ali!«-Rufe selbst in den entlegensten Dörfern – viele Male und in vielen Ländern wiederholen. Diese Reise jedoch war die erste ihrer Art, und Ali war begeistert. Er war begeistert, unter Afrikanern zu sein, »meinem wahren Volk«, wie er sagte; er war begeistert, großen Gestalten wie Kwame Nkrumah zu begegnen, und es begeisterte ihn, an Orten erkannt zu werden, wo man weder Joe Louis, geschweige denn Rocky Marciano erkannt und sich für sie interessiert hätte. Kurz, es war ein Vorgeschmack darauf, wie es sein würde, Muhammad Ali zu sein, ein internationales Symbol, ein Boxer, der größer war als der Schwergewichtstitel, der berühmteste Mensch der Welt. Das war der Anfang, der Anfang von Alis Transfiguration.
Gleichzeitig erfuhren die Reporter, die von Ali fast ebenso begeistert waren wie dieser von sich selbst, daß er ein widersprüchlicher Mensch war, eine freundliche und sanfte Seele, die gleichwohl gelegentlich auch eisiger Grausamkeit fähig war. Malcolm X, der inzwischen den sunnitischen Namen El-Hajj Malik El-Shabazz angenommen hatte, bereiste im Anschluß an einen Besuch in Mekka ebenfalls Afrika. Er trug einen Ziegenbart und das weiße Gazegewand des Pilgers sowie einen Gehstock. Auf seiner Reise war Malcolm vielen hellhäutigen Moslems begegnet und zu der Erkenntnis gelangt, daß das ganze Gerede von den »blauäugigen Teufeln« zu »Verallgemeinerungen (führte, die) manchen Weißen Verletzungen zufügte, die sie nicht verdient haben«. Malcolms Reise änderte sein Leben, und zwar so sehr, daß er auf die Frage eines Reporters, ob es stimme, daß er die Weißen nicht mehr hasse, sagte: »Allerdings! Meine Reise nach Mekka hat mir die Augen geöffnet.« In dem Maße, wie Martin Luther King seine Kritik an der amerikanischen Gesellschaft auf den Vietnamkrieg und die wirtschaftliche Ungerechtigkeit ausdehnte, wurde Malcolm gemäßigter, universalistischer in seiner moralischen Weltsicht. Die beiden Vektoren in der Führung der Schwarzen näherten sich einander an, und die Ursache dafür lag in Malcolms Reise in den mittleren Osten und nach Afrika. Im Hotel Ambassador in Accra, Malcolm wollte gerade zum Flughafen fahren, kreuzten sich seine Wege mit Ali.
»Bruder Muhammad!« rief Malcolm. »Bruder Muhammad!«
Ali blickte zu Malcolm hin, begrüßte ihn aber nicht als Freund.
»Du hast den Ehrenwerten Elijah Muhammad verlassen«, sagte Ali steif. »Das war falsch, Bruder Malcolm.«
Malcolm wollte die Sache nicht verschlimmern, indem er zu ihm ging, und Ali wandte den Blick ab und ging weiter.
Es war ein schrecklicher Augenblick für Malcolm. Trotz des Anscheins von Stärke und Standhaftigkeit hatte Malcolm sein ganzes Leben mit Verlusten gelebt.
»Ich habe viel verloren«, sagte er nach dieser Zufallsbegegnung. »Fast zuviel.« Als Kind hatte er mitbekommen, wie sein Vater, ein garveyitischer Prediger namens Earl Little, von weißen Rassisten in Todesangst versetzt wurde; er erinnerte sich an den mysteriösen Tod seines Vaters auf den Straßenbahnschienen und wie seine Mutter daraufhin wahnsinnig wurde; er erinnerte sich daran, wie ein Lehrer ihm auf seine Erklärung, Anwalt werden zu wollen, sagte: »Sieh das realistisch, du bist ein Nigger«; und nun, aus der Nation of Islam verstoßen, von der Fruit of Islam mit dem Tode bedroht, war er von Muhammad Ali, seinem großen Schützling und Freund, aufs schroffste abgewiesen worden.
Kurz vor der Abreise aus Afrika schickte Malcolm Ali ein Telegramm, das noch in dem Ton ihrer ehemaligen Beziehung gehalten war. »Weil eine Milliarde unseres Volks in Afrika, Arabien und Asien dich blind verehren«, schrieb Malcolm an Ali, »mußt du dir unablässig deiner Verantwortung ihnen gegenüber bewußt sein.« In dem Telegramm, das bald darauf in der New York Times erschien, warnte Malcolm Ali davor zuzulassen, daß seine Feinde seinen Ruf ausschlachteten; Malcolm drückte sich vage aus, doch es war klar, daß er die Ausbeuter in den Reihen der Nation of Islam sah.
Ali war nicht in der Stimmung, Ratschläge anzunehmen. Er scherzte mit Reportern, er sei nach Afrika gekommen, um sich vier Frauen zu suchen: Eine, die ihm die Schuhe putzte, eine, die ihn mit Trauben fütterte, eine, die ihm die Muskeln mit Olivenöl einrieb, und eine namens »Peaches«. Er war nicht bereit, sich die selbstgerechten Moralpredigten eines in Mißkredit geratenen Lehrers anzuhören.
»Mann, hast du Malcolm gesehen?« fragte er Herbert Muhammad. »In dem komischen weißen Gewand, mit einem Bart und mit diesem Stock, der aussah wie der Stab eines Propheten? Mann, der ist erledigt. Der ist so total erledigt, der ist völlig am Ende. Auf Malcolm hört doch keiner mehr.«
Dem Großteil des Landes, zumal dem weißen Amerika, war es völlig gleichgültig, welche Differenzen zwischen Malcolm und Elijah Muhammad bestanden und welche Position ein zweiundzwanzigjähriger Boxer aus Louisville zwischen ihnen einnahm. Neben der wahrhaft epischen Schlacht, die sich zwischen den Befürwortern der Bürgerrechte und ihren Gegnern auf der Straße, im Kongreß und vor Gericht abspielte, nahm sich diese Spaltung gänzlich marginal aus. Nur sehr wenige (außerhalb des FBI selbstredend) nahmen sich die Zeit, sich ein Bild von diesen Differenzen zu machen. Einige schwarze Nationalisten aber, die Ali als Boxer wie auch als unabhängigen Menschen bewunderten, stellten seine Reife und seine Entscheidung in Frage. Der Dichter und schwarze Nationalist LeRoi Jones, der sich später Imamu Amiri Baraka nannte, meinte, Ali sei zwar nun »mein Mann«, daß er sich aber für Elijah Muhammad und gegen Malcolm X entschieden habe, bedeute, »daß er ein ›homeboy‹ ist, denn er gibt sich diesem volkstümelnden Vektor aus dem Herzen des harten Arme-Neger-Spiritualismus anheim, das heißt, er ist jetzt eigentlich nur wütend und nicht intellektuell (soziopolitisch) motiviert«.
Sonia Sanchez, eine bekannte Dichterin und Aktivistin von CORE, fand Baraka unflexibel und unversöhnlich, besonders im Hinblick auf Alis Position und Alter. »Ali hatte keine Zeit für eine Analyse«, sagte sie. »Er mußte sich im Bruchteil einer Sekunde zwischen Malcolm und Elijah Muhammad entscheiden, und da gab es keinen grauen Bereich, nichts dazwischen. Er war bei der Nation von mächtigen Leuten umgeben, die ihn überzeugen konnten, daß Malcolm ihm wohl nahe gestanden habe, daß der wahre Führer aber Elijah Muhammad sei. Man darf auch nicht vergessen, daß die Spaltung nicht dadurch besser wurde, daß Kräfte von außen, darunter das FBI, die Nation und andere schwarze Gruppierungen infiltrierten, um sie zu schwächen. Das Establishment sah, daß nun selbst Leute aus der Mittelschicht zu einer radikaleren Position – zu Malcolms Position – fanden, und wollte diese unterwandern. Ali war ein großer Mann, doch er war kein Denker, kein Analytiker. Man konnte nicht von ihm erwarten, daß er bessere Blitzentscheidungen traf als andere.«
Robert Lipsyte von der Times war von Ali weniger deshalb enttäuscht, weil er mit Malcolm brach, als vielmehr, weil er so leicht hinnahm, wie ein kleiner Kern von Mitgliedern der Nation of Islam nun gegen Dissidenten vorging. Lipsyte kannte einen Muslim namens Leon 4X Ameer, der als eine Art improvisierter Pressesekretär für Ali fungiert hatte. Ameer war auch Malcolm X’ Leibwächter und Planer vor dessen Suspendierung gewesen. Ameers Verhältnis zu Malcolm machte ihn nun für die Muslims verdächtig. Eines Tages fielen der Captain der Bostoner Moschee der Nation und drei weitere Black Muslims im Foyer des Biltmore Hotels in Boston über Ameer her und schlugen ihn mit Knüppeln zusammen. Ameer hatte Glück; er wurde von einem Wachmann gerettet. In derselben Nacht brach jedoch eine weitere Gruppe Muslims aus der Bostoner Moschee in sein Zimmer ein und schlug ihn halbtot. Am nächsten Morgen fand man ihn in der Badewanne, sein Gesicht glich einem Hamburger; seine Trommelfelle waren geplatzt und mehrere Rippen gebrochen.
Lipsyte hatte zusammen mit Ameer einen Zeitschriftenartikel über die Muslims geplant. Als Ali nach New York kam, um einen Vertrag über die Rundfunkrechte für einen Rückkampf mit Sonny Liston zu unterschreiben, fragte Lipsyte den neuen Champion, wie er es finde, daß man seinen alten Freund so verprügelt hatte.
»Ah-meer? Ein kleiner Kerl?« sagte Ali spöttisch. »Ich glaube, ich erinnere mich an einen kleinen Kerl, der sich im Camp herumdrückte, der immer gern runterging und mir die Zeitungen holte. Jetzt höre ich, daß er Lügen erzählt, daß er sagt, er sei mein Pressesekretär gewesen.«
Lipsyte bohrte weiter, worauf Ali explodierte.
»Jeden blöden Neger, der die Frechheit hat, sich uns entgegenzustellen, wollt ihr zum Star machen. Jim Brown hat was über die Muslims gesagt, und sie haben ihn zum Filmstar gemacht. Ameer haben sie mit einem jungen Mädchen erwischt. Er hatte eine Frau und neun Kinder. Der Mann hat achthundert Dollar gestohlen, er war Karatekämpfer, er ist über drei Funktionäre hergefallen und hat gekriegt, was er verdient.«
Ob Ameer um sein Leben fürchten müsse, fragte Lipsyte.
»Die glauben, alle haben es darauf abgesehen, sie umzubringen, weil sie wissen, daß sie für das, was sie getan haben, den Tod verdienen.«
Malcolm X zeigte keinerlei Neigung, seine Opposition gegen die »pseudoislamische« Sekte Elijah Muhammads aufzugeben. Indem er im Gefängnis die Nation of Islam entdeckt hatte, hatte Malcolm sich von Grund auf geändert; er war vom Ganoven zu einer nationalen Gestalt aufgestiegen. Nun aber machte er eine fast so radikale Änderung durch wie damals in den fünfziger Jahren. Er äußerte sich über den potentiellen Nutzen eines Bürgerrechtsgesetzes. In einem Korridor des amerikanischen Senats gab er Martin Luther King die Hand. Er begann, den Kampf der amerikanischen Schwarzen mit dem der Afrikaner und anderer »Brüder der Dritten Welt« zu verbinden und in diesem Geist zwei neue Gruppierungen zu gründen, die Muslim Mosque Inc. und die Organisation of Afro-American Unity.
Elijah Muhammad beobachtete das aufmerksam. Am 30. November 1964 berichtete ein Informant des FBI in der Moschee Nr. 4 in Washington der Zentrale, ein allgemeiner Erlaß sei an die Fruit of Islam ergangen: Malcolm sei sofort anzugreifen. Eine Woche später schrieb Louis X (der bald Louis Farrakhan heißen sollte) in Muhammad Speaks, Malcolm werde der Rache nicht entgehen. Er forderte Malcolm auf, sich auszumalen, wie sein Kopf über den Gehsteig rolle. Und im Januar wurde in einem weiteren Artikel in Muhammad Speaks prophezeit, 1965 werde »ein Jahr, in dem die lautesten Gegner des Ehrenwerten Elijah Muhammad sich in unwürdiges Schweigen verkriechen werden«.