KAPITEL 7
GEHEIMNISSE
New York, 1964. Mit Elijah Muhammad.
1962 war Clay einer der ersten Anwärter auf den Schwergewichtstitel, doch sein Ruf beruhte nun ebenso auf seiner Persönlichkeit wie auf seinen sportlichen Fähigkeiten. »Es sprach sich herum, daß ich etwas war, was die Welt noch nicht gesehen hatte«, sagte er Jahrzehnte später. Trotz seiner Verträumtheit im Unterricht, trotz seiner Schwierigkeiten, ein Buch oder eine Bilanz zu lesen, könnte Clay gut und gern der selbstbewußteste Einundzwanzigjährige im ganzen Land gewesen sein. Wie die intelligentesten Komiker, Politiker oder Schauspieler war er jederzeit Herr selbst der ausgefallensten Auftritte. »Was glauben Sie wohl, wo ich nächste Woche wäre, wenn ich nicht wüßte, wie man schreit und brüllt und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt?« sagte er. »Ich wäre arm und wahrscheinlich in meiner Heimatstadt, würde Fenster putzen oder einen Fahrstuhl führen und ›yassuh‹ und ›nawsuh‹ sagen und wissen, was mir zusteht und was nicht.«
Clays Verweise auf die amerikanische Rassentrennung waren zu der Zeit häufig, aber auch zurückhaltend. In Wahrheit hatte er nämlich ein Geheimnis. Schon bevor er auszog, um in Rom die Goldmedaille zu gewinnen, war er fasziniert von einer Sekte namens Nation of Islam, besser bekannt als die Black Muslims. Clay hatte von der Gruppe erstmals in Chicago erfahren, als er dort bei einem Golden Gloves-Turnier boxte. Chicago war der Sitz der Nation und ihres Führers Elijah Muhammad, und Clay begegnete den Muslims in der South Side. Seine Tante erinnert sich, wie er mit einer Langspielplatte mit Muhammads Predigten nach Louisville zurückkehrte. Dann, im Frühjahr, bevor er zur Olympiade abfuhr, las Clay eine Ausgabe der offiziellen Zeitung der Nation, Muhammad Speaks. Was er da in der Muslim-Rhetorik über Stolz und Separatismus las und hörte, beeindruckte ihn nachhaltig. »Die Muslims waren damals in Louisville praktisch unbekannt«, sagte Clays High-School-Freund Lamont Johnson. »Sie hatten einen kleinen Laden, einen Tempel, den ein schwarzer Typ mit weißen Flecken auf der Haut leitete, aber niemand scherte sich darum. Niemand hatte von ihren Bohnenaufläufen gehört, wie sie lebten, was sie dachten. 1959 waren die nicht mal groß genug, um Angst zu verbreiten.«
Clay verblüffte seine Englischlehrerin an der Central High, als er ihr sagte, er wolle seinen Schuljahrsaufsatz über die Black Muslims schreiben. Sie verweigerte es ihm. Aber nie ließ er sich anmerken, daß sein Interesse an der Gruppe mehr als die flüchtige Neugier eines Schülers war. Etwas in ihm hatte darauf angesprochen, es hatte mit der Disziplin und der Haltung der Muslims zu tun, mit ihrer Betonung von Hierarchie, Männlichkeit und Selbstachtung, damit, daß sie weder rauchten noch tranken oder Zechgelage veranstalteten, daß sie stolz auf ihre Rasse waren.
Nach seiner Rückkehr aus Rom besuchte Clay in mehreren Städten Versammlungen der NAACP (»National Association for the Advancement of Colored People«), des CORE (»Congress of Racial Equality«) und der Nation of Islam. Andere Athleten wie Curt Flood und Bill White von den St. Louis Cardinals hatten auch hereingeschaut, um die Muslim-Prediger zu hören, waren aber, nachdem sie sich die Schlagwörter über die »blauäugigen Teufel« ein paar Minuten angehört hatten, wieder gegangen. Clay dagegen war von den Muslims beeindruckt wie von keiner anderen Gruppe oder Kirche. »Das Konkreteste, das mir in den Kirchen begegnet war, war Segregation«, sagte er Jahre später. »Aber nun habe ich gelernt, mich so anzunehmen, wie ich bin, und ich selbst zu sein. Ich weiß, daß wir die Ur-Männer sind und das größte Volk auf dem Planeten Erde und unsere Frauen seine Königinnen.«
Im März 1961, nach seinem Umzug nach Miami, begegnete Cassius auf der Straße einem Mann, der auf den Namen Captain Sam hörte – Sam Saxon, ein Billardsalon-Typ, ein Straßenganove, der sich Mitte der fünfziger Jahre, nachdem er Elijah Muhammad hatte reden hören, völlig verändert hatte und der Nation beigetreten war. Nach einer Stippvisite in Chicago war Captain Sam nach Miami gegangen, um dort das Wort zu verbreiten. Der oberste Muslim-Geistliche dort war Ishmael Sabakhan, und Saxon sagte, der »Sendbote«, Elijah Muhammad, wolle, daß er Sabakhans Captain sei. Wenn er nicht gerade neue Muslims rekrutierte oder Muhammad Speaks auf der Straße verkaufte, vertrieb er Konzessionen auf den Rennbahnen Miamis, Hialeah, Gulfstream, Tropical Park. Auf Toiletten verdiente er sich Trinkgelder, indem er Weißen das Handtuch reichte oder anbot, ihnen die Schuhe zu putzen.
Captain Sam und Clay kamen auf Elijah Muhammad zu sprechen. Saxon war überrascht, daß der junge Mann von der Gruppe gehört hatte und offenbar Bescheid wußte.
»Hey, du findest die Lehre gut«, sagte er.
»Also, ich war noch nicht im Tempel, aber ich weiß, wovon du sprichst«, sagte Clay. Clay stellte sich vor und sagte Saxon (wie nahezu jedem), er werde bald Weltmeister im Schwergewicht sein. Er lud Saxon zu sich ein, um ihm sein Sammelalbum zu zeigen. Saxon ging mit, und bei ihren Unterhaltungen fiel ihm auf, wie Clay über die Muslims redete. So ungeschult Clay auch war, lag ihm doch eindeutig sehr viel daran, also lud Saxon ihn zu einer Versammlung in der örtlichen Moschee ein.
Der Prediger, ein Mann namens Brother John, spulte eine Predigt über schwarze Identität ab, die, fast Wort für Wort, zum Standardrepertoire Muhammad Alis werden sollte. »Warum nennt man uns Neger?« predigte Brother John. »Auf diese Weise nimmt uns der weiße Mann unsere Identität. Seht Ihr einen Chinesen kommen, dann wißt Ihr, er ist aus China. Seht Ihr einen Kubaner kommen, dann wißt Ihr, er ist aus Kuba. Seht Ihr einen Kanadier kommen, dann wißt Ihr, er ist aus Kanada. Welches Land heißt Neger?« Sodann sprach Brother John darüber, daß die Namen der amerikanischen Schwarzen Sklavennamen seien, Namen, die keine Herkunft beinhalteten, Namen, die die Herkunft der Schwarzen aktiv auslöschten.
»Das leuchtete mir ein«, sagte Clay viele Jahre später dem Autor Thomas Hauser, als sie zusammen an seiner Biographie arbeiteten. »Was Brother John da sagte, konnte ich mit Händen greifen. Es war nicht wie Kirchenunterricht, wo ich daran glauben mußte, daß das, was der Pfarrer predigte, richtig war. Und ich sagte mir: ›Cassius Marcellus Clay. Das war ein weißer Mann aus Kentucky, dem mein Ururopa gehörte und der meinen Uropa nach sich benannte. Und dann wurde mein Opa so genannt und dann mein Daddy, und jetzt heiße ich so.‹«
Von da an befaßte sich Clay immer eingehender mit der Nation of Islam, las Muhammad Speaks, hörte sich die Schallplatte mit dem Titel A White Man’s Heaven Is a Black Man’s Hell an (»Der Himmel der Weißen ist die Hölle der Schwarzen«) und suchte vor allem die Gesellschaft von Muslims, die in ihm ein wertvolles neues Mitglied sahen. Jeremiah Shabazz, der geistliche Leiter des Regionalbüros der Nation in Atlanta, reiste nach Miami, um Clay kennenzulernen. Er erzählte ihm, daß Buddha in China chinesisch aussieht und daß die Europäer und Amerikaner einen weißen Christus verehren. Warum verehrten die schwarzen Amerikaner keinen schwarzen Gott? Warum verbrachte ein Schwarzer wie Cassius Clay senior seine Zeit damit, Wandgemälde von einem weißen Jesus zu malen? Der Nation of Islam zufolge, sagte Shabazz zu Clay, sei Gott nämlich schwarz. Er gab Clay mündlichen Unterricht über die Geschichte der Sklaverei, sagte ihm, kein Teufel unter der Erde könne schlimmer sein als der Teufel auf der Erde, der die Schwarzen unterdrückte, sie in Ketten legte, sie Amerika aufbauen ließ, während er sie als Sklaven hielt und seine Kinder genauso. Er sagte Clay, auch die Kirche, in der er aufgewachsen sei, sei eine Art Sklaverei, eine raffinierte Form der Befriedung, eine Art, den Neger sonntags singen und weinen zu lassen, statt daß er auf die Straße ging und sich befreite. Er erzählte dem jungen Mann, wie töricht die Bürgerrechtsbewegung sei, wie töricht, daß sich die Schwarzen auf der Straße mit Tränengas besprühen und verprügeln, von Hunden beißen, von Wasserwerfern umstoßen ließen, und alles nur, um die Weißen zu beeindrucken; wie töricht es sei, um ihre Freiheiten zu bitten, die doch ihr natürliches Recht seien. Die Prediger der Nation verlangten eine kompromißlose Opposition, eine Opposition, die unbedingt nötig sei. »Jeder kann sitzen«, sagte Elijahs Schüler Malcolm X, womit er die Freedom Rider und die Sit-In-Demonstranten Martin Luther Kings kritisierte. »Eine alte Frau kann sitzen. Ein Feigling kann sitzen … Aber nur ein Mann kann stehen.« Die Nation of Islam, sagte Malcolm, lehne es ab, dazusitzen und sich verprügeln zu lassen. Er sagte den Weißen: »Vielleicht seht ihr ja diese Neger, die an Gewaltfreiheit glauben, und verwechselt uns mit einem von denen und schlagt uns, in dem Glauben, wir hielten die andere Wange hin – wir aber bringen euch um, einfach so.«
Diese harten Botschaften der Stärke kamen bei Cassius Clay an. Er war im segregierten Louisville aufgewachsen und lebte nun im segregierten Miami, wo nicht einmal Joe Louis ein Zimmer im Hotel Fontainebleau bekam. Clay war auch ein Suchender, ein Mann des Dramas, und die Selbstdramatisierung der Muslims, der Gedanke, daß der schwarze Mann der Ur-Mann war, daß er schon große Kulturen geschaffen hatte, als der weiße Mann noch in Höhlen lebte, das alles kam ebenfalls bei ihm an. Cassius und sein Bruder Rudy besuchten die Moschee oder Red’s Barbershop in Overtown, wo die Muslims aus dem Koran lasen oder den Schöpfungsmythos nacherzählten.
Nach und nach lernte Clay mehr über die Muslims und den seltsamen und komplizierten Mann, der sich zu ihrem Sendboten erklärt hatte. Elijah Muhammad wurde 1897 im ländlichen Georgia geboren. Da hieß er noch Elijah Poole, und seine Großeltern waren noch Sklaven gewesen. Neben dem Georgia seiner Jugend wirkte das Louisville Clays geradezu freundlich. Die Armut war aussichtslos und das Lynchen junger Schwarzer so normal, daß derartige Vorfälle häufig nicht einmal in der Lokalzeitung erschienen. 1923 schloß sich Poole der Wanderbewegung nach Norden an und ließ sich in einem der ärmsten Viertel im Zentrum Detroits nieder. Die Armut in Detroit war in vieler Hinsicht schlimmer als in Georgia – mal gab es Jobs in der Autoindustrie, mal wieder nicht, die Bezahlung war erbärmlich, und schon bald stand Poole in der Schlange vor der Fürsorge und versoff sein Leben.
Poole war ein religiös Suchender, und wie viele andere arme Schwarze in Detroit hörte er immer häufiger von einem Prediger namens W. D. Fard, einem Handelsvertreter, der eine Theologie, Geschichte und Weltsicht für die Schwarzen entwickelt hatte. Fard war hellhäutig und behauptete, in der Nähe von Mekka geboren zu sein. Tatsächlich aber war er nie in Mekka gewesen, sondern 1930 über Kalifornien und Chicago nach Detroit gekommen. Fard gründete seine Sekte, die Nation of Islam, mit ihm selbst als Zentrum, als Licht, als Inkarnation Allahs. Er predigte die Wiederentdeckung des alten islamischen Erbes der Schwarzen und ihrer kulturellen Überlegenheit; er predigte eine Ethik der Selbstachtung und Selbsthilfe, der Reinlichkeit und Arbeit. Fard hatte sich das nicht selbst erarbeitet. Sein Denken leitete sich von vielfältigen amerikanischen Quellen und einer reichen Geschichte des schwarzen Nationalismus her. Der Gedanke der Selbsthilfe und des aufrechten moralischen Verhaltens stammte von Booker T. Washington und aus zahllosen Predigten in den schwarzen Kirchen. Seine Version des Islam wurzelte in Noble Drew Alis »Moorish Science Temple of America«, einer bei Schwarzen beliebten Sekte in den ersten beiden Dekaden des Jahrhunderts, die Glücksspiel, Sport, Alkohol und jegliche Ausschweifungen streng untersagte. Seine Betonung des schwarzen Stolzes hatte er von der »Zurück nach Afrika«-Lehre Marcus Garveys, der 1914 die »Universal Negro Improvement Association« gründete und zwei Jahre später aus Jamaika in die Vereinigten Staaten kam, wo er als Herausgeber der Wochenzeitung Negro World und als Publizist seiner nationalistischen Ideen eine spektakuläre Karriere begann. Garvey war ein geistiger Nachfahre von Nationalisten des neunzehnten Jahrhunderts wie Edward Wilmont Blyden, Bischof Henry McNeal Turner (der behauptete, Gott sei schwarz), Martin R. Delany (der die Möglichkeit einer massiven Repatriierung schwarzer Amerikaner nach Ostafrika oder gar Südamerika untersuchte) sowie der Utopisten Isaiah Montgomery und Edward P. McCabe. Es war aber Garvey, der Sohn eines jamaikanischen Maurers, der die wesentlichen Fragen aufwarf, die Cassius Clays Bewußtsein beflügelten.
»Wo ist die Regierung des Schwarzen? Wo sind sein König und sein Königreich? Wo sind sein Präsident, sein Land und sein Botschafter, seine Armee, seine Marine, wo sind seine großen Geschäftsleute?«
Wie Blyden vor ihm und die Muslims, die nach ihm kamen, wollte Garvey seinem Volk Stolz einflößen, indem er anführte, daß, während die Weißen noch Wilde waren und in Höhlen hausten, »diese unsere Rasse sich einer hervorragenden Kultur an den Ufern des Nil rühmen konnte«. (Garvey wird in Ralph Ellisons Roman Unsichtbar als die Figur Ras der Mahner karikiert.) Als Garvey während seines Aufenthalts in New York in den zwanziger Jahren eine ungeheure Popularität erlangte – eine Kundgebung von Garveys Anhängern wurde in der Carnegie Hall abgehalten –, heftete sich ihm das FBI an die Fersen und erreichte schließlich seine Verurteilung wegen Postbetrugs. Garvey saß zwei Jahre im Gefängnis und wurde dann, 1927, nach Jamaika abgeschoben, von wo er nie wieder in die Vereinigten Staaten zurückkehrte – nur noch als nachhaltiger Einfluß auf etliche Gruppen, zu denen ganz klar auch die Nation of Islam gehörte.
Elijah Poole war einer von rund 8000 Anhängern, die Fard Mitte und Ende der dreißiger Jahre hatte. (Davor war er ein Mitglied einer Garvey-Organisation in Chicago gewesen.) Poole war der Sekte so sehr ergeben, so diszipliniert, daß Fard ihn zu einem seiner ranghöchsten Adjutanten machte. Nachdem sie einander schon einige Jahre gekannt hatten, drängte Poole Fard ihm zu sagen, wer er nun wirklich sei. Fard antwortete ihm: »Ich bin der, auf den die Welt seit zweitausend Jahren gewartet hat. Ich bin gekommen, um euch auf den rechten Weg zu leiten.« Fard bezeichnete sich als Moslem und den Koran als sein heiliges Buch, doch er entwickelte eine Kosmologie, die sich von dem Islam, wie er in der Welt jenseits von Detroit praktiziert wird, stark unterschied. Sein religiöses Universum setzte sich aus Fetzen des Islam, des Christentums, des Buchs der Mormonen, politischen Notwendigkeiten und diversen weiteren Elementen zusammen. Für viele arme Schwarze in Detroit, für Männer und Frauen, deren Großeltern Sklaven gewesen waren und die nun in den erniedrigendsten Verhältnissen lebten, bot Fards Darstellung Hoffnung, Stolz und historischen Sinn.
Fard und den Vorträgen und Büchern zufolge, die Elijah Muhammad in den kommenden Jahren veröffentlichen sollte, begann vor 76 Trillionen Jahren, vor Anbeginn der Zeit, als das Universum leblos und leer war, ein Atom sich zu drehen, und aus diesem Atom entstand die Erde und danach ein Mann, ein schwarzer Mann, der »Ur-Mann«, den wir heute als Allah kennen. Allah wiederum schuf das uns bekannte Universum und danach die schwarze Rasse. Somit besaß der schwarze Mann die Vorrangstellung im Universum und war göttlich. Für ihn war das Leben ein Paradies des Überflusses und der Rechtschaffenheit.
Fard erklärte, daß 6600 Jahre zuvor ein schwarzes Kind namens Dr. Yacub geboren wurde, ein Kind mit einem ungewöhnlich großen Schädel, das als »großkopfiger Wissenschaftler« bekannt war. Mr. Yacub war ein Wunderkind, ein diabolisches Genie, das schon mit achtzehn sein Universitätsstudium abschloß, aber da er auch anfing, eine gefährliche Theologie zu predigen, wurden er und seine 59999 Anhänger auf die Insel Patmos in der Ägäis verbannt. Dort machte sich Mr. Yacub daran, seine schwarzen Brüder zu töten und aus Lug, Trug und Mord eine »Teufelsrasse« zu erschaffen. Mr. Yacub wußte, daß die schwarzen Männer einen dominierenden schwarzen »Keim« beziehungsweise ein solches Gen besaßen sowie ein schwächeres braunes Gen, doch er konnte hellere Menschen schaffen, indem er die Schwarzen wilden Tieren zum Fraß vorwarf (oder ihnen Nadeln ins Gehirn steckte) und die helleren Männer und Frauen paarte. Nach 200 Jahren war Mr. Yacub tot, und auf Patmos gab es keine Schwarzen mehr. Ungefähr 600 Jahre später hatten sich die Männer und Frauen von schwarz zu braun zu gelb zu weiß entwickelt – zu Weißen mit blassen Haaren und blauen Augen. Fard nannte sie »weiße Teufel«, ein kränkelndes Volk mit dünnem Blut und schwachen Knochen, die für Krankheiten anfällig und unfähig zur Rechtschaffenheit waren, wenn auch nur wegen ihres ungewöhnlich kärglichen Gehirns, das nur 170 Gramm wog. Die Weißen wurden von der Furcht vor dem Islam daran gehindert, aus ihrem Exil nach Osten zurückzukehren, und nach Europa geschickt. Lange Zeit degenerierten die Weißen zu Primitiven, lebten wie die Tiere, hatten sogar Geschlechtsverkehr mit Tieren, bis Moses ausgesandt wurde, um sie zu zivilisieren. Schließlich wurden die Weißen zur dominierenden Rasse, erst in Europa, dann in der Neuen Welt, wo sie Sklaven aus Afrika importierten und sie brutal behandelten – sie mit Schweinen und dem Christentum zwangsernährten und dafür sorgten, daß sie den Kontakt zu der strahlenden Zivilisation ihrer Ahnen, der Ur-Männer, verloren.
Das war die Geschichtsversion der Nation of Islam. Zu ihrem Erlösungsmythos gehört ein radförmiges, einen Kilometer breites Raumschiff namens Mutterflugzeug. Das Flugzeug wird von den besten Schwarzen geflogen, die es mit Hilfe ihrer psychischen Kräfte steuern. Zwischen acht und zehn Tagen vor dem Tag der Rache Allahs wird das Mutterflugzeug Flugschriften auf arabisch und englisch über dem Planeten abwerfen und darauf allen gottesfürchtigen Menschen sagen, wo sie sich vor dem bevorstehenden Angriff aus dem Himmel verstecken sollen. Der Angriff wird brutal und allumfassend sein: 1500 Flugzeuge werden vom Mutterflugzeug aufsteigen und Bombe um Bombe entladen und, wie schon in der Geschichte der Arche Noah, nur die Rechtschaffenen am Leben lassen. Mit Anleihen bei der Offenbarung des Johannes wird, so die Geschichte, Amerika 390 Jahre lang in einem Feuersee brennen und erst nach weiteren 610 Jahren abgekühlt sein. Schließlich wird der schwarze Mann, der rechtschaffene Mann, auf der Asche der alten Zivilisation eine neue errichten.
Clay sog diese Geschichten der Muslims fasziniert auf, allerdings mit einem bemerkenswert nachlässigen Verständnis der Einzelheiten. So überraschte es nicht, daß Nichtinitiierte Fards Prinzipien, wenn er ihnen einige erläuterte, etwas seltsam fanden. Eines Abends fuhr Ferdie Pacheco mit Clay und zwei Mädchen auf dem Rücksitz in seinem Vorkriegs-Cadillac Coupé herum. Clay beugte sich vor und tippte Pacheco auf die Schulter.
»Siehst du?« sagte er und zeigte zum Himmel. »Da ist das Raumschiff.«
»Was für ein Raumschiff?« fragte eines der Mädchen.
Clay schaute sie verblüfft an.
»An einem Tag vor ungefähr siebentausend Jahren erschuf ein böser, verrückter Wissenschaftler namens Dr. Yacub die weiße Rasse aus der schwarzen … Der verrückte Doktor machte die Weißen überlegen und stieß die Schwarzen in die Sklaverei hinab. Diese Zeit kommt nun an ein Ende.«
»Und was hat das mit einem Raumschiff zu tun?«
»Also, ein Raumschiff hatte mit sechsundzwanzig Familien abgehoben, die darauf leben, und umkreiste die Erde. Sie nannten es das Mutterschiff. Die nicht-weißen Rassen werden von der weißen unterdrückt, und bald kommen sie herab und radieren die weiße Rasse aus.«
Eines der Mädchen lächelte schüchtern.
»Worauf haben sie denn so lange gewartet, Junge?«
»Einmal im Jahr«, fuhr Clay fort, »landen sie auf dem Nordpol, lassen einen dicken Plastikschlauch ab und saugen so viel Sauerstoff und Eis an, daß sie genug für ein Jahr haben.«
Anfangs unterschied Clay bei der Muslim-Ideologie nicht weiter zwischen dem, was ihm nutzte und was nicht, doch mit der Zeit redete er immer weniger über diese Geschichten. Was ihn umhaute, waren die Muslims auf Erden, ihr Ich-Gefühl, ihre aufrechte militärische Haltung, ihr Stolz. In Elijah Muhammad fand er einen Vaterersatz, einen gnostischen Quell der Weisheit und der Wunder, der auf plastiküberzogenen Sofas saß und die Welt schwarzer Anständigkeit und weißer Schlechtigkeit erklärte. Elijah Muhammad dagegen war Clay gegenüber anfangs tief gespalten; für die Nation of Islam war Boxen nicht besser als Trinken, ein wertloser Zeitvertreib, der zur Ergötzung des weißen Mannes veranstaltet wird. Anfang der sechziger Jahre, als Clay ihn kennenlernte, war Elijah Muhammad ein anerkannter Führer geworden, auch wenn er bei den Weißen kaum bekannt war. 1934 war Fard verschwunden, und Poole, der sich nun Elijah Muhammad nannte, hatte als Sendbote Fards die Führung der Muslims übernommen. Nachdem er in Detroit wegen Anstiftung Minderjähriger zur Gesetzesverletzung verhaftet worden war – er wollte seine Kinder nicht auf staatliche Schulen schicken –, zog er mit seiner Familie und der Sekte nach Chicago. Eine seiner legendären Gesten war, den Wehrdienst zu verweigern und statt dessen eine Haftstrafe anzunehmen.
»Für Ali hatte der Gedanke schwarzer Überlegenheit und des Raumschiffs etwas Tröstliches und Aufbauendes«, sagte Robert Lipsyte, der Reporter der New York Times, der ihn in den sechziger Jahren am besten kannte. »Schließlich hatte sein Vater ständig über Marcus Garvey geredet. Ali entfernte sich von seinem Vater, war aber auch von ihm beeinflußt und empfand die weiße Gesellschaft als erdrückend. Und was wäre Ali auch ohne die Nation gewesen? Sie gab ihm damals ein Ich-Gefühl, einen Bezug zu etwas Größerem und Bedeutenderem. Es war die Zeit der weißen Wut über die Integration, und die Nation of Islam sprach von Selbständigkeit.«
»Ali war ein Suchender, er war ja noch ganz jung und erfüllt von Schmerzen und Neugier und auf der Suche nach bestimmten Antworten«, sagte Ferdie Pacheco. »Er war auf der Suche nach einem Lehrer, der ihm sagte, was er zu tun hatte, und die Antwort der Muslims war klar und hart: Trau keinem Weißen. Schwarz ist am besten, schwarz ist schön, wozu brauchen wir die Weißen. Da war es fast egal, daß er die Louisville Group und mich und Angelo hatte, all die Weißen um ihn herum. Er haßte nicht. Aber er ist immer seinem Trommler hinterhermarschiert. Er sah die Dinge, wie er es wollte. Was für ihn am besten war, welche Ideologie am besten für ihn war, welches Programm das beste für sein Leben war, wie es seiner Meinung nach sein sollte. 1962 ging er nach Detroit und lernte Elijah Muhammad kennen. Von da an war er total auf ihn fixiert. Der hatte richtig Besitz von ihm ergriffen. Der alte Mann war mehr oder weniger der einzige, auf den er, wie er meinte, hören mußte.
Ali verstand auch Stärke. So wie Sonny Liston die Mafia verstand, verstand Ali, daß man die Muslims nicht verarschte. Ihm gefiel deren Stärke. Er wollte nicht sehen, daß die Nation, besonders in jener Anfangszeit, voll mit allen möglichen ehemaligen Sträflingen war, gewalttätigen Leuten, die einem an den Hals gingen, wenn man ihnen krumm kam.«
1962 lud Clay dann Captain Sam und einige weitere Muslims ins Fifth Street Gym ein, damit sie ihm bei einigen Kleinigkeiten halfen und ihn geistig unterstützten. Clay hatte die Nahrungseinschränkungen des Islam akzeptiert, und die Nation stellte ihm nun Köche zur Verfügung. Einige im Camp, Pacheco etwa, wußten, daß Cassius und sein Bruder Rudy in ihrer Freizeit häufig mit Angehörigen der Nation zusammen waren, doch Cassius war nicht erpicht darauf, seine neuen Bekenntnisse hinauszuposaunen. Ihm war durchaus klar, daß die wenigen Weißen, die doch etwas über die Nation of Islam wußten, sie als furchterregende Sekte ansahen, als radikale Muslims mit separatistischen Ideen und kriminellen Mitgliedern. »Ich hatte Angst, ich dürfte nicht um den Titel kämpfen, wenn sie das wüßten«, sagte er viele Jahre später.
Als Clay zu einer Muslim-Versammlung in der South Side in Chicago ging, fragten ihn ein paar Reporter, ob er Mitglied sei. Clay, der in der Regel gern mit Reportern sprach, betrachtete ihre Hartnäckigkeit nun als Grobheit und ging in die Defensive. Muslims, sagte er, seien sauber und arbeiteten hart, sie betrögen ihre Ehefrauen nicht, sie tränken nicht und nähmen auch keine Drogen. Erneut fragten sie ihn, ob er Mitglied sei.
»Nein, noch nicht«, sagte er. »Aber so wie Sie mich bedrängen, könnte ich geradezu eines sein. Sie sind nach Gott die saubersten Menschen.«
Cassius Clay teilte sich seine Neigungen geschickt ein. In dem Maße, wie seine Konzentration auf die Nation of Islam wuchs, nahm auch seine Aufmerksamkeit für das Boxen zu. Am 24. Januar ging er nach Pittsburgh, um gegen Charlie Powell anzutreten, einen übellaunigen ehemaligen Football-Spieler. Beim Wiegen piesackte Powell Clay, und zum ersten Mal schien Clay bei einem Kampf wütend zu sein. Clay boxte mit seiner üblichen Kunst-über-Kraft-Einstellung, und zum Glück für Powell war die Sache in der dritten Runde vorbei. Die anschließende Stunde verbrachte Powell damit, in seiner Kabine Blut zu spucken.
Was Clay betraf, so hatte er mit genügend Topleuten und Nullen geboxt, um die Aufmerksamkeit Sonny Listons zu wecken. Aber einen wirklich Großen hatte er eigentlich noch nicht geschlagen. Archie Moore, der bekannteste seiner Gegner, war wie ein schlapper Wal in den Ring gestiegen. Sonny Banks hatte Clay auf die Bretter geschickt. Der Trick bestand darin, aktiv zu bleiben und immer weiter zu lernen. Die Zeit arbeitete schließlich für Clay. Liston hatte Patterson zwar zweimal demontiert, hatte seinen Höhepunkt als Kämpfer wahrscheinlich aber schon zwei oder drei Jahre davor überschritten. Auch hatte sein Titelgewinn wenig dazu beigetragen, die Lebensgewohnheiten des Champions zu ändern. Liston trainierte nur sporadisch. Zwar hielt er sich den gröbsten Ärger vom Hals, doch er trank und schlug sich die Nächte um die Ohren. Den Versuch, ein Musterbild seines edlen Berufs zu sein, hatte er schon lange aufgegeben.
Clay vereinbarte einen Kampf mit einem cleveren Boxer namens Doug Jones für März 1963 im Madison Square Garden. Das Ereignis sollte ein helleres Schlaglicht auf Clays Leistungen in Public Relations als jene im Ring werfen. Als der Kampf nahte, traten alle großen New Yorker Zeitungen in einen 113 Tage währenden Streik. Nun lag es an Clay, Jones und dem Garden, den Kampf übers Fernsehen und alle »alternativen« Medien zu promoten, die sie sich nur einfallen lassen konnten.
»Das ist unfair den vielen Boxfans in New York gegenüber«, beschwerte sich Clay. »Jetzt können sie nichts über den großen Cassius Clay lesen.«
Clay ging in jede Fernsehsendung, die ihn einlud. Sein klügster Schachzug aber war ein Auftritt im Bitter End, einem Vorposten des Greenwich Village, der bei Folksängern, Komikern und anderen Exponenten des Zeitgeists in war. Es war ein Dichterwettstreit, und Clay trat mit sechs Frauen und einem weiteren Mann auf die Bühne, wobei allerdings klar war, daß der Abend auf ihn allein zugeschnitten war. Robert Lowell oder gar Allen Ginsberg waren gar nicht erst angetreten. Das Ergebnis stand schon vorher fest. Der erste Dichter war ein Herr mit Bart namens Howard Ant, der sein unsterbliches »Sam, the Gambler, Talks to a Losing Horse« rezitierte. Als eine Frau namens Doe Lindell ihr Gedicht »Poem for Cassius« rezitierte, wurde schon klarer, daß der Abend dem Boxen gewidmet war. Schließlich trat Clay selbst ans Mikrofon, um eine Ode an sich selbst vorzutragen:
Marcellus vanquished Carthage,
Cassius laid Julius Caesar low,
And Clay will flatten Doug Jones
With a mighty, muscled blow.
So when the gong rings
And the referee sings out, »The winner«,
Cassius Marcellus Clay
Will be the noblest Roman of them all.
(»Marcellus bezwang Karthago, / Cassius streckte Julius Caesar nieder, / und Clay wird Doug Jones flachlegen / mit einem mächtigen harten Schlag. / Und wenn dann der Gong ertönt / und der Kampfrichter ruft: ›Der Sieger‹, / dann wird Cassius Marcellus Clay / der edelste aller Römer sein.«)
Zum Glück für die Dichtkunst und auch für die Kunst der Eigenwerbung wurde der Auftritt im Bitter End nicht im Fernsehen übertragen. New York lechzte nach einem großen Kampf, da die Meisterschaftskämpfe zunehmend nach Las Vegas abwanderten, und so war der Garden (der alte Garden in der Fiftieth Street) ausverkauft. Am Abend des Kampfs war Clay von seinen Bemühungen, den Zeitungsstreik wettzumachen, erschöpft. Er lud den hervorragenden Boxjournalisten von Newsday, Bob Waters, auf sein Zimmer im Hotel Americana ein und sagte zu ihm: »Dieses ganze Herumgerenne macht mich fertig. Letzte Woche hieß es ständig: ›Cassius, kommst du in meine Sendung?‹ – ›Cassius, willst du eine Aufnahme fürs Radio machen?‹ – ›Cassius, können wir Fotos von dir machen?‹ Mann, bin ich müde. Und die ganze Zeit muß ich reden, wissen Sie. Das erwarten die Leute. Die Reporter sagen: ›Wir wollen Ihnen keine Fragen stellen. Reden Sie einfach.‹ Mein Mund ist müde.«
Das einzige, was Clay vor dem Kampf noch Auftrieb gab, war seine Begegnung mit einer mystischen Figur mit einer langen Narbe auf der Wange namens Drew Brown, der bald ein neuer Freund werden sollte. Brown, den man eher unter seinen Spitznamen Bundini und Fastblack kannte, hatte sieben Jahre im Gefolge von Ray Robinson als professioneller Cheerleader und Hofnarr verbracht. (Auf dem Höhepunkt von Robinsons Karriere gehörten zu seiner Entourage auch ein Stimmtrainer, ein Schauspiellehrer, ein Friseur, ein Golfprofi, ein Masseur, ein Sekretär und ein Kleinwüchsiger als Maskottchen.) Bundini war ein konvertierter Jude und mit einer Frau namens Rhoda Palestine verheiratet. Er nannte Gott »Shorty« und glaubte zutiefst an Shortys Herrlichkeit. Eines Tages erschien Brown vor Clays Hotelzimmer und machte Clay zu dessen Verblüffung sogleich die Hölle heiß, weil er immer das Ende seiner Kämpfe voraussagte.
»Entweder du schmierst sie, sonst könntest du doch gar nicht sagen, wann Archie Moore fällt. Also bist du ein Schwindler!« sagte er. »Entweder du bist ein Schwindler oder Shorty sitzt in deiner Ecke. Ich war bei Sugar Ray. Ich war bei Johnny Bratton. Aber daß einer schon Wochen vorher die Runde voraussagt, in der er gewinnt, das hab ich noch nie gehört. Sag mir die Wahrheit!«
»Du willst die Wahrheit hören?« sagte Clay am Ende eines langen Gesprächs. »Die Wahrheit ist, jedesmal wenn ich in den Ring steige, habe ich eine Todesangst.«
Bundini, der nahe am Wasser gebaut hatte, heulte nun wie ein Schloßhund.
»Ich wußte, daß Shorty mit dir ist«, sagte er. »Shorty mußte einfach mit dir sein. Du meinst, du hast richtig Angst dabei? Warum?«
»Ich hab Angst, weil die Leute nach den ganzen Großtuereien, diesem ganzen Voraussagen sehen wollen, daß ich vermöbelt werde. Wenn ich verliere, jagen sie mich sofort aus dem Land. Ich steh da ganz allein und ich weiß, ich muß gewinnen. Aber das wissen nur du und ich.«
»Du, ich und Shorty«, sagte Bundini.
In dem Augenblick beschloß Clay, Bundini als seinen Motivator und Hofnarr um sich haben zu wollen. Bundini war ein Schwarzer, aber er war für die Integration, für die Bürgerrechte. Clay störte das nicht. Er mochte Bundini, mochte die verbalen Sparrings mit ihm, mochte es, wie Bundini ihn emotional aufrichten konnte; er unterhielt sich gern mit ihm über Raumfahrer und Horrorfilme, er spielte gern die »dozens« mit ihm (ein unter Schwarzen beliebter, nicht ganz ernst gemeinter Beschimpfungswettstreit), es gefiel ihm, daß Bundini schon einiges von der Welt gesehen hatte.
Drew Brown wurde 1929 geboren und hatte eine arme Kindheit im ländlichen Florida. Er sagte, er habe schon, bevor er zehn war, seine Miete selbst bezahlt und sei mit dreizehn als Schiffsjunge zur Marine gegangen. »Ich habe die Operationen im Pazifik und Atlantik mitgemacht und kenne die Mysterien des Lebens«, sagte er einmal mit typischem Schwulst. »Ich weiß alles über Männer und Frauen und Liebe und Tod und Macht und Ruhm.« Er verließ die Marine, nachdem er einen Offizier mit einem Hackmesser bedroht hatte. Danach trieb er sich herum, machte Gelegenheitsjobs, arbeitete für Boxer. Nach einigen Jahren fiel er bei Clay in Ungnade – nicht zuletzt, als er seinen Meisterschaftsgürtel für 500 Dollar einem Friseur in Harlem verkaufte –, doch die beiden Männer kommunizierten auf einer Ebene der Magie und Liebe, die sich von dem eher normalen Umgang Dundees mit seinem Kämpfer grundlegend unterschied. Bundini weinte, wenn Clay getroffen wurde, bei einem Sieg vergoß er Freudentränen. Jahre später, nachdem er in vielen Kämpfen in der Ecke gearbeitet hatte, sagte er: »Vor dem Kampf wird mir immer schlecht. Dann komme ich mir vor wie eine Schwangere. Schlägt er zu, schlage ich auch zu. Wird er getroffen, habe ich Schmerzen. Ich kann es nicht erklären, aber manchmal weiß ich, was er macht, noch bevor er es selber weiß.«
Gegen Doug Jones brauchte Clay alles, was Bundini ihm an Einfühlungsvermögen geben konnte. Unmittelbar vor dem Kampf standen die Wetten zwei zu eins für Clay, doch er sah sich nicht nur nicht in der Lage, seine Voraussage eines K. o. in der sechsten Runde zu erfüllen, er tat Jones nicht einmal ernsthaft weh. Schließlich war er nur noch auf die ästhetischen Vorlieben der Kampfrichter und ihre guten Wünsche für die Zukunft angewiesen, denn Jones, der nur fünfundachtzig Kilo wog, sechs weniger als Clay, pendelte dessen Schläge gut aus, war flink auf den Beinen und trickreich. Den ganzen Abend schien es, als boxte Clay gegen eine Strandkrabbe.
Clay hätte den Kampf beherrschen müssen, jedenfalls meinte man das in der Arena. Doch Runde um Runde unterlief Jones Clays Jabs. Jones’ einziger Vorteil war seine Erfahrung, und die benutzte er, um den Kampf ausgeglichen zu gestalten, um seinerseits zu Treffern zu kommen. Allmählich begriffen die Zuschauer, daß Clay seine Frist nicht würde einhalten können; er konnte sogar von Glück sagen, wenn er überhaupt gewann. Die Gereiztheit der Menge, der unaufhörliche Lärm, das alles hatte weniger mit der Qualität des Boxens zu tun als mit der Erwartung, daß der Kampf kippte. »Während der ganzen Zeit, die ich diesen recht durchschnittlichen Kampf – gerade gut genug, um ihn sich überhaupt anzusehen – verfolgte«, sagte Liebling, »waren die neunzehntausend, die den Kampf mit mir sahen, nach dem Lärm, den sie machten, zu urteilen, Zeugen eines gewaltigen allegorischen Kampfs zwischen dem Bescheidenen Underdog und dem Dichter Mr. Aufgeblasenes Großmaul.«
Am Ende werteten die beiden Kampfrichter Frank Forbes und Artie Aidello fünf zu vier (eine Runde unentschieden), während der Ringrichter ihn unerklärlicherweise acht zu eins bei einem Unentschieden für Clay wertete. Die Menge, die sich während der mittleren Runden gegen den Dichter gewandt hatte, begann gleich nach der Entscheidungsverkündung zu buhen. Die Leidenschaftlichsten schleuderten zerknüllte Bierbecher, Zigarettenkippen und Papierflugzeuge durch die Luft. Clay nahm die Handschuhe ab, hob ein paar der Erdnüsse auf, die auf ihn geschleudert worden waren, schälte sie und aß sie theatralisch. Er reckte die Hand zur trotzigen Siegespose hoch, doch im Vergleich zu seinem üblichen Überschwang fiel die Geste eher förmlich aus. Er wußte, daß er versagt hatte. Anschließend fuhr Clay nach Harlem zu einer Siegesfeier, doch ihm war so schlecht vor Erschöpfung, daß er beinahe über seiner Siegertorte zusammengebrochen wäre. Mit Unterstützung einiger aus seinem Anhang schaffte er es zurück ins Hotel und schlief erst einmal lange aus.
»Ich bin nicht Superman«, sagte er untypischerweise. »Wenn die Fans meinen, ich könnte alles, was ich sage, sind sie noch verrückter als ich.«
Als die Zeitungen wieder zur Arbeit zurückkehrten, hatten Scharen von Kolumnisten nichts Eiligeres zu tun, als den jungen Kämpfer in die Pfanne zu hauen. Pete Hamill von der New York Post, damals viel jünger und liberaler als die bekannteren Kolumnisten, brachte seine Ungeduld und seine Abneigung gegenüber der jungen Sensation zum Ausdruck. »Cassius Clay ist ein junger Mann mit einer Menge Charme«, schrieb er, »der Gefahr läuft, ein schrecklicher Langweiler zu werden.«
Bei seinem nächsten Kampf ein Vierteljahr später im Londoner Wembley-Stadion gegen Henry Cooper erging es Clay nicht viel besser. Wieder war er favorisiert, und wieder verlor er die Konzentration. Erneut war seine Promotion vor dem Kampf besser, als jeder Promoter zu hoffen gewagt hätte: Er stolzierte mit Melone und Stock in London herum und bezeichnete den Buckingham-Palast als »klasse Hütte«. Doch er trieb seine Spielereien auch noch im Ring und setzte so seine Chance auf einen Titelkampf aufs Spiel.
Cooper galt als Kämpfer mit einem einzigen Schlag, er besaß den, wie seine Landsleute es nannten, »’Enrys ’ammer«. Doch Clay schien das nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Gleich zu Beginn des Kampfs schenkte Cooper Clay kräftig ein. Clay war schneller, und seine Geraden flogen gegen Coopers Stirn, doch Cooper, der vor 55000 Engländern boxte, war glänzend eingestellt und wurde viel langsamer müde als eine Antiquität wie Archie Moore. In der vierten Runde hatte Cooper Clay an den Seilen und landete einen furchtbaren Treffer, der Clay auf den Hintern setzte. Clays Mund bildete ein kleines »O« des Schmerzes und der Überraschung. Clay war rasch wieder auf den Beinen, und die Runde war zu Ende.
In der Ecke bemerkte Angelo Dundee einen kleinen Riß in der Naht von Clays Handschuh. Hätte sein Mann klar in Führung gelegen und hätte er keine Verzögerung gebraucht, dann hätte Dundee den Fehler vielleicht nicht weiter beachtet, so aber machte er ihn sich zunutze; er steckte den Finger in das Loch und riß die Naht noch weiter auf. Dann rief er den Ringrichter heran und zeigte ihm den Riß. Während der darauffolgenden Auszeit bearbeitete Dundee Clay mit nassen Schwämmen und Riechsalz, und als der Gong zur fünften Runde ertönte, hatte sich der Nebel vor seinen Augen gelichtet, und er war bereit. Da er einen Sieg in der fünften Runde prophezeit hatte, machte er sich mit einem gewissen missionarischen Eifer ans Werk und bearbeitete Cooper mit zermürbenden Jabs und Haken, die Coopers Gesicht plötzlich in ein Flußdelta verwandelten, sosehr strömte das Blut von Stirn und Wangen.
Endlich wandte sich der Ringrichter Tommy Little Cooper zu und drängte ihn zurück.
»Der Kampf ist vorbei, Kumpel«, sagte er.
»Für ’n ›Penner‹ und ’n ›Krüppel‹ war das gar nicht mal so schlecht«, sagte Cooper beim Gehen.
Clay behauptete, er habe bei Coopers mächtigem Treffer in der vierten nur deshalb aufgemacht, weil er zu lange zu Elizabeth Taylor hingesehen habe, die vorn am Ring saß. Die Skeptischeren unter den Berichterstattern des Kampfs waren anderer Meinung. Der Junge, schrieben sie, sei manchmal amüsant und er habe auch Potential, aber er sei noch nicht soweit. Sogar Senator Kefauver, der sich für einen Professor des Kampfsports zu halten schien, erklärte vor der Presse feierlich, es werde noch »viele Jahre« dauern, bis Cassius Clay die Reife habe, um den Titel zu kämpfen.
Nur der Meister selbst fand das nicht. Er brauchte nicht lange zu warten. Liston hatte seinen Manager Jack Nilon als seinen Emissär nach London geschickt, und nach dem Kampf ging Nilon zu Clay in die Kabine, um ihm die Nachricht zu überbringen. »Ich bin dreitausend Meilen geflogen, um Ihnen zu sagen, daß wir soweit sind«, sagte Nilon.
Natürlich war Nilon sicher, daß er der Botschafter des Löwen war, der dem Lamm seine Bereitschaft zum Angriff überbrachte. Nach dem Kampf gegen Jones und der schwankenden Leistung gegen Henry Cooper sah Listons Lager in Cassius Clay ausschließlich leichtverdientes Geld. Nach seinem zweiten Sieg über Patterson hatte Liston keine weiteren Kämpfe mehr angenommen. Sein Bild als Vernichter gründete auf den zwei Minuten, die er benötigte, um den Titel zu erringen, und den zwei Minuten, um ihn zu verteidigen. Und nun wartete er auf Clay. Trotz der mangelhaften Auftritte des jungen Mannes gegen Jones in New York und Cooper in London versprach kein anderer Herausforderer in der Szene ähnliche Einnahmen – und für Liston würden nur wenige Herausforderer leichter abzufertigen sein.
Clay wußte, daß Liston glaubte, er habe ihn am Würfeltisch in Las Vegas besiegt. Nun mußte er das psychologische Gleichgewicht der Kräfte verändern. Daher beschloß Clay, noch bevor die beiden Kämpfer sich überhaupt zu Vertragsverhandlungen zusammensetzten, er müsse den Bären aus seinem Winterschlaf und aus seiner schäbigen Selbstzufriedenheit locken.
»Ich hatte Liston studiert, sorgfältig, die ganze Zeit, seit er in der Rangliste aufgestiegen war und seit Patterson versucht hatte, ihm auszuweichen«, sagte Clay zu Alex Healey in einem Interview für den Playboy. »Seinen Kampfstil, seine Kraft, seinen Punch. So Sachen – aber das war bloß ein Teil von dem, was ich mir ansah. Jeder Kämpfer studiert die Sachen von dem, gegen den er boxen will. Ganz wichtig für mich war zu beobachten, wie Liston sich außerhalb des Rings benahm. Ich hab alles gelesen, was ich kriegen konnte, wo er interviewt wurde. Ich hab mit Leuten gesprochen, die mit ihm zu tun oder mit ihm gesprochen hatten. Ich hab im Bett gelegen und die ganzen Sachen zusammengesetzt und über ihn nachgedacht, damit ich mir ein gutes Bild davon machen konnte, was in seinem Kopf abläuft. Und so bin ich dann dahintergekommen, daß ich es, wenn ich die Sache richtig anpackte, bei ihm mit Psychologie versuchen könnte – Sie wissen schon, ihn zu sticheln und sein Nervenkostüm so zu zerfetzen, daß ich ihn schon geschlagen hätte, bevor er überhaupt zu mir in den Ring stieg. Und genau das hab ich dann auch getan … Ich wollte erreichen, daß er denkt, was ich wollte: daß ich bloß so eine Art Clown bin und daß er nie auch nur eine Sekunde überlegen müßte, daß ich überhaupt zu einem echten Kampf antreten könnte, wenn wir in den Ring stiegen. Die Presse, alle – ich wollte, daß keiner was andres dachte, als daß ich ein Witz bin.«
Als wollte er vor seinem Strafregister in Philadelphia davonlaufen, war Liston nach Denver gezogen, wo er verkündete: »Ich wäre lieber ein Lichtmast in Denver als der Bürgermeister von Philadelphia.« Clay hatte sich einen dreißigsitzigen Bus Baujahr 1953 gekauft, einen Flexible in den gleichen Farben wie sein Schwinn-Fahrrad, rot und weiß. Und wie Toro Molino in Schmutziger Lorbeer machte er aus dem Bus ein mobiles Camp und Werbevehikel. Darauf malte er: »World’s Most Colorful Fighter: Liston Must Go in Eight« (»Der farbigste Kämpfer der Welt: Liston muß in der achten weg«). Mit einem seiner Muslim-Freunde, Archie Robinson, und dem Mann, der sein engster und treuester Freund werden sollte, dem Fotografen Howard Bingham, machte sich Clay auf nach Denver, um mit Sonny Listons Verstand zu spielen.
Als sie gegen zwei Uhr morgens die Stadtgrenze von Denver erreichten, rief Clay die Lokalzeitungen und Nachrichtendienste an und sagte, sie sollten sich demnächst vor Listons Haus versammeln, dort finde eine gute Show statt. Gegen drei hielt der Bus vor Listons Haus; die Presse war schon da. Clay schickte Howard Bingham an die Haustür.
Liston kam in einem Seidenmantel und einem kurzen Schlafanzug heraus.
»Was willst du, du schwarzer motherfucker?« sagte der Champion als Begrüßung.
Auf dem Bordstein brüllten Clay und seine Freunde: »Komm raus da! Ich verprügle dich gleich jetzt! Komm raus und schütz dein Haus! Wenn du nicht aus der Tür kommst, schlag ich sie ein!«
Liston zögerte. Ihm war wohl bewußt, daß bei seinem Vorstrafenregister eine Prügelei mitten auf der Straße zu einer weiteren Verhaftung und einem neuerlichen Schwung schlechter Publicity in der Presse führen konnte.
»Anfangs konnte ich ihn nicht richtig wütend machen, weil ihm dieser Gedanke im Kopf umging«, erinnerte sich Clay. »Aber ich hab immer weitergemacht. Ein Mann mit Listons Denkweise ist sehr komisch. Er ist nicht gerade das, was man einen schnellen Denker nennen würde, so wie ich. Er hat so ein Bulldoggengehirn.«
Doch bevor noch mehr passieren konnte, riefen Nachbarn die Polizei, und die vertrieb Clay und seine lustigen Schelme. Liston ging wieder hinein und schloß die Tür. Seinem Sparringspartner Foneda Cox zufolge war er stinksauer und verwirrt. Perfekt. Clay fuhr glücklich und zufrieden ins Hotel; er hatte sein Ziel erreicht.
»Während ich gegen Jones und Cooper kämpfte«, sagte er, »war Liston mit seinem ganzen großartigen, fetten Championsritual zugange. Fast hätte ich geklatscht, wenn ich las oder hörte, daß er wieder mal bei irgendeiner dicken Feier oder Zeremonie war, die halbe Nacht auf, mit Trinken und so weiter. Ich dachte dabei auch an Listons Alter … Noch besser wurde die Geschichte für mich, als Liston beim Rückkampf gegen Patterson nur halb trainiert war und Patterson noch schlimmer aussah – und Liston unterschrieb den Kampf gegen mich und schätzte mich nicht mal so gut ein, wie Patterson damals war. Der hat geglaubt, ihn erwartet da so einer wie die Nulpe des Monats, so wie damals Joe Louis. Er konnte an mir einfach bloß meinen Mund sehen.«
Tatsächlich konnte fast niemand viel mehr an ihm sehen. Die Leute um Liston gingen von einem sicheren K. o. aus, im übrigen auch die Louisville Sponsoring Group. »Ich muß ganz ehrlich sein: Bis zur letzten Minute wußte ich, daß Cassius Liston unmöglich schlagen konnte, und als es daran ging, die Verträge aufzusetzen, orientierte ich mich ganz dahin, daß dies sein letzter Kampf sein würde«, sagte der Anwalt der Gruppe, Gordon Davidson. »Ich betete immer nur darum, daß Cassius nicht ernsthaft verletzt würde.«
Am 5. November 1963 unterschrieben Listons Vertreter in Denver die Verträge zur Titelverteidigung gegen Cassius Clay. Der Kampf wurde auf den 25. Februar 1964 in Miami festgesetzt und sollte im ganzen Land live im Kino übertragen werden.