49
Selig sind die...
Es gibt keinen dunkleren Ort auf der Welt als eine Straße in den Highlands in einer mondlosen Nacht. Hin und wieder tauchten die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos Rogers dunkle Silhouette in helles Licht. Er hatte die Schultern eingezogen, als wollte er sich gegen kommende Gefahren wappnen. Brianna saß zusammengekauert neben mir auf der Rückbank. Keiner von uns sprach ein Wort. Wir hatten uns voreinander zurückgezogen in kleine, abgeschiedene Nischen des Schweigens.
Ich hatte die Hände in die Taschen gesteckt und spielte mit Münzen, einem zerknüllten Papiertaschentuch, einem Bleistiftstummel und einem Gummiball, den ein kleiner Patient auf dem Fußboden meines Sprechzimmers hatte liegenlassen. Ich fuhr mit dem Daumen über den Rand eines Vierteldollars, die Oberfläche eines englischen Pennys und die kantigen Einkerbungen am Schlüssel zu Gillian Edgars’ Studierzimmer, den ich dem Institut vorenthalten hatte.
Bevor wir aufgebrochen waren, hatte ich noch einmal versucht, bei Greg Edgars anzurufen. Doch obwohl ich es lange hatte läuten lassen, nahm niemand ab.
Ich starrte aus dem Seitenfenster des Wagens, nahm jedoch weder mein Spiegelbild wahr noch die Umrisse der schwarzen Steinmauern und Bäume, die in der Dunkelheit an uns vorbeiflogen. Statt dessen sah ich die Bücher vor mir, die säuberlich aufgereiht wie die Gläser eines Apothekers auf dem Regal in dem kleinen Studierzimmer standen. Darunter das Notizbuch, das logische Schlußfolgerungen ebenso wie Vermutungen, Mythen wie Fakten, Zusammenfassungen wissenschaftlicher Abhandlungen wie Legenden, all das gegründet auf die Macht von Träumen enthielt. Ein uninformierter Leser würde es wahrscheinlich für unausgegorenes Zeug oder bestenfalls für den Entwurf zu einem eigenwilligen Roman halten. Nur ich sah darin einen sorgfältig entwickelten Plan.
In naiver Anlehnung an die wissenschaftliche Methode war der erste Teil des Buches mit »Beobachtungen« überschrieben. Er bestand aus zusammenhanglosen Zitaten, Skizzen und sorgfältig numerierten Tabellen. »Der Stand von Sonne und Mond an Beltene«, war eine davon, die mehr als zweihundert Angaben enthielt. Ähnliche Aufstellungen befaßten sich mit Imbolc, Lugnosa und Samhain, den alten Sonnen- und Feuerfesten. Und morgen würden wir Beltene feiern.
Der mittlere Teil des Buches trug den Titel »Vermutungen«. Zumindest das war korrekt. Auf einer Seite stand: »Die Druiden verbrannten ihre Menschenopfer in Weidenkäfigen, die dem Körper des Menschen nachgebildet waren, doch manche wurden auch durch den Strang getötet. Anschließend schlitzte man ihnen den Hals auf, damit alles Blut herauslaufen konnte. Welches war der entscheidende Bestandteil: Feuer oder Blut?« Die kaltblütige Neugier, die aus dieser Frage sprach, ließ Geillis Duncans Bild deutlich vor meinem inneren Auge entstehen - nicht die Schülerin mit den großen Augen und dem glatten Haar, deren Foto man mir im Institut gezeigt hatte, sondern die geheimnisvolle, zehn Jahre ältere Frau des Prokurators mit dem schiefen Lächeln, die so bewandert war in der Anwendung von Kräutern und dem Einsatz ihres Körpers, die die Männer zu ihrem Instrument machte und leidenschaftlos tötete, um ihre Ziele zu erreichen.
Der letzte Teil des Buches war mit »Schlußfolgerungen« überschrieben und hatte uns in der Nacht vor Beltene auf die Reise geführt. Ich umklammerte den Schlüssel und wünschte mir von ganzem Herzen, Greg Edgars hätte den Telefonhörer abgenommen.
 
Roger bremste und bog in den Feldweg am Fuße des Craigh na Dun.
»Nichts zu sehen«, sagte er. Da er so lange nicht gesprochen hatte, kam die Bemerkung nur als heiseres, kämpferisch klingendes Krächzen heraus.
»Natürlich nicht«, erwiderte Brianna ungeduldig. »Den Steinkreis kann man von hier aus nicht sehen.«
Roger murmelte etwas und bremste den Wagen noch weiter ab. Offensichtlich war Brianna angespannt - er aber auch. Nur Claire wirkte ruhig und unberührt von der Spannung, die sich im Wagen ausgebreitet hatte.
»Sie ist da«, sagte Claire plötzlich. Roger trat so heftig auf die Bremse, daß Claire und Brianna nach vorn geschleudert wurden.
»Paß auf, du Trottel«, fuhr Brianna Roger an. Fahrig strich sie sich durchs Haar. Sie schluckte heftig und beugte sich vor, um durch die Scheibe zu spähen.
»Wo?« fragte sie.
Um die Hände nicht aus den Taschen nehmen zu müssen, wies Claire mit einem Kopfnicken nach rechts.
»Hinter diesem Gebüsch steht ein Auto.«
Roger fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Das ist das Auto der Edgars. Ich sehe mal nach. Ihr bleibt hier.«
Brianna stieß die Autotür so heftig auf, daß sie in den Scharnieren quietschte. Der zornige Blick, den sie Roger zuwarf, trieb ihm die Röte auf die Wangen.
Noch bevor Roger ausgestiegen war, war Brianna schon wieder zurück.
»Niemand da«, berichtete sie. Dann blickte sie zur Bergkuppe hinauf. »Glaubt ihr...«
Doch Claire war bereits ausgestiegen, knöpfte sich den Mantel zu und stapfte davon, ohne die Frage ihrer Tochter zu beantworten.
»Hier geht’s lang«, meinte sie nur.
Sie ging vor den beiden her, und als Roger sie den Berg hinaufeilen sah, fühlte er sich an den Ausflug nach St. Kilda erinnert. Brianna schien es ähnlich zu gehen, denn sie zögerte und schimpfte dann halblaut vor sich hin. Doch schließlich griff sie nach seinem Arm und drückte ihn - ob sie ihn ermutigen oder um seine Unterstützung bitten wollte, konnte er nicht sagen. Jedenfalls gab es ihm Mut, und er tätschelte ihre Hand und zog sie unter seinem Arm hindurch. Obwohl er sich nur mit gemischten Gefühlen aufgemacht hatte, packte ihn eine gewisse Erregung, als sie sich der Bergkuppe näherten.
Die Nacht war klar, mondlos und dunkel. Nur der Silberglanz des Sternenlichts warf einen blassen Schein auf den alten Steinkreis. Schweigend hielten die drei auf der sanft gerundeten Bergkuppe inne. Roger kam sein eigener Atem unnatürlich laut vor.
»Das hier«, zischte Brianna leise. »ist Schwachsinn.«
»Nein, ist es nicht«, entgegnete Roger. Plötzlich mußte er nach Luft ringen, als hätte sich ein unnachgiebiger Ring um seine Brust gelegt. »Da drüben ist ein Licht.«
Obwohl man es kaum erkennen konnte - nur ein Flackern, das gleich darauf wieder verschwunden war -, hatte Brianna es auch gesehen. Roger hörte, wie sie scharf die Luft einzog.
Was nun? fragte sich Roger. Sollten sie rufen? Oder würden sie Gillian dadurch zu einer voreiligen Tat treiben? Und wenn, was würde sie tun?
Plötzlich schüttelte Claire den Kopf, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Sie trat so überstürzt von dem Stein zurück, neben dem sie stand, daß sie beinahe über Roger gestolpert wäre.
Er umfaßte ihren Arm. »Ruhig, ruhig«, murmelte er. Ihr Gesicht war nur ein blasser Fleck in der Dunkelheit, doch er spürte, wie sie ein Schauder überlief. Steif und unentschlossen stand er da.
Erst der durchdringende Geruch nach Petroleum weckte ihn aus seiner Trance. Nur undeutlich nahm er wahr, wie Brianna hastig den Kopf herumwarf, als sie den Gestank wahrnahm. Im nächsten Moment hatte er Claires Arm losgelassen und lief zur Mitte des Steinkreises, wo sich eine zusammengekauerte Gestalt dunkel vom grasbewachsenen Boden abhob.
Da durchbrach Claires lauter und drängender Ruf die Stille.
»Gillian!«
Doch in diesem Moment zischte leise eine Flamme auf, und die Nacht war plötzlich taghell erleuchtet. Roger stolperte, vom Licht geblendet, und fiel auf die Knie.
Einen Moment lang konnte er außer der schmerzenden Helligkeit des Feuers nichts erkennen. Er hörte einen Schrei und spürte Briannas Hand auf seiner Schulter. Tränen traten ihm in die Augen, und verzweifelt blinzelte er, aber er nahm nur undeutlich wahr, was vor sich ging.
Vor dem Feuer zeichnete sich eine schlanke Gestalt ab. Sie trug ein enges Mieder und einen langen, bauschigen Rock - Kleider aus einer anderen Zeit. Bei Claires Ruf hatte sie sich umgewandt, und Roger erhaschte einen Blick auf die großen Augen und das blonde Haar, das von der Hitze des Feuers aufgewirbelt wurde.
Als Roger sich auf die Füße mühte, schoß ihm die Frage durch den Kopf, wie Gillian einen Baumstamm dieser Größe hier heraufgeschafft hatte. Dann traf ihn der Geruch nach verbrannten Haaren und Fleisch wie ein Schlag und plötzlich wurde es ihm klar. Greg Edgars war an diesem Abend nicht zu Hause gewesen. Und da Gillian nicht wußte, ob nun Menschenblut oder Feuer bei der Zeremonie entscheidend war, hatte sie sich für beides entschieden.
Er schob sich an Brianna vorbei und steuerte geradewegs auf die große, schlanke Frau zu. Als sie ihn kommen sah, wandte sie sich um und lief rasch wie der Wind zu dem gespaltenen Stein am anderen Ende des Kreises. Über der Schulter trug sie einen Rucksack aus Leinwand.
Einen Augenblick blieb sie vor dem Stein stehen, legte die Hand auf den Felsen und sah zurück. Roger hätte schwören können, daß ihr Blick auf ihm verweilte und über die Feuerbarriere hinweg dem seinen begegnete. Er öffnete den Mund zu einem stummen Ruf, doch sie wirbelte herum und verschwand in der Felsspalte.
Das Feuer, der Leichnam, ja die Nacht selbst, verschwand in einem ohrenbetäubenden Schrei. Plötzlich lag Roger auf dem Bauch und fuhr mit den Händen wie rasend über das Gras, auf der Suche nach etwas Vertrautem, an dem er sich festhalten konnte. Selbst der Boden, auf dem er lag, schien unter ihm nachzugeben, als läge er auf Flugsand statt auf Granitgestein.
Geblendet von dem gleißenden Licht, taub von dem markerschütternden Schrei des sich öffnenden Steins, suchte Roger nach einem Halt, schlug wild um sich, verlor die Herrschaft über seine Glieder. Er nahm nur noch einen übermächtigen Sog und den Drang, dagegen anzukämpfen, wahr.
Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen, es war, als würde er schon immer in dieser furchtbaren Leere kämpfen. Endlich jedoch wurde er etwas außerhalb seiner selbst gewahr. Hände klammerten sich verzweifelt an seine Arme, und weiche Brüste preßten sich an sein Gesicht.
Allmählich kehrte sein Hörvermögen zurück, und er vernahm eine Stimme, die ihm Schimpfworte an den Kopf warf.
»Du Dummkopf! Du... Trottel! Wach auf, Roger, du... Vollidiot!« Obwohl die Stimme nur gedämpft an sein Ohr drang, verstand er den Sinn der Worte sehr wohl. Mit fast übermenschlicher Anstrengung streckte er den Arm aus und griff nach Briannas Handgelenken. Halbblind sah er das tränenüberströmte Gesicht von Brianna Randall über sich.
Der Gestank nach Petroleum und verbranntem Fleisch war mehr, als er ertragen konnte. Roger wurde von einem Würgereiz gepackt, drehte sich auf die Seite und erbrach sich ins feuchte Gras.
Nachdem er sich den Mund am Ärmel abgewischt hatte, streckte er unsicher die Hand nach Brianna aus, die sich zitternd zusammengekauert hatte.
»O mein Gott!« stammelte sie. »O Gott! Ich hätte nicht gedacht, daß ich dich noch zurückhalten könnte. O mein Gott! Du bist geradewegs auf den Stein zugekrochen.«
Er zog sie an sich, und sie leistete keinen Widerstand. Zitternd stand sie da, während ihr Tränen aus den blicklosen, geweiteten Augen rollten. Immer wieder stammelte sie: »O Gott!«
»Ist ja gut«, sagte Roger und strich ihr über den Rücken. »Es wird alles wieder gut.« Allmählich verschwand das Schwindelgefühl, obwohl es ihm immer noch so vorkam, als hätte man ihn auseinandergenommen und die Teile wahllos in alle vier Himmelsrichtungen verstreut.
Von dem geschwärzten Objekt auf dem Boden kam ein leises Knacken, doch ansonsten war die Nacht wieder still. Aber Roger legte die Hände auf die Ohren, als wollte er sie vor dem Dröhnen verschließen, das noch immer in seinem Kopf widerhallte.
»Hast du es auch gehört?« fragte er. Brianna nickte mechanisch.
»Hat deine...«, setzte er an. Nur mühsam ordnete er seine Gedanken. Doch plötzlich fuhr er senkrecht in die Höhe.
»Deine Mutter!« rief er. Grob griff er Brianna am Arm. »Wo ist Claire?«
Entsetzt riß Brianna den Mund auf. Ihr Blick flog verzweifelt über das leere Rund des Kreises, an dessen Rand die mannshohen Steine im flackernden Schein der Flammen glühten.
»Mutter!« schrie sie. »Mutter, wo bist du?«
 
»Es geht ihr gut«, sagte Roger beschwichtigend. »Bald ist sie wieder in Ordnung.«
Im Grunde hatte er keine Ahnung, ob Claire wieder genesen würde. Aber wenigstens eins stand fest: Sie war noch am Leben.
Sie hatten Claire bewußtlos am Rand des Kreises im Gras gefunden, bleich wie das Licht des Mondes, der sich allmählich am Himmel zeigte. In aller Eile hatte Roger Claire den Berghang hinuntergetragen, wobei er ständig über Steine stolperte und mit den Kleidern im Gestrüpp hängenblieb. An diesen höllischen Abstieg wollte er sich lieber nicht erinnern.
Der Weg von der Bergspitze zum Auto hatte Roger so erschöpft, daß Brianna hinter dem Steuer Platz nahm. Ihr Gesicht war starr vor Anspannung. Die Hände wie Schraubstöcke um das Lenkrad geklammert, fuhr sie den Wagen zurück ins Pfarrhaus. Roger war neben ihr auf dem Beifahrersitz zusammengesunken. Im Rückspiegel sah er eine letzte schwache Glut auf der Bergkuppe. Sie beschien eine kleine Rauchwolke, die wie das Mündungsfeuer einer Kanone als Zeugnis der vergangenen Schlacht über dem Gipfel stehengeblieben war.
Jetzt beugte sich Brianna über das Sofa, auf dem ihre Mutter reglos wie eine in Stein gemeißelte Grabfigur lag. Schaudernd hatte Roger darauf verzichtet, die Scheite im Kamin anzuzünden, und statt dessen den kleinen Elektroofen angestellt, mit dem sich der Reverend an kalten Winterabenden die Füße gewärmt hatte. Die Stäbe glühten orangerot und heiß, und er gab ein freundliches Zischen von sich, das die Stille im Raum ein wenig erträglicher machte.
Roger setzte sich auf einen Schemel neben dem Sofa. Er fühlte sich matt und ausgelaugt. Mit letzter Kraft griff er nach dem Telefon auf dem Tischchen und ließ die Hand über dem Hörer schweben.
»Sollten wir nicht...«, er mußte sich räuspern, »sollten wir nicht den Arzt rufen? Und die Polizei?«
»Nein.« Brianna klang entschlossen. Aufmerksam beugte sie sich über die reglose Gestalt auf dem Sofa. »Sie kommt zu sich.«
Claires Lieder flatterten. Als die Erinnerung an die Schmerzen zurückkehrte, schlossen sie sich fest, doch dann entspannte sie sich und öffnete die Augen. Ihr Blick war klar und weich. Er glitt über Brianna, die hochaufgerichtet und steif neben ihr stand, und blieb schließlich an Roger haften.
Aus Claires Gesicht war alles Blut gewichen, und sie mußte mehr als einmal ansetzen, bevor sie ein heiseres Flüstern herausbrachte.
»Ist sie... durch den Stein gegangen?««
Claire hatte die Finger um eine Falte ihres Rockes geklammert, und als sie sie losließ, blieb ein dunkler Blutfleck auf dem Stoff zurück. Auch Roger hielt, ohne es zu merken, die Knie so fest umschlungen, daß sein Hände gefühllos wurden. Claire hatte sich also wie er verzweifelt gegen den Sog der Vergangenheit gestemmt. Überwältigt von der Erinnerung an diesen verzweifelten Kampf, schloß er die Augen. Dann nickte er.
»Ja«, sagte er. »Sie ist fort.«
Claire runzelte die Stirn und sah ihre Tochter fragend an. Doch es war Brianna, die die Frage in Worte faßte.
»Dann ist es also wahr?« fragte sie zögernd. »Das alles ist wahr?«
Ein Zittern durchlief Briannas Körper und ohne weiter nachzudenken, nahm Roger ihre Hand. Sie drückte sie so fest, daß er zusammenzuckte. Im Geiste hörte er einen Predigttext des Reverends: »Selig sind, die nicht sehen und trotzdem glauben.« Doch was ist mit jenen, die sehen müssen, um zu glauben? Brianna neben ihm glaubte, nachdem sie gesehen hatte, doch bang harrte sie der Dinge, die sie jetzt noch würde glauben müssen.
Claires geschwungene, blasse Lippen rundeten sich zum Ansatz eines Lächelns, und ein Ausdruck tiefen Friedens glättete das müde, bleiche Gesicht.
»Ja, es ist wahr«, sagte sie. Ein Hauch von Röte überzog die fahlen Wangen. »Oder glaubst du, deine Mutter lügt dich an?« Dann schloß sie wieder die Lider.
 
Roger beugte sich hinunter, um den Elektroofen abzuschalten. Die Nacht war kalt, doch er hielt es nicht länger im Studierzimmer, seinem gegenwärtigen Zufluchtsort, aus. Er mußte eine Entscheidung treffen.
Der Arzt und die Polizeibeamten waren noch in der Nacht gekommen und erst gegen Morgengrauen wieder aufgebrochen, nachdem sie Formulare ausgefüllt, Zeugenaussagen aufgenommen, Vitalfunktionen untersucht und alles unternommen hatten, um die Wahrheit zu verschleiern. Gesegnet sind, die nicht sehen, dachte Roger andächtig, und trotzdem glauben. Besonders in diesem Fall.
Schließlich waren sie mit ihren Formularen, ihren Polizeimarken und mit aufgeblendeten Autoscheinwerfern losgefahren, um die Bergung von Greg Edgars’ Leichnam zu überwachen und einen Haftbefehl gegen seine Frau zu erlassen, die sich, nachdem sie ihren Mann in den Tod gelockt hatte, auf der Flucht befand. Milde ausgedrückt.
Körperlich und geistig ausgelaugt, hatte Roger die Randalls in die Obhut Fionas und des Arztes gegeben. Dann war er zu Bett gegangen. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sich auszuziehen oder die Bettdecken zurückzuschlagen. Abends hatte ihn ein nagender Hunger geweckt. Als er nach unten kam, fand er seine Gäste - ähnlich in sich gekehrt, aber nicht ganz so zerzaust - damit beschäftigte, Fiona bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen.
Auch das Mahl verlief schweigsam. Spannung herrschte jedoch nicht zwischen ihnen; vielmehr schienen sich die drei auch ohne Worte zu verstehen. Brianna saß neben ihrer Mutter und strich ihr immer wieder über die Hände, wenn sie ihr einen Teller reichte, als wollte sie sich vergewissern, daß sie auch wirklich da war. Roger warf sie gelegentlich unter gesenkten Wimpern einen schüchternen Blick zu, doch sie sprach ihn nicht an.
Claire sagte wenig und aß fast nichts. Ruhig und schweigend saß sie da. Nach dem Essen entschuldigte sie sich, sie sei müde, und setzte sich ans Fenster am Ende der Halle. Brianna warf ihr einen raschen Blick zu und ging dann in die Küche, um Fiona beim Geschirrspülen zu helfen. Gesättigt von Fionas üppiger Mahlzeit, begab sich Roger ins Studierzimmer. Er wollte nachdenken.
Doch auch zwei Stunden später war er keinen Schritt weitergekommen. Auf Tisch und Schreibtisch stapelten sich Bücher, die klaffende Lücken im Regal hinterlassen hatten; andere lagen als Ausdruck seiner mühevollen Suche aufgeschlagen auf Sesseln und dem Sofa.
Es hatte einige Zeit gedauert, doch schließlich hatte er sie gefunden - jene kurze Passage, die ihm von seiner Recherche für Claire noch in Erinnerung geblieben war. Die Ergebnisse hatten ihr Frieden und Trost gebracht - dies würde eine entgegengesetzte Wirkung auf sie haben, wenn er ihr davon berichtete. Doch auch wenn dem so wäre, er mußte es ihr sagen, denn es erklärte das abgelegene Grab, so weit von Culloden entfernt.
Als er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, spürte er seine Bartstoppeln. Kein Wunder, daß er bei alledem, was passiert war, vergessen hatte, sich zu rasieren. Wenn er die Augen schloß, roch er wieder Rauch und Blut, sah die stechenden Flammen auf dem dunklen Hügel und die fliegenden blonden Haare, die er fast hätte berühren können. Ihn schauderte bei der Erinnerung, und plötzlich spürte er Ärger in sich aufsteigen. Claire hatte seinen inneren Frieden zerstört. Also konnte er gleiches mit gleichem vergelten. Und Brianna - wenn sie schon die Wahrheit kannte, dann sollte sie auch alles erfahren.
Claire saß noch immer mit angezogenen Füßen auf dem Fenstersitz und starrte durch die Scheiben in die Dunkelheit.
»Claire?« Seine Stimme klang heiser, und er räusperte sich. »Claire? Ich muß Ihnen etwas sagen.«
Sie wandte sich zu ihm um. Ihr Gesicht zeigte nicht die geringste Spur von Neugier. Er las darin den Frieden eines Menschen, der Schrecken, Verzweiflung, Trauer und schließlich die drückende Last, überleben zu müssen, ertragen hatte - und sich dennoch nicht hatte unterkriegen lassen. Als er sie so vor sich sah, hätte er seinen Plan am liebsten aufgegeben.
Doch sie hatte ihm die Wahrheit gesagt, und er schuldete ihr das gleiche.
»Ich habe etwas herausgefunden.« Überflüssigerweise hob er das Buch in die Höhe. »Über... über Jamie.« Den Namen auszusprechen, schien ihn zu stärken, als hätte er damit die kräftige Gestalt des Schotten heraufbeschworen, die nun fest und unerschütterlich zwischen Claire und ihm in der Halle Stellung bezog. Roger wappnete sich, indem er tief Luft holte.
»Was denn?«
»Sein letztes Vorhaben. Ich glaube... es ist ihm nicht gelungen.«
Sie wurde blaß und blickte mit großen Augen auf das Buch.
»Seine Männer? Aber Sie haben doch gesagt...«
»Das stimmt«, fiel Roger ihr ins Wort. »Ich bin mir eigentlich sicher, daß er es geschafft hat. Er hat die Männer von Lallybroch auf die Straße nach Hause gebracht und so vor der Schlacht bewahrt.«
»Aber was...«
»Anschließend wollte er zurückgehen in den Kampf, und ich glaube, das hat er auch getan.« Immer mehr widerstrebte es ihm fortzufahren, doch er hatte keine andere Wahl. Da er keine Worte fand, schlug er das Buch auf und las ihr vor:
 
»Nach der Entscheidungsschlacht von Culloden suchten achtzehn jakobitische Offiziere, allesamt verwundet, Zuflucht in einer alten Kate. Zwei Tage lagen sie dort in Schmerzen, ohne daß ihre Wunden versorgt wurden. Dann führte man sie zur Hinrichtung hinaus. Einer der Männer, ein Fräser aus dem Regiment des Herrn von Lovat, entkam dem Gemetzel; die anderen wurden am Rande des Parkes bestattet.«
 
»Einer der Männer, ein Fräser aus dem Regiment des Herrn von Lovat, entkam dem Gemetzel...«, wiederholte Roger leise. Er sah von dem Buch auf und blickte Claire in die Augen. Blind und wie gebannt starrte sie in weite Ferne.
»Er wollte auf dem Schlachtfeld von Culloden sterben«, flüsterte Roger. »Aber das ist ihm nicht gelungen.«
Die Geliehene Zeit
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