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Selig sind die...
Es gibt keinen dunkleren Ort auf der Welt als eine
Straße in den Highlands in einer mondlosen Nacht. Hin und wieder
tauchten die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos Rogers
dunkle Silhouette in helles Licht. Er hatte die Schultern
eingezogen, als wollte er sich gegen kommende Gefahren wappnen.
Brianna saß zusammengekauert neben mir auf der Rückbank. Keiner von
uns sprach ein Wort. Wir hatten uns voreinander zurückgezogen in
kleine, abgeschiedene Nischen des Schweigens.
Ich hatte die Hände in die Taschen gesteckt und
spielte mit Münzen, einem zerknüllten Papiertaschentuch, einem
Bleistiftstummel und einem Gummiball, den ein kleiner Patient auf
dem Fußboden meines Sprechzimmers hatte liegenlassen. Ich fuhr mit
dem Daumen über den Rand eines Vierteldollars, die Oberfläche eines
englischen Pennys und die kantigen Einkerbungen am Schlüssel zu
Gillian Edgars’ Studierzimmer, den ich dem Institut vorenthalten
hatte.
Bevor wir aufgebrochen waren, hatte ich noch einmal
versucht, bei Greg Edgars anzurufen. Doch obwohl ich es lange hatte
läuten lassen, nahm niemand ab.
Ich starrte aus dem Seitenfenster des Wagens, nahm
jedoch weder mein Spiegelbild wahr noch die Umrisse der schwarzen
Steinmauern und Bäume, die in der Dunkelheit an uns vorbeiflogen.
Statt dessen sah ich die Bücher vor mir, die säuberlich aufgereiht
wie die Gläser eines Apothekers auf dem Regal in dem kleinen
Studierzimmer standen. Darunter das Notizbuch, das logische
Schlußfolgerungen ebenso wie Vermutungen, Mythen wie Fakten,
Zusammenfassungen wissenschaftlicher Abhandlungen wie Legenden, all
das gegründet auf die Macht von Träumen enthielt. Ein
uninformierter Leser würde es wahrscheinlich für unausgegorenes
Zeug oder bestenfalls für den Entwurf zu einem eigenwilligen Roman
halten. Nur ich sah darin einen sorgfältig entwickelten Plan.
In naiver Anlehnung an die wissenschaftliche
Methode war der erste Teil des Buches mit »Beobachtungen«
überschrieben. Er bestand aus zusammenhanglosen Zitaten, Skizzen
und sorgfältig numerierten Tabellen. »Der Stand von Sonne und Mond
an Beltene«, war eine davon, die mehr als zweihundert Angaben
enthielt. Ähnliche Aufstellungen befaßten sich mit Imbolc, Lugnosa
und Samhain, den alten Sonnen- und Feuerfesten. Und morgen würden
wir Beltene feiern.
Der mittlere Teil des Buches trug den Titel
»Vermutungen«. Zumindest das war korrekt. Auf einer Seite stand:
»Die Druiden verbrannten ihre Menschenopfer in Weidenkäfigen, die
dem Körper des Menschen nachgebildet waren, doch manche wurden auch
durch den Strang getötet. Anschließend schlitzte man ihnen den Hals
auf, damit alles Blut herauslaufen konnte. Welches war der
entscheidende Bestandteil: Feuer oder Blut?« Die kaltblütige
Neugier, die aus dieser Frage sprach, ließ Geillis Duncans Bild
deutlich vor meinem inneren Auge entstehen - nicht die Schülerin
mit den großen Augen und dem glatten Haar, deren Foto man mir im
Institut gezeigt hatte, sondern die geheimnisvolle, zehn Jahre
ältere Frau des Prokurators mit dem schiefen Lächeln, die so
bewandert war in der Anwendung von Kräutern und dem Einsatz ihres
Körpers, die die Männer zu ihrem Instrument machte und
leidenschaftlos tötete, um ihre Ziele zu erreichen.
Der letzte Teil des Buches war mit
»Schlußfolgerungen« überschrieben und hatte uns in der Nacht vor
Beltene auf die Reise geführt. Ich umklammerte den Schlüssel und
wünschte mir von ganzem Herzen, Greg Edgars hätte den Telefonhörer
abgenommen.
Roger bremste und bog in den Feldweg am Fuße des
Craigh na Dun.
»Nichts zu sehen«, sagte er. Da er so lange nicht
gesprochen hatte, kam die Bemerkung nur als heiseres, kämpferisch
klingendes Krächzen heraus.
»Natürlich nicht«, erwiderte Brianna ungeduldig.
»Den Steinkreis kann man von hier aus nicht sehen.«
Roger murmelte etwas und bremste den Wagen noch
weiter ab.
Offensichtlich war Brianna angespannt - er aber auch. Nur Claire
wirkte ruhig und unberührt von der Spannung, die sich im Wagen
ausgebreitet hatte.
»Sie ist da«, sagte Claire plötzlich. Roger trat so
heftig auf die Bremse, daß Claire und Brianna nach vorn
geschleudert wurden.
»Paß auf, du Trottel«, fuhr Brianna Roger an.
Fahrig strich sie sich durchs Haar. Sie schluckte heftig und beugte
sich vor, um durch die Scheibe zu spähen.
»Wo?« fragte sie.
Um die Hände nicht aus den Taschen nehmen zu
müssen, wies Claire mit einem Kopfnicken nach rechts.
»Hinter diesem Gebüsch steht ein Auto.«
Roger fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und
streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Das ist das Auto der Edgars. Ich sehe mal nach.
Ihr bleibt hier.«
Brianna stieß die Autotür so heftig auf, daß sie in
den Scharnieren quietschte. Der zornige Blick, den sie Roger
zuwarf, trieb ihm die Röte auf die Wangen.
Noch bevor Roger ausgestiegen war, war Brianna
schon wieder zurück.
»Niemand da«, berichtete sie. Dann blickte sie zur
Bergkuppe hinauf. »Glaubt ihr...«
Doch Claire war bereits ausgestiegen, knöpfte sich
den Mantel zu und stapfte davon, ohne die Frage ihrer Tochter zu
beantworten.
»Hier geht’s lang«, meinte sie nur.
Sie ging vor den beiden her, und als Roger sie den
Berg hinaufeilen sah, fühlte er sich an den Ausflug nach St. Kilda
erinnert. Brianna schien es ähnlich zu gehen, denn sie zögerte und
schimpfte dann halblaut vor sich hin. Doch schließlich griff sie
nach seinem Arm und drückte ihn - ob sie ihn ermutigen oder um
seine Unterstützung bitten wollte, konnte er nicht sagen.
Jedenfalls gab es ihm Mut, und er tätschelte ihre Hand und zog sie
unter seinem Arm hindurch. Obwohl er sich nur mit gemischten
Gefühlen aufgemacht hatte, packte ihn eine gewisse Erregung, als
sie sich der Bergkuppe näherten.
Die Nacht war klar, mondlos und dunkel. Nur der
Silberglanz des Sternenlichts warf einen blassen Schein auf den
alten Steinkreis. Schweigend hielten die drei auf der sanft
gerundeten Bergkuppe inne. Roger kam sein eigener Atem unnatürlich
laut vor.
»Das hier«, zischte Brianna leise. »ist
Schwachsinn.«
»Nein, ist es nicht«, entgegnete Roger. Plötzlich
mußte er nach Luft ringen, als hätte sich ein unnachgiebiger Ring
um seine Brust gelegt. »Da drüben ist ein Licht.«
Obwohl man es kaum erkennen konnte - nur ein
Flackern, das gleich darauf wieder verschwunden war -, hatte
Brianna es auch gesehen. Roger hörte, wie sie scharf die Luft
einzog.
Was nun? fragte sich Roger. Sollten sie rufen? Oder
würden sie Gillian dadurch zu einer voreiligen Tat treiben? Und
wenn, was würde sie tun?
Plötzlich schüttelte Claire den Kopf, als wollte
sie eine Fliege verscheuchen. Sie trat so überstürzt von dem Stein
zurück, neben dem sie stand, daß sie beinahe über Roger gestolpert
wäre.
Er umfaßte ihren Arm. »Ruhig, ruhig«, murmelte er.
Ihr Gesicht war nur ein blasser Fleck in der Dunkelheit, doch er
spürte, wie sie ein Schauder überlief. Steif und unentschlossen
stand er da.
Erst der durchdringende Geruch nach Petroleum
weckte ihn aus seiner Trance. Nur undeutlich nahm er wahr, wie
Brianna hastig den Kopf herumwarf, als sie den Gestank wahrnahm. Im
nächsten Moment hatte er Claires Arm losgelassen und lief zur Mitte
des Steinkreises, wo sich eine zusammengekauerte Gestalt dunkel vom
grasbewachsenen Boden abhob.
Da durchbrach Claires lauter und drängender Ruf die
Stille.
»Gillian!«
Doch in diesem Moment zischte leise eine Flamme
auf, und die Nacht war plötzlich taghell erleuchtet. Roger
stolperte, vom Licht geblendet, und fiel auf die Knie.
Einen Moment lang konnte er außer der schmerzenden
Helligkeit des Feuers nichts erkennen. Er hörte einen Schrei und
spürte Briannas Hand auf seiner Schulter. Tränen traten ihm in die
Augen, und verzweifelt blinzelte er, aber er nahm nur undeutlich
wahr, was vor sich ging.
Vor dem Feuer zeichnete sich eine schlanke Gestalt
ab. Sie trug ein enges Mieder und einen langen, bauschigen Rock -
Kleider aus einer anderen Zeit. Bei Claires Ruf hatte sie sich
umgewandt, und Roger erhaschte einen Blick auf die großen Augen und
das blonde Haar, das von der Hitze des Feuers aufgewirbelt
wurde.
Als Roger sich auf die Füße mühte, schoß ihm die
Frage durch den Kopf, wie Gillian einen Baumstamm dieser Größe hier
heraufgeschafft
hatte. Dann traf ihn der Geruch nach verbrannten Haaren und
Fleisch wie ein Schlag und plötzlich wurde es ihm klar. Greg Edgars
war an diesem Abend nicht zu Hause gewesen. Und da Gillian nicht
wußte, ob nun Menschenblut oder Feuer bei der Zeremonie
entscheidend war, hatte sie sich für beides entschieden.
Er schob sich an Brianna vorbei und steuerte
geradewegs auf die große, schlanke Frau zu. Als sie ihn kommen sah,
wandte sie sich um und lief rasch wie der Wind zu dem gespaltenen
Stein am anderen Ende des Kreises. Über der Schulter trug sie einen
Rucksack aus Leinwand.
Einen Augenblick blieb sie vor dem Stein stehen,
legte die Hand auf den Felsen und sah zurück. Roger hätte schwören
können, daß ihr Blick auf ihm verweilte und über die Feuerbarriere
hinweg dem seinen begegnete. Er öffnete den Mund zu einem stummen
Ruf, doch sie wirbelte herum und verschwand in der
Felsspalte.
Das Feuer, der Leichnam, ja die Nacht selbst,
verschwand in einem ohrenbetäubenden Schrei. Plötzlich lag Roger
auf dem Bauch und fuhr mit den Händen wie rasend über das Gras, auf
der Suche nach etwas Vertrautem, an dem er sich festhalten konnte.
Selbst der Boden, auf dem er lag, schien unter ihm nachzugeben, als
läge er auf Flugsand statt auf Granitgestein.
Geblendet von dem gleißenden Licht, taub von dem
markerschütternden Schrei des sich öffnenden Steins, suchte Roger
nach einem Halt, schlug wild um sich, verlor die Herrschaft über
seine Glieder. Er nahm nur noch einen übermächtigen Sog und den
Drang, dagegen anzukämpfen, wahr.
Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen, es
war, als würde er schon immer in dieser furchtbaren Leere kämpfen.
Endlich jedoch wurde er etwas außerhalb seiner selbst gewahr. Hände
klammerten sich verzweifelt an seine Arme, und weiche Brüste
preßten sich an sein Gesicht.
Allmählich kehrte sein Hörvermögen zurück, und er
vernahm eine Stimme, die ihm Schimpfworte an den Kopf warf.
»Du Dummkopf! Du... Trottel! Wach auf, Roger, du...
Vollidiot!« Obwohl die Stimme nur gedämpft an sein Ohr drang,
verstand er den Sinn der Worte sehr wohl. Mit fast übermenschlicher
Anstrengung streckte er den Arm aus und griff nach Briannas
Handgelenken. Halbblind sah er das tränenüberströmte Gesicht von
Brianna Randall über sich.
Der Gestank nach Petroleum und verbranntem Fleisch
war mehr, als er ertragen konnte. Roger wurde von einem Würgereiz
gepackt, drehte sich auf die Seite und erbrach sich ins feuchte
Gras.
Nachdem er sich den Mund am Ärmel abgewischt hatte,
streckte er unsicher die Hand nach Brianna aus, die sich zitternd
zusammengekauert hatte.
»O mein Gott!« stammelte sie. »O Gott! Ich hätte
nicht gedacht, daß ich dich noch zurückhalten könnte. O mein Gott!
Du bist geradewegs auf den Stein zugekrochen.«
Er zog sie an sich, und sie leistete keinen
Widerstand. Zitternd stand sie da, während ihr Tränen aus den
blicklosen, geweiteten Augen rollten. Immer wieder stammelte sie:
»O Gott!«
»Ist ja gut«, sagte Roger und strich ihr über den
Rücken. »Es wird alles wieder gut.« Allmählich verschwand das
Schwindelgefühl, obwohl es ihm immer noch so vorkam, als hätte man
ihn auseinandergenommen und die Teile wahllos in alle vier
Himmelsrichtungen verstreut.
Von dem geschwärzten Objekt auf dem Boden kam ein
leises Knacken, doch ansonsten war die Nacht wieder still. Aber
Roger legte die Hände auf die Ohren, als wollte er sie vor dem
Dröhnen verschließen, das noch immer in seinem Kopf
widerhallte.
»Hast du es auch gehört?« fragte er. Brianna nickte
mechanisch.
»Hat deine...«, setzte er an. Nur mühsam ordnete er
seine Gedanken. Doch plötzlich fuhr er senkrecht in die Höhe.
»Deine Mutter!« rief er. Grob griff er Brianna am
Arm. »Wo ist Claire?«
Entsetzt riß Brianna den Mund auf. Ihr Blick flog
verzweifelt über das leere Rund des Kreises, an dessen Rand die
mannshohen Steine im flackernden Schein der Flammen glühten.
»Mutter!« schrie sie. »Mutter, wo bist du?«
»Es geht ihr gut«, sagte Roger beschwichtigend.
»Bald ist sie wieder in Ordnung.«
Im Grunde hatte er keine Ahnung, ob Claire wieder
genesen würde. Aber wenigstens eins stand fest: Sie war noch am
Leben.
Sie hatten Claire bewußtlos am Rand des Kreises im
Gras gefunden, bleich wie das Licht des Mondes, der sich allmählich
am Himmel zeigte. In aller Eile hatte Roger Claire den Berghang
hinuntergetragen, wobei er ständig über Steine stolperte und mit
den
Kleidern im Gestrüpp hängenblieb. An diesen höllischen Abstieg
wollte er sich lieber nicht erinnern.
Der Weg von der Bergspitze zum Auto hatte Roger so
erschöpft, daß Brianna hinter dem Steuer Platz nahm. Ihr Gesicht
war starr vor Anspannung. Die Hände wie Schraubstöcke um das
Lenkrad geklammert, fuhr sie den Wagen zurück ins Pfarrhaus. Roger
war neben ihr auf dem Beifahrersitz zusammengesunken. Im
Rückspiegel sah er eine letzte schwache Glut auf der Bergkuppe. Sie
beschien eine kleine Rauchwolke, die wie das Mündungsfeuer einer
Kanone als Zeugnis der vergangenen Schlacht über dem Gipfel
stehengeblieben war.
Jetzt beugte sich Brianna über das Sofa, auf dem
ihre Mutter reglos wie eine in Stein gemeißelte Grabfigur lag.
Schaudernd hatte Roger darauf verzichtet, die Scheite im Kamin
anzuzünden, und statt dessen den kleinen Elektroofen angestellt,
mit dem sich der Reverend an kalten Winterabenden die Füße gewärmt
hatte. Die Stäbe glühten orangerot und heiß, und er gab ein
freundliches Zischen von sich, das die Stille im Raum ein wenig
erträglicher machte.
Roger setzte sich auf einen Schemel neben dem Sofa.
Er fühlte sich matt und ausgelaugt. Mit letzter Kraft griff er nach
dem Telefon auf dem Tischchen und ließ die Hand über dem Hörer
schweben.
»Sollten wir nicht...«, er mußte sich räuspern,
»sollten wir nicht den Arzt rufen? Und die Polizei?«
»Nein.« Brianna klang entschlossen. Aufmerksam
beugte sie sich über die reglose Gestalt auf dem Sofa. »Sie kommt
zu sich.«
Claires Lieder flatterten. Als die Erinnerung an
die Schmerzen zurückkehrte, schlossen sie sich fest, doch dann
entspannte sie sich und öffnete die Augen. Ihr Blick war klar und
weich. Er glitt über Brianna, die hochaufgerichtet und steif neben
ihr stand, und blieb schließlich an Roger haften.
Aus Claires Gesicht war alles Blut gewichen, und
sie mußte mehr als einmal ansetzen, bevor sie ein heiseres Flüstern
herausbrachte.
»Ist sie... durch den Stein gegangen?««
Claire hatte die Finger um eine Falte ihres Rockes
geklammert, und als sie sie losließ, blieb ein dunkler Blutfleck
auf dem Stoff zurück. Auch Roger hielt, ohne es zu merken, die Knie
so fest umschlungen, daß sein Hände gefühllos wurden. Claire hatte
sich
also wie er verzweifelt gegen den Sog der Vergangenheit gestemmt.
Überwältigt von der Erinnerung an diesen verzweifelten Kampf,
schloß er die Augen. Dann nickte er.
»Ja«, sagte er. »Sie ist fort.«
Claire runzelte die Stirn und sah ihre Tochter
fragend an. Doch es war Brianna, die die Frage in Worte
faßte.
»Dann ist es also wahr?« fragte sie zögernd. »Das
alles ist wahr?«
Ein Zittern durchlief Briannas Körper und ohne
weiter nachzudenken, nahm Roger ihre Hand. Sie drückte sie so fest,
daß er zusammenzuckte. Im Geiste hörte er einen Predigttext des
Reverends: »Selig sind, die nicht sehen und trotzdem glauben.« Doch
was ist mit jenen, die sehen müssen, um zu glauben? Brianna neben
ihm glaubte, nachdem sie gesehen hatte, doch bang harrte sie der
Dinge, die sie jetzt noch würde glauben müssen.
Claires geschwungene, blasse Lippen rundeten sich
zum Ansatz eines Lächelns, und ein Ausdruck tiefen Friedens
glättete das müde, bleiche Gesicht.
»Ja, es ist wahr«, sagte sie. Ein Hauch von Röte
überzog die fahlen Wangen. »Oder glaubst du, deine Mutter lügt dich
an?« Dann schloß sie wieder die Lider.
Roger beugte sich hinunter, um den Elektroofen
abzuschalten. Die Nacht war kalt, doch er hielt es nicht länger im
Studierzimmer, seinem gegenwärtigen Zufluchtsort, aus. Er mußte
eine Entscheidung treffen.
Der Arzt und die Polizeibeamten waren noch in der
Nacht gekommen und erst gegen Morgengrauen wieder aufgebrochen,
nachdem sie Formulare ausgefüllt, Zeugenaussagen aufgenommen,
Vitalfunktionen untersucht und alles unternommen hatten, um die
Wahrheit zu verschleiern. Gesegnet sind, die nicht sehen, dachte
Roger andächtig, und trotzdem glauben. Besonders in diesem
Fall.
Schließlich waren sie mit ihren Formularen, ihren
Polizeimarken und mit aufgeblendeten Autoscheinwerfern losgefahren,
um die Bergung von Greg Edgars’ Leichnam zu überwachen und einen
Haftbefehl gegen seine Frau zu erlassen, die sich, nachdem sie
ihren Mann in den Tod gelockt hatte, auf der Flucht befand. Milde
ausgedrückt.
Körperlich und geistig ausgelaugt, hatte Roger die
Randalls in
die Obhut Fionas und des Arztes gegeben. Dann war er zu Bett
gegangen. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sich
auszuziehen oder die Bettdecken zurückzuschlagen. Abends hatte ihn
ein nagender Hunger geweckt. Als er nach unten kam, fand er seine
Gäste - ähnlich in sich gekehrt, aber nicht ganz so zerzaust -
damit beschäftigte, Fiona bei der Zubereitung des Abendessens zu
helfen.
Auch das Mahl verlief schweigsam. Spannung
herrschte jedoch nicht zwischen ihnen; vielmehr schienen sich die
drei auch ohne Worte zu verstehen. Brianna saß neben ihrer Mutter
und strich ihr immer wieder über die Hände, wenn sie ihr einen
Teller reichte, als wollte sie sich vergewissern, daß sie auch
wirklich da war. Roger warf sie gelegentlich unter gesenkten
Wimpern einen schüchternen Blick zu, doch sie sprach ihn nicht
an.
Claire sagte wenig und aß fast nichts. Ruhig und
schweigend saß sie da. Nach dem Essen entschuldigte sie sich, sie
sei müde, und setzte sich ans Fenster am Ende der Halle. Brianna
warf ihr einen raschen Blick zu und ging dann in die Küche, um
Fiona beim Geschirrspülen zu helfen. Gesättigt von Fionas üppiger
Mahlzeit, begab sich Roger ins Studierzimmer. Er wollte
nachdenken.
Doch auch zwei Stunden später war er keinen Schritt
weitergekommen. Auf Tisch und Schreibtisch stapelten sich Bücher,
die klaffende Lücken im Regal hinterlassen hatten; andere lagen als
Ausdruck seiner mühevollen Suche aufgeschlagen auf Sesseln und dem
Sofa.
Es hatte einige Zeit gedauert, doch schließlich
hatte er sie gefunden - jene kurze Passage, die ihm von seiner
Recherche für Claire noch in Erinnerung geblieben war. Die
Ergebnisse hatten ihr Frieden und Trost gebracht - dies würde eine
entgegengesetzte Wirkung auf sie haben, wenn er ihr davon
berichtete. Doch auch wenn dem so wäre, er mußte es ihr sagen, denn
es erklärte das abgelegene Grab, so weit von Culloden
entfernt.
Als er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, spürte
er seine Bartstoppeln. Kein Wunder, daß er bei alledem, was
passiert war, vergessen hatte, sich zu rasieren. Wenn er die Augen
schloß, roch er wieder Rauch und Blut, sah die stechenden Flammen
auf dem dunklen Hügel und die fliegenden blonden Haare, die er fast
hätte berühren können. Ihn schauderte bei der Erinnerung, und
plötzlich spürte er Ärger in sich aufsteigen. Claire hatte seinen
inneren Frieden zerstört. Also konnte er gleiches mit gleichem
vergelten. Und
Brianna - wenn sie schon die Wahrheit kannte, dann sollte sie auch
alles erfahren.
Claire saß noch immer mit angezogenen Füßen auf dem
Fenstersitz und starrte durch die Scheiben in die Dunkelheit.
»Claire?« Seine Stimme klang heiser, und er
räusperte sich. »Claire? Ich muß Ihnen etwas sagen.«
Sie wandte sich zu ihm um. Ihr Gesicht zeigte nicht
die geringste Spur von Neugier. Er las darin den Frieden eines
Menschen, der Schrecken, Verzweiflung, Trauer und schließlich die
drückende Last, überleben zu müssen, ertragen hatte - und sich
dennoch nicht hatte unterkriegen lassen. Als er sie so vor sich
sah, hätte er seinen Plan am liebsten aufgegeben.
Doch sie hatte ihm die Wahrheit gesagt, und er
schuldete ihr das gleiche.
»Ich habe etwas herausgefunden.« Überflüssigerweise
hob er das Buch in die Höhe. »Über... über Jamie.« Den Namen
auszusprechen, schien ihn zu stärken, als hätte er damit die
kräftige Gestalt des Schotten heraufbeschworen, die nun fest und
unerschütterlich zwischen Claire und ihm in der Halle Stellung
bezog. Roger wappnete sich, indem er tief Luft holte.
»Was denn?«
»Sein letztes Vorhaben. Ich glaube... es ist ihm
nicht gelungen.«
Sie wurde blaß und blickte mit großen Augen auf das
Buch.
»Seine Männer? Aber Sie haben doch gesagt...«
»Das stimmt«, fiel Roger ihr ins Wort. »Ich bin mir
eigentlich sicher, daß er es geschafft hat. Er hat die Männer von
Lallybroch auf die Straße nach Hause gebracht und so vor der
Schlacht bewahrt.«
»Aber was...«
»Anschließend wollte er zurückgehen in den Kampf,
und ich glaube, das hat er auch getan.« Immer mehr widerstrebte es
ihm fortzufahren, doch er hatte keine andere Wahl. Da er keine
Worte fand, schlug er das Buch auf und las ihr vor:
»Nach der Entscheidungsschlacht von Culloden
suchten achtzehn jakobitische Offiziere, allesamt verwundet,
Zuflucht in einer alten Kate. Zwei Tage lagen sie dort in
Schmerzen, ohne daß ihre Wunden versorgt wurden. Dann führte man
sie zur Hinrichtung hinaus. Einer der Männer, ein Fräser aus dem
Regiment des Herrn von
Lovat, entkam dem Gemetzel; die anderen wurden am Rande des Parkes
bestattet.«
»Einer der Männer, ein Fräser aus dem Regiment
des Herrn von Lovat, entkam dem Gemetzel...«, wiederholte Roger
leise. Er sah von dem Buch auf und blickte Claire in die Augen.
Blind und wie gebannt starrte sie in weite Ferne.
»Er wollte auf dem Schlachtfeld von Culloden
sterben«, flüsterte Roger. »Aber das ist ihm nicht gelungen.«