15
Notenschlüssel
Nachdem wir die zweite Flasche entkorkt hatten, brüteten wir bis tief in die Nacht über den letzten der erbeuteten Briefe des Chevalier de St. George- auch bekannt als Seine Majestät James III- und den Schreiben der jakobitischen Anhänger an Prinz Charles.
»Fergus hat ein ganzes Bündel erwischt, das für Seine Hoheit bestimmt war«, erklärte Jamie. »Es waren so viele Briefe, daß wir sie gar nicht schnell genug abschreiben konnten. Deshalb habe ich einige davon bis zum nächsten Raubzug zurückbehalten.«
»Schau.« Er zog ein Blatt aus dem Stapel und legte es mir aufs Knie. »Die meisten Briefe sind verschlüsselt, so wie dieser hier: ›Wie ich höre, soll es in den Hügeln um Salerno genügend Hühner geben; die Jäger können also auf zahlreiche Trophäen hoffen.‹ Das ist leicht zu entziffern. Es bezieht sich auf Manzetti, den italienischen Bankier aus Salerno. Ich habe herausgefunden, daß Charles mit ihm zu Abend gegessen hat und ihn dazu bewegen konnte, ihm fünfzehntausend Livres zu leihen-James’ Ratschlag hat sich offensichtlich ausgezahlt. Hier jedoch...« Er blätterte in dem Haufen und zog ein weiteres Papier hervor.
»Sieh dir das an.« Jamie reichte mir ein mit schiefen Zeichen bekritzeltes Blatt.
Gehorsam warf ich einen Blick darauf, und es gelang mir, inmitten eines Geflechts von Pfeilen und Fragezeichen einzelne Buchstaben zu entziffern.
»Welche Sprache ist das?« fragte ich. "Polnisch?« Schließlich war Charles Stuarts Mutter Klementine Polin, eine geborene Sobieski.
»Nein, Englisch«, entgegnete Jamie grinsend. »Siehst du das nicht?«
»Du etwa?«
»Aber gewiß doch«, meinte er selbstgefällig. »Es ist ein Code, Sassenach, und zwar ein ziemlich einfacher. Man muß die Buchstaben zunächst in Fünfergruppen aufteilen. Das Q und das X dürfen dabei jedoch nicht mitgezählt werden. Das X markiert den Punkt zwischen zwei Sätzen, und ein Q soll einfach nur zusätzliche Verwirrung stiften.«
»Wenn du meinst«, erwiderte ich und blickte von der verwirrenden Buchstabenfolge am Briefanfang auf das Blatt in Jamies Hand, auf dem in einer Zeile ein Anzahl Schriftzeichen in Fünfergruppen geschrieben standen. Darüber war eine zweite Reihe einzelner Lettern gesetzt.
»Das heißt: Ein Buchstabe wird durch einen anderen ersetzt, ohne daß sich jedoch die Buchstabenfolge ändert«, erklärte Jamie. »Wenn also ein langer Text zu entschlüsseln ist, aus dem sich hin und wieder ein Wort erraten läßt, muß man ihn nur von einem Alphabet ins andere übertragen - verstanden?« Er wedelte mit dem langen Papierstreifen vor meiner Nase herum, auf den zwei Buchstabenreihen übereinander geschrieben waren.
»Ja, mehr oder weniger«, sagte ich. »Ich nehme an, du weißt, wovon du sprichst, und darauf kommt es an. Was steht denn in dem Brief?«
Das lebhafte Interesse, das Jamie bei der Entschlüsselung eines Rätsels stets an den Tag legte, schwand aus seinem Gesicht, und er senkte das Blatt. Mit zusammengekniffenen Lippen sah er mich an.
»Es ist seltsam«, meinte er. »Und ich täusche mich gewiß nicht. In James’ Briefen schwingt fast immer der gleiche Ton mit. Und in dem verschlüsselten kommt es ganz deutlich zum Ausdruck.«
Eindringlich sah er mich an. »James möchte, daß Charles Louis’ Anerkennung findet«, sagte er langsam, »aber er sucht keinerlei Unterstützung für eine Invasion Schottlands. Offensichtlich hat James kein Interesse daran, den Thron zu besteigen.«
»Was?« Ich riß ihm das Bündel mit den Briefen aus der Hand und versuchte fieberhaft, die Schriftzüge zu entziffern.
Jamie hatte recht. James’ Anhänger sprachen in ihren Briefen hoffnungsvoll von der Rückeroberung des Thrones, während James’ eigene Mitteilungen an seinen Sohn nicht einmal den leisesten Hinweis darauf enthielten; statt dessen sprach aus ihnen der Wunsch, Charles solle auf Louis einen guten Eindruck machen. Selbst die Anleihe bei Manzetti aus Salerno galt allein dem Zweck, Charles das Auftreten eines Gentleman zu ermöglichen. Militärische Absichten steckten nicht dahinter.
»Ich glaube, James ist ein schlauer Fuchs«, meinte Jamie und tippte auf einen der Briefe. »Weißt du, Sassenach, er selbst hat wenig Geld. Seine Frau war reich, aber laut Onkel Alex hat sie ihr gesamtes Vermögen der Kirche vermacht. Der Papst hat James immer unterstützt. Da James ein katholischer Monarch ist, muß der Papst seinen Interessen vor jenen des Hauses Hannover den Vorrang geben.«
Er schlang die Hände um die Knie und betrachtete nachdenklich den Stapel Briefe, der zwischen uns lag.
»Philipp von Spanien und Louis - ich meine den alten König Louis - statteten ihn vor dreißig Jahren mit ein paar Truppen und einer bescheidenen Flotte aus, mit deren Hilfe er versuchen sollte, den Thron zurückzuerobern. Aber das Unternehmen scheiterte. Einige Schiffe sanken bei einem Unwetter, anderen fehlte es an Lotsen, so daß sie am falschen Ort landeten. Nichts glückte, und schließlich segelten die Franzosen wieder zurück in die Heimat, ohne daß James auch nur den Fuß auf schottischen Boden gesetzt hatte. Vielleicht hat er deshalb jeden Gedanken an eine Rückeroberung des Thrones fallenlassen. Andererseits hat er zwei halberwachsene Söhne, die einem unsicheren Leben entgegensehen.
Ich frage mich, Sassenach, was ich in einer solchen Situation tun würde. Wahrscheinlich würde ich versuchen, meinen guten Cousin Louis - schließlich ist er König von Frankreich - dazu zu bewegen, einem meiner Söhne eine gute Position zu geben. Zum Beispiel beim Militär, mit einer Anzahl von Männern unter seiner Befehlsgewalt. Die Stellung eines französischen Generals ist nicht die schlechteste.«
»Das stimmt.« Ich nickte nachdenklich. »Aber als schlauer Fuchs würde ich nicht vor Louis hintreten und betteln wie ein armer Verwandter, sondern meinen Sohn nach Paris schicken und damit moralischen Druck auf den König ausüben, daß er ihn am Hof aufnimmt. Gleichzeitig würde ich jedermann in dem Glauben lassen, ich ließe nichts unversucht, den Thron zurückzuerobern.«
»Denn sobald James offen zugibt, daß die Stuarts nie wieder in Schottland regieren werden«, fügte James leise hinzu, »verliert er für Louis jeden Wert.«
Ohne die Drohung einer bewaffneten jakobitischen Invasion, die die Engländer beschäftigen würde, hätte Louis kaum noch einen Grund, seinem jungen Verwandten mehr als eine kümmerliche Apanage zu zahlen.
Aber sicher war das alles noch nicht. Die Briefe, in deren Besitz Jamie gelangt war, reichten nicht weiter zurück als bis Januar, dem Zeitpunkt von Charles’ Ankunft in Frankreich. Und da sie entweder verschlüsselt oder sehr vorsichtig formuliert waren, ließen sie viele Fragen offen. Aber letztlich deutete alles in ein und dieselbe Richtung.
Wenn Jamie die Absichten des Chevalier also richtig einschätzte, hatte sich unsere Aufgabe bereits erledigt, hatte eigentlich nie existiert.
 
Da meine Gedanken unablässig um die Ereignisse der vergangenen Nacht kreisten, war ich am darauffolgenden Tag sehr zerstreut - angefangen von einer Dichterlesung im Haus von Marie d’Arbanville über den Besuch bei einem Kräutersammler aus der Nachbarschaft, bei dem ich ein wenig Baldrian und Iriswurzel erwarb, bis zu meinen Pflichten im Hôpital des Anges.
Schließlich ließ ich die Arbeit ruhen, denn ich befürchtete, jemandem Schaden zuzufügen, während ich so vor mich hinträumte. Ich schlüpfte aus meinem Kittel, und da weder Murtagh noch Fergus erschienen waren, um mich nach Hause zu begleiten, wartete ich in Schwester Hildegardes Schreibzimmer im Vestibül des Spitals.
Nachdem ich ungefähr eine halbe Stunde lang gelangweilt den Stoff meines Kleides gefältet hatte, hörte ich, wie draußen der Hund anschlug.
Der Pförtner war - wie so oft - nicht da. Gewiß besorgte er sich gerade etwas zu essen, oder er erledigte einen Botengang für die Nonnen. Und wie immer hatte man die Bewachung des Portals während seiner Abwesenheit in Boutons Pfoten - und Zähne - gelegt.
Dem ersten kurzen Kläffer folgte ein tiefes, verhaltenes Knurren, das den Eindringling warnte, keinen Schritt mehr zu tun, wollte er nicht unverzüglich zerfleischt werden. Ich steckte den Kopf aus der Türe, um zu sehen, ob Vater Balmain im Interesse seiner frommen Pflichten erneut den Gefahren des Dämons trotzte. Doch bei der Figur, die sich vor dem großen Buntglasfenster der Eingangshalle abzeichnete, handelte es sich nicht um den zarten jungen Priester. Ein Kilt umspielte graziös die Beine des hochgewachsenen Mannes, als er vor dem kleinen zähnebleckenden Untier zu seinen Füßen zurückwich.
Überrumpelt von dem Angriff, kniff Jamie die Augen zusammen. Er beschattete sie vor dem grellen Sonnenlicht, das das Fenster zurückwarf, und blickte suchend in den Schatten.
»Hallo, kleiner Hund«, grüßte er höflich, während er sich mit ausgestreckter Hand einen Schritt vorantastete. Bouton verstärkte sein Knurren um einige Grade, so daß Jamie abermals zurückwich.
»Aha, daher weht der Wind!« Mit zusammengekniffenen Augen sah er den Hund an.
»Denk noch mal drüber nach, Bursche. Ich bin doch um etliches größer. Wenn ich du wäre, würde ich mich auf keine voreiligen Abenteuer einlassen.«
Bouton rutschte zwar ein Stückchen nach hinten, gab aber immer noch Geräusche wie eine entfernte Fokker von sich.
»Schneller«, fügte Jamie hinzu und machte einen Ausfall. Als Boutons Zähne seine Wade um Haaresbreite verfehlten, trat er hastig zurück, lehnte sich mit verschränkten Armen an die Mauer und nickte dem Hund zu.
»Zugegeben, du bist mir überlegen. Wenn Zähne ins Spiel kommen, habe ich keine Chance!« Bouton vernahm diese eleganten Worte mit mißtrauisch aufgestelltem Ohr, knurrte aber etwas verhaltener.
Jamie schlug einen Fuß über den anderen, wie jemand, der den lieben langen Tag vertrödeln möchte. »Gewiß hast du Besseres zu tun, als unschuldige Besucher zu bedrängen«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Ich habe bereits von dir gehört - du bist doch der berühmte Kerl, der Krankheiten erschnüffelt, nicht wahr? Also, weshalb vertrödelst du deine Zeit damit, Türen zu bewachen, wenn du dich doch viel nützlicher machen kannst, indem du Gichtzehen und vereiterte Arschlöcher beschnoberst? Das beantworte mir mal.«
Doch mehr als einen scharfen Kläffer erntete er nicht, als er seine überkreuzten Füße löste.
Mit raschelndem Gewand trat Mutter Hildegarde hinter mich.
»Was gibt es?« erkundigte sie sich, als sie sah, wie ich um die Ecke lugte. »Haben wir Besuch?«
»Bouton hat offensichtlich eine Meinungsverschiedenheit mit meinem Mann«, entgegnete ich.
»Das muß ich mir von dir nicht bieten lassen, verstehst du!« drohte Jamie währenddessen. »Ich brauche bloß mein Plaid über dich werfen, und schon sitzt du in der Falle wie ein... Oh, bonjour, Madame!« Flink wechselte er beim Anblick von Mutter Hildegarde ins Französische.
»Bonjour, Monsieur Fräser!« Mit einer anmutigen Geste neigte sie den Kopf, vermutlich weniger, um seinen Gruß zu erwidern, als um ihr Lächeln zu verbergen. »Wie ich sehe, haben Sie bereits mit Bouton Bekanntschaft gemacht. Suchen Sie vielleicht Ihre Frau?«
Das war mein Stichwort, und ich trat hinter ihr aus dem Schreibzimmer. Der Blick meines ergebenen Ehemannes wanderte vom Hund zur Tür des Schreibzimmers, und offensichtlich zog er seine Schlüsse.
»Wie lange hast du schon dort gestanden, Sassenach?« fragte er trocken.
»Lange genug«, erwiderte ich mit der selbstgefälligen Sicherheit derjenigen, die in Boutons Gunst standen. »Was hättest du mit ihm gemacht, nachdem du ihn in dein Plaid eingewickelt hast?«
»Ich hätte ihn aus dem Fenster geworfen und wäre auf und davon gerannt«, antwortete er mit einem ehrfürchtigen Seitenblick auf Mutter Hildegardes imposante Gestalt. »Spricht sie zufällig Englisch?«
»Nein - zum Glück für dich!« erwiderte ich. Dann wechselte ich ins Französische über.
»Monsieur«, Mutter Hildegarde hatte ihren Sinn für Humor nun fest im Griff und begrüßte Jamie mit formidabler Leutseligkeit. »Wir lassen Ihre Frau ungern gehen, aber wenn Sie sie brauchen...«
»Ich bin nicht wegen meiner Frau hier«, unterbrach Jamie sie. »Ich wollte zu Ihnen, ma mere
 
Nachdem Jamie in Mutter Hildegardes Schreibzimmer Platz genommen hatte, legte er die mitgebrachten Papiere auf den blankpolierten Tisch. Bouton ließ sich zu Füßen seiner Herrin nieder und legte die Schnauze auf die Pfoten. Er hielt die Ohren wachsam gespitzt, falls er doch noch den Befehl erhalten sollte, dem Besucher das Fleisch von den Knochen zu reißen.
Jamie blickte mit zusammengekniffenen Augen auf Bouton und zog die Füße außer Reichweite der witternden schwarzen Nase. »Herr Gerstmann hat mir empfohlen, Sie wegen dieser Dokumente hier um Rat zu fragen, Mutter«, setzte er an, während er das dicke Bündel auseinanderrollte und glattstrich.
Mit hochgezogenen Brauen ließ Mutter Hildegarde den Blick auf Jamie ruhen, bevor sie sich den Papieren zuwandte. Wie viele Menschen in verantwortungsvollen Positionen besaß auch sie die Fähigkeit, sich der vorliegenden Angelegenheit scheinbar völlig konzentriert zu widmen, sich gleichzeitig aber nicht das geringste Anzeichen, das von einem Notfall im Hause künden würde, entgehen zu lassen.
»Nun?« fragte sie. Mit ihrem eckigen Finger verfolgte sie die festgehaltene Melodie Note für Note, als würde sie sie durch die Berührung hören.
»Was möchten Sie wissen, Monsieur Fraser?« erkundigte sie sich.
»Ich bin mir nicht sicher, Mutter.« Neugierig beugte Jamie sich vor und strich nachdenklich über die schwarzen Linien. Die Finger ließ er dort ruhen, wo die Hand des Schreibers die Zeilen verschmiert hatte, bevor die Tinte getrocknet war.
»Irgend etwas ist eigenartig an dieser Melodie, Mutter.«
Der große Mund der Nonne verzog sich wie zu einem Lächeln.
»Tatsächlich, Monsieur Fraser? Und doch habe ich gehört - bitte nehmen Sie es mir nicht übel -, daß Musik für Sie ein Buch mit sieben Siegeln ist.« Jamie lachte auf, und eine Schwester, die gerade vorbeikam, wandte sich erschreckt um. Im Spital war es zwar laut, aber gelacht wurde dort recht selten.
»Das ist eine sehr taktvolle Umschreibung, Mutter. Und eine sehr zutreffende. Wenn Sie eines dieser Stücke singen würden«, er klopfte leicht auf das zart raschelnde Pergament, »könnte ich die Melodie nicht vom Kyrie eleison oder La Dame fait bien unterscheiden - den Text allerdings schon«, fügte er grinsend hinzu.
Mutter Hildegarde lachte. »Nun, Monsieur Fraser«, erwiderte sie, »wenigstens lauschen Sie den Worten!« Sie nahm die Blätter. Ich sah, wie der untere Teil ihres Kragensaums leicht zitterte, als würde sie im stillen singen. Dabei schlug sie mit einem ihrer großen Füße den Takt.
Jamie verharrte schweigend auf seinem Hocker, betrachtete Mutter Hildegarde aufmerksam und ließ sich von dem Lärm auf den Gängen des Spitals in keiner Weise ablenken. Patienten schrien, Pfleger und Nonnen riefen sich Anweisungen zu, Familienangehörige schluchzten vor Sorge oder Bekümmerung, und die altehrwürdigen Mauern des Gebäudes hallten von den gedämpften Geräuschen der metallenen Instrumente wider - doch weder Jamie noch Mutter Hildegarde ließen sich stören.
Schließlich senkte die Nonne die Blätter und blickte über den Rand des Papiers zu Jamie hinüber. Ihre Augen strahlten, und plötzlich wirkte sie wie ein junges Mädchen.
»Ich glaube, Sie haben recht«, bemerkte sie. »Im Augenblick fehlt mir die Zeit, mich gründlicher damit zu befassen, aber irgend etwas stimmt hier nicht.« Sachte klopfte sie auf die Blätter und legte sie ordentlich zusammen. »Wirklich außergewöhnlich!«
»Können Sie herausfinden, was dieses Muster bedeutet, Mutter? Bestimmt keine leichte Aufgabe. Ich habe guten Grund zu der Annahme, daß es sich um eine verschlüsselte Botschaft in englischer Sprache handelt, obwohl die Liedtexte in Deutsch gehalten sind.«
Mutter Hildegarde blickte überrascht auf.
»In Englisch? Sind Sie sicher?«
Jamie schüttelte den Kopf. »Nein, sicher bin ich mir nicht, aber ich vermute es. Vor allem, weil die Lieder in England abgeschickt worden sind.«
»Nun, Monsieur«, entgegnete sie mit gerunzelter Stirn, »Ihre Frau spricht Englisch, nicht wahr? Sicherlich können Sie auf Ihre Gesellschaft ein wenig verzichten, damit sie mir beim Entziffern zur Seite steht, oder?«
Jamie betrachtete sie mit einem Lächeln, das dem ihren gleichkam. Dann wanderte sein Blick zu Boden, wo Boutons Barthaare bedrohlich zitterten.
»Ich biete Ihnen einen Tausch an, Mutter«, schlug er vor. »Wenn Ihr Hund mich auf meinem Weg nach draußen nicht in den Hintern beißt, überlasse ich Ihnen meine Frau.«
 
So ergab es sich, daß ich an jenem Abend nicht in die Rue Tremoulins zurückkehrte, sondern mit den Schwestern des Couvent des Anges im Refektorium zu Abend aϐ und anschließend Mutter Hildegarde in ihre Privaträume folgte.
Die kleine Wohnung der Mutter Oberin bestand aus drei Räumen. Der Salon zeugte von einem gewissen Wohlstand und war zweifellos der Ort, wo sie offizielle Besucher empfing. Mit dem Anblick, den der zweite Raum bot, hatte ich allerdings nicht gerechnet. Zunächst schien das kleine Zimmer nichts anderes als ein großes Cembalo aus glänzendem Walnußholz zu enthalten, verziert mit kleinen, handgemalten Blumen und einer Weinrebe, die oberhalb des Ebenholzmanuals entsproß und sich um den gesamten Korpus des Instruments wand.
Auf den zweiten Blick entdeckte ich dann ein paar andere Möbel, einschließlich einer Bücherwand, in der sich dicht an dicht musikhistorische Bücher und handgebundene Manuskripte drängten - ähnlich jenem, das Mutter Hildegarde jetzt auf den Notenständer des Cembalos legte.
Sie schob mich zu einem Stuhl vor dem Sekretär.
»Dort finden Sie leere Blätter und Tinte, Madame. Nun wollen wir einmal sehen, was uns dieses kleine Lied zu sagen hat.«
Die Notenlinien zogen sich sauber über die gesamte Seite des Pergaments, und die Noten, Schlüssel, Pausen und Versetzungszeichen waren sorgfältig gemalt worden. Es handelte sich offensichtlich um eine endgültige Fassung und nicht um einen Entwurf oder eine hastig hingeworfene Melodie. Oben auf dem Blatt stand der Titel: »Lied des Landes.«
»Der Name läßt ahnen, daß es sich um eine schlichte Weise handelt, ähnlich einem Volkslied«, erklärte Mutter Hildegarde. »Aber damit stimmt die Kompositionsform nicht überein. Können Sie vom Blatt lesen?« Sie legte die Finger ihrer großen, groben Rechten unvermutet behutsam auf die Tasten.
Ich lehnte mich über Mutter Hildegardes Schulter und sang die ersten drei Zeilen. Plötzlich hörte sie zu spielen auf und blickte zu mir hoch.
»Das ist die Grundmelodie, die sich später in Variationen wiederholt - aber in was für welchen! Sie müssen wissen, daß mir etwas Ähnliches schon einmal untergekommen ist. Es stammte von einem alten Deutschen namens Bach; hin und wieder schickt er mir eines seiner Werke...« Flüchtig wies sie auf das Regal mit den Handschriften. »Er nennt diese kunstvollen Musikstücke ›Inventionen‹. Die Variationen erscheinen in zwei oder drei ineinander verwobenen melodischen Linien. Dies hier«, mit verächtlich geschürzten Lippen deutete sie zu dem Lied, »könnte man als eine unbeholfene Imitation dieser Kompositionen bezeichnen. Ich könnte sogar schwören...« Murmelnd schob sie die Bank aus Walnußholz zurück, ging hinüber zu dem Regal und fuhr mit dem Finger über die Handschriftenreihen.
Sie fand das Gesuchte und kehrte mit drei gebundenen Notenheften zur Bank zurück.
»Hier sind die Stücke von Bach. Sie sind schon ein paar Jahre alt. Ich habe mich länger nicht damit beschäftigt. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher...« Sie verstummte und blätterte nacheinander die auf ihren Knien abgelegten Hefte durch, während sie ab und zu einen Blick auf das ›Lied‹ warf, das auf dem Notenständer des Klaviers lehnte.
»Ha!« Triumphierend hielt sie mir ein Musikstück entgegen. »Sehen Sie das hier?«
Die Seite trug die unleserlich hingeworfene Überschrift Goldberg-Variationen. Ehrfürchtig berührte ich das Notenblatt, schluckte schwer und lenkte den Blick wieder auf das ›Lied‹. Fast sofort erkannte ich, was Mutter Hildegarde gemeint hatte.
»Sie haben recht, die gleiche Melodie!« rief ich aus. »Hier und da eine andere Note, aber im Grunde ist es das Thema von Bach. Wirklich eigenartig!«
»Nicht wahr?« fiel sie höchst befriedigt ein. »Bleibt die Frage, warum unser anonymer Komponist Melodien stiehlt und sich ihrer auf so seltsame Weise bedient.«
Da diese Frage offensichtlich rhetorisch gemeint war, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
»Ist Bachs Musik zur Zeit sehr beliebt, Mutter?« Ich konnte mich nicht erinnern, in den Salons etwas von ihm gehört zu haben.
»Nein«, antwortete sie kopfschüttelnd und blickte auf die Komposition. »In Frankreich ist er nicht sonderlich bekannt. Ich glaube, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren genoß er in Deutschland und Österreich ein gewisses Ansehen, aber selbst dort wird seine Musik nur selten öffentlich aufgeführt. Ich fürchte, daß seine Kompositionen nicht von Dauer sein werden; sie sind klug, aber ohne Herz. - Hmm, sehen Sie das hier?« Ihr kräftiger Zeigefinger tippte mal hierhin, mal dorthin, während sie geschwind die Seiten umblätterte.
»Die Melodie kehrt ständig wieder, jedoch immer in einer anderen Tonart. Vermutlich war es das, was Ihrem Mann ins Auge gestochen ist. Selbst jemandem, der keine Noten lesen kann, muß der dauernde Vorzeichenwechsel auffallen.«
Das stimmte: jeder Tonartwechsel war mit einem senkrechten Doppelstrich, einem neuen Violinschlüssel und den entsprechenden Vorzeichen kenntlich gemacht.
»Fünf verschiedene Tonarten in einem so kurzen Stück«, bemerkte sie und klopfte zur Bekräftigung erneut auf die Handschrift. »Und Veränderungen, die in musikalischer Hinsicht keinerlei Sinn machen. Schauen Sie, die Grundmelodie bleibt die gleiche, aber wir bewegen uns von der Tonart B-Dur mit zwei b zu A-Dur mit drei Kreuzen. Noch seltsamer ist es hier: Da schreibt er zwei Kreuze vor, erhöht darüber hinaus aber noch jedes einzelne g zum Gis.«
»Eigentümlich«, pflichtete ich ihr bei. Aufgrund des individuell gesetzten Gis war der Abschnitt in D-Dur identisch mit den A-Dur-Takten. Mit anderen Worten, es gab eigentlich keinen Grund, die Tonart zu wechseln.
»Ich kann kein Deutsch«, sagte ich. »Verstehen Sie den Sinn der Worte, Mutter?«
Bei ihrem Nicken raschelten die Falten ihres schwarzen Schleiers. Konzentriert blickte sie auf das Blatt.
»Ein abscheulicher Text«, murmelte sie leise. »Nicht, daß man von den Deutschen große Dichtkunst erwartet, aber dies hier... wirklich...« Sie brach ab. »Wenn die Vermutung Ihres Mannes stimmt und es sich um einen verschlüsselten Text handelt, muß die Nachricht in den Worten liegen. Daher werden sie selbst nicht sonderlich viel Bedeutung haben.«
»Wie lautet der Text?« wollte ich wissen.
»›Meine Schäferin tollt mit den Lämmlein durch die grünen Hügel‹«, übersetzte sie. »Entsetzlicher Stil. Aber mit der Grammatik wird in Liedtexten oft recht frei umgegangen, wenn der Dichter unbedingt möchte, daß sich die Zeilen reimen. Und das ist bei Liebesliedern fast immer der Fall.«
»Kennen Sie viele Liebeslieder?« fragte ich neugierig. Mutter Hildegarde war heute abend voller Überraschungen.
»Jedes gute Musikstück ist seinem Wesen nach ein Liebeslied«, entgegnete sie sachlich. »Aber was Ihre Frage betrifft - ja, ich kenne viele. Als junges Mädchen«, sie lächelte, da sie wußte, wie schwer es mir fallen mußte, sie sich als Kind vorzustellen, »war ich so etwas wie ein Wunderkind, müssen Sie wissen. Alles, was ich gehört hatte, konnte ich aus dem Gedächtnis nachspielen, und mit sieben habe ich mein erstes Stück komponiert.« Sie deutete auf das Cembalo mit der glänzenden Oberfläche.
»Meine Familie ist wohlhabend, und wenn ich als Knabe zur Welt gekommen wäre, hätte ich zweifellos den Beruf des Musikers gewählt.« Sie sagte das schlicht, ohne jede Spur von Bedauern.
»Aber hätten Sie nicht auch als verheiratete Frau komponieren können?« fragte ich neugierig.
Mutter Hildegarde breitete die Hände aus.
»Es war wohl die Schuld des heiligen Anselm«, meinte sie, nachdem sie eine Weile über meine Frage sinniert hatte.
»Wirklich?«
Mein Erstaunen entlockte ihrem häßlichen Gesicht ein Lächeln, wodurch ihre Züge weicher wirkten.
»Ja. Mein Pate - der ehemalige Sonnenkönig«, fügte sie wie beiläufig hinzu, »schenkte mir zu meinem achten Namenstag ein Buch mit den Lebensbeschreibungen von Heiligen. Ein wunderschöner Band«, erinnerte sie sich, »mit Goldschnitt und edelsteinbesetzten Buchdeckeln. Eher als Kunstwerk gedacht denn als Lektüre. Trotzdem las ich es. Zwar fand ich an allen Geschichten Gefallen - insbesondere an denen über die Märtyrer -, aber im Lebenslauf des heiligen Anselm gab es einen Satz, der etwas in meinem Innersten berührte.«
Sie schloß die Augen und lehnte sich zurück.
»St. Anselm war ein weiser und gebildeter Mann, ein Doktor der Theologie. Gleichzeitig diente er als Bischof und nahm sich seiner Schäfchen und ihrer Wünsche und Seelennöte an. In dem Buch wurde ausführlich über seine guten Taten erzählt, und die Geschichte endete mit den Worten: ›Bei seinem Tode konnte er auf ein erfülltes Leben im Dienste seiner Nächsten zurückblicken, und so war ihm als Lohn das Paradies beschieden.‹« Sie hielt inne und verschränkte ihre Hände locker über den Knien.
»Die Worte ›ein erfülltes Leben im Dienste seiner Nächsten< waren es, die mich nicht mehr losließen.« Sie lächelte mich an. »Ich könnte mir weitaus schlimmere Grabinschriften vorstellen, Madame.« Unvermittelt hob sie die Arme und zuckte die Achseln - eine seltsam graziöse Geste.
»Ich wollte auch ein erfülltes Leben führen.« Mit dieser knappen Erklärung beendete sie die kurze Abschweifung und wandte sich wieder den Noten auf dem Notenständer zu.
»Also, der Wechsel der Tonarten - das ist das Seltsame daran. Wie sollen wir das verstehen?«
Unwillkürlich entfuhr mir ein Schrei. Da wir uns die ganze Zeit auf französisch unterhalten hatten, war es mir bisher nicht aufgefallen. Aber während Mutter Hildegarde ihre Geschichte erzählte, hatte ich englisch mitgedacht, und als ich nun wieder auf die Noten blickte, traf es mich wie ein Blitz.
»Der Schlüssel!« rief ich halb lachend. »Der Schlüssel. Zu dem Rätsel! Tonart heißt auf englisch key. Aber das Wort für den Gegenstand, mit dem man etwas aufsperrt...« Ich deutete auf den großen Schlüsselbund, den Mutter Hildegarde normalerweise am Gürtel trug, jedoch bei Betreten des Zimmers auf dem Bücherregal abgelegt hatte.
»Ma mère, im Englischen tragen diese Begriffe dieselben Namen. key bedeutet Tonart und Schlüssel. Und die Tonart ist der Schlüssel zu unserem Rätsel. - Jamie«, fügte ich hinzu, »hat ja gesagt, daß ein Engländer den Text verschlüsselt hat - und der muß einen wahrhaft diabolischen Sinn für Humor haben.«
Diese Erkenntnis brachte uns der Lösung näher. Wenn es sich um einen englischen Autor handelte, hatte er die Nachricht vermutlich auch auf englisch verfaßt und den deutschen Text nur als Buchstabenquelle verwendet. Da ich Jamie bereits beim Experimentieren mit Alphabet und Buchstaben beobachtet hatte, bedurfte es nur weniger Versuche, das Muster zu entdecken.
»Zwei b heißt, daß man vom Beginn des Abschnitts an jeden zweiten Buchstaben nehmen muß«, stellte ich fest und schrieb das Ergebnis eifrig nieder. »Und bei drei Kreuzen jeden dritten Buchstaben vom Ende des Abschnitts an. Wahrscheinlich hat sich der Verfasser der deutschen Sprache bedient, um den Sinn des Textes zu verschleiern. Um das gleiche auszudrücken, benötigt man fast doppelt so viele Wörter wie im Englischen.«
»Sie haben Tinte an der Nase«, stellte Mutter Hildegarde fest, bevor sie mir über die Schulter blickte. »Ergibt es einen Sinn?«
»Ja«, erwiderte ich. Mein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Ja, es ergibt einen Sinn.«
Die entschlüsselte Nachricht war kurz, unmißverständlich und äußerst beunruhigend.
»›Die treuen englischen Untertanen Seiner Majestät erwarten seine rechtmäßige Wiedereinsetzung. Fünfzigtausend Pfund stehen Euch zur Verfügung, sobald Eure Hoheit englischen Boden betreten‹«, las ich laut. »Ein Buchstabe, ein S, bleibt übrig. Es ist mir nicht klar, ob dieses S so etwas wie eine Unterschrift ist, oder ob es nur für die deutsche Wortendung notwendig war.«
»Hm.« Mutter Hildegarde blickte erst neugierig auf die Nachricht, dann auf mich. »Sie wissen es wahrscheinlich schon«, meinte sie kopfnickend, »aber Sie können Ihrem Mann versichern, daß ich nichts weitererzählen werde.«
»Er hätte Sie nicht um Hilfe gebeten, wenn er Ihnen nicht vertrauen würde«, entgegnete ich entrüstet.
Ihre hochgezogenen Augenbrauen berührten fast den Schleier, als sie mit Nachdruck auf das Blatt tippte.
»Wenn dies hier Teil seiner Aufgabe ist, geht er ein erhebliches Risiko ein, jedem beliebigen Menschen sein Vertrauen zu schenken. Sagen Sie ihm, daß ich die Ehre zu schätzen weiß«, fügte sie trocken hinzu.
»Das werde ich«, erwiderte ich lächelnd.
»Nun, chère Madame«, sagte sie, plötzlich aufmerksam geworden. »Sie sind sehr blaß! Wenn ich mit einem neuen Stück beschäftigt bin, bleibe ich oft lange wach und mache mir wenig Gedanken über die späte Stunde. Aber für Sie ist es sicherlich schon spät.« Sie warf einen Blick auf die brennende Stundenkerze auf dem kleinen Tisch neben der Tür.
»Du lieber Himmel, es ist ja bereits tiefe Nacht! Soll ich Schwester Madeleine bitten, Sie in Ihre Kammer zu begleiten?« Widerwillig hatte Jamie Mutter Hildegardes Vorschlag zugestimmt, ich solle die Nacht im Couvent des Anges verbringen, um nicht noch spätabends durch die dunklen Straßen nach Hause gehen zu müssen.
Ich schüttelte den Kopf. Zwar war ich müde, und mein Rücken schmerzte, aber ich wollte nicht zu Bett gehen. Der Inhält dieser musikalischen Nachricht war zu beunruhigend, als daß ich sofort hätte einschlafen können.
»Nun gut, dann sollten wir noch eine kleine Erfrischung zu uns nehmen, um den Erfolg unserer Anstrengungen zu feiern.« Mutter Hildegarde erhob sich und ging in den Salon nebenan, von wo ich das Klingeln der Glocke hörte. Eine Nonne, gefolgt von Bouton, trug ein Tablett mit heißer Milch und kleinen glasierten Gebäckstücken herein. Als wäre es das Natürlichste von der Welt, legte sie ein Törtchen auf einen kleinen Porzellanteller und stellte ihn zusammen mit einer Schale Milch vor Bouton hin.
Während ich die heiße Milch trank, legte Mutter Hildegarde das Papier, das uns so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte, auf den Sekretär und zog ein handgeschriebenes Notenblatt hervor.
»Ich werde etwas für Sie spielen«, kündigte sie an. »Es wird Ihnen helfen, sich auf den Schlaf einzustimmen.«
Eine leichte und beruhigende Musik erklang. In angenehmer Vielfarbigkeit strömte sie vom Diskant über den Baß und wieder zurück, jedoch ohne die für Bach typische vorantreibende Kraft.
»Haben Sie das komponiert?« fragte ich, als sie nach dem Schlußakkord die Hände von den Tasten nahm.
Ohne sich umzuwenden, schüttelte sie den Kopf.
»Nein, ein Freund, Jean Philippe Rameau. Eher ein guter Theoretiker als ein Komponist voller Leidenschaft.«
Hinweggetragen von der Musik, war ich offensichtlich eingenickt, denn plötzlich erwachte ich von Schwester Madeleines Gemurmel und ihrem warmen, festen Griff, mit dem sie mich auf die Füße stellte, bevor sie mich wegführte.
Als ich mich umwandte, sah ich Mutter Hildegardes ausladenden Rücken unter dem schwarzen Gewand und die Rundungen ihrer kräftigen Schultern, während sie spielte - der Welt außerhalb ihres Allerheiligsten offensichtlich weit entrückt. Unweit ihrer Füße lag Bouton auf den Dielen, die Nase auf den Pfoten und den schmalen Körper pfeilgerade ausgerichtet wie eine Kompaßnadel.
 
»Das heißt also«, meinte Jamie, »daß mehr als bloßes Gerede dahintersteckt - vielleicht!«
»Vielleicht?« hakte ich nach. »Ein Angebot in Höhe von fünfzigtausend Pfund klingt recht handfest.« Fünfzigtausend Pfund entsprachen zur damaligen Zeit dem Jahreseinkommen eines mittelgroßen Herzogtums.
Spöttisch hob er beim Anblick des handgeschriebenen Notenblatts, das ich bei meiner Rückkehr aus dem Konvent bei mir trug, eine Braue.
»Nun, ein solches Angebot ist kein großes Risiko, da es zur Bedingung macht, daß einer von beiden - Charles oder James - englischen Boden betritt. Wenn Charles nach England kommt, heißt das, daß er bereits anderweitig Unterstützung bekommen hat, mit deren Hilfe er nach Schottland gelangen konnte. Nein, dieses Angebot ist deswegen so interessant, weil es der erste sichere Hinweis darauf ist, daß mindestens einer der Stuarts wirklich einen Versuch unternimmt, den Thron zu erobern.«
»Einer von ihnen?« Mir war diese Einschränkung nicht entgangen. »Willst du damit sagen, daß James nicht daran beteiligt ist?« Ich betrachtete die verschlüsselte Nachricht mit wachsendem Interesse.
»Die Mitteilung war für Charles bestimmt«, erinnerte mich Jamie, »und sie kam direkt aus England - nicht über Rom. Fergus hat sie einem gewöhnlichen Boten entwendet und nicht einem päpstlichen Abgesandten; sie lag in einem Päckchen, das mit englischen Siegeln versehen war. Nach allem, was ich in James’ Briefen gelesen habe...« Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. Er war noch unrasiert, und im Morgenlicht tanzten auf seinen kastanienbraunen Stoppeln kleine kupferfarbene Funken.
»Das Paket war geöffnet worden; Charles hat die Nachricht also gesehen. Da sie kein Datum trug, weiß ich nicht, wann er sie erhalten hat. Natürlich kennen wir die Briefe nicht, die Charles seinem Vater geschrieben hat. Aber in James’ Schreiben wird nie jemand erwähnt, der der Komponist sein könnte, geschweige denn konkrete Versprechen englischer Unterstützung.«
Mir wurde klar, worauf er abzielte.
»Und Louise de La Tour schwatzte davon, Charles wolle ihre Ehe annullieren lassen, damit er sie zur Frau nehmen könne, wenn er erst einmal König wäre. Meinst du also, Charles hat nicht bloß vor ihr großgetan?«
»Vielleicht nicht«, antwortete er. Er goß Wasser aus dem Krug im Schlafzimmer in die Schüssel und benetzte damit sein Gesicht.
»Dann ist es also möglich, daß Charles auf eigene Faust handelt?« fragte ich, entsetzt und fasziniert von dieser Möglichkeit. »Vielleicht hat James seinem Sohn aufgetragen, er solle so tun, als planten sie den Griff nach dem Thron, um Louis von ihrem Wert zu überzeugen...«
»... und Charles tut nicht nur so«, unterbrach Jamie. »Ja, sicher, so mag es scheinen. Ist hier irgendwo ein Handtuch, Sassenach?« Mit zusammengekniffenen Augen und tropfnassem Gesicht tastete er über den Tisch. Ich brachte das Manuskript in Sicherheit und reichte ihm das Handtuch.
Kritisch prüfte er die Rasierklinge. Nachdem er sie für tauglich befunden hatte, lehnte er sich über meinen Toilettentisch, betrachtete sich im Spiegel und verteilte den Rasierschaum auf den Wangen.
»Warum ist es barbarisch, wenn ich mir die Haare an den Beinen und unter den Achseln rasiere, und warum ist es nicht barbarisch, wenn du dir das Gesicht rasierst?« wollte ich wissen, als er die Oberlippe straff über die Schneidezähne schob und den Bereich unter der Nase in Angriff nahm.
»Es ist auch barbarisch«, antwortete er und blinzelte sich im Spiegel zu, »aber wenn ich es nicht tue, juckt es höllisch.«
»Hast du dir jemals einen Bart wachsen lassen?« fragte ich neugierig.
»Nicht absichtlich«, entgegnete er mit einem schiefen Lächeln, als er über eine Wange kratzte, »aber zu meiner Zeit als Geächteter in Schottland war ich hin und wieder dazu gezwungen. Wenn ich vor der Wahl stand, mich entweder mit einer stumpfen Klinge und in einem kalten Bach zu rasieren oder es jucken zu lassen, entschied ich mich für das Jucken.«
Ich lachte und sah zu, wie er die Klinge mit einem Schwung über den Kiefer zog.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie du mit einem Vollbart aussiehst. Ich kenne dich nur im stoppeligen Zustand.«
Mit einem Mundwinkel lächelte er mich an, den anderen zog er nach unten, um die Wange unterhalb des markanten Backenknochens zu bearbeiten.
»Wenn wir das nächste Mal nach Versailles eingeladen werden, Sassenach, frage ich, ob wir den Zoo besuchen können. Louis hält dort ein Tier, das einer seiner Kapitäne von Borneo mitgebracht hat. Es nennt sich Orang-Utan. Hast du jemals einen gesehen?«
»Ja«, erwiderte ich, »im Londoner Zoo gab es vor dem Krieg zwei.«
»Dann kannst du dir vorstellen, wie ich mit Bart aussehe«, sagte er lächelnd und beendete die Rasur mit einer gründlichen Prüfung seines Kinns. »Rauh und mottenzerfressen. So ähnlich wie der Vicomte de Marigny«, fügte er hinzu, »nur rot.«
Als hätte ihn der Name an unser Gespräch erinnert, nahm er den Faden wieder auf, während er sich die restliche Seife mit dem Leinenhandtuch vom Gesicht wischte.
»Ich denke, wir sollten jetzt ein scharfes Auge auf die Engländer in Paris haben.« Er nahm das Notenblatt vom Bett und überflog nachdenklich die Seiten. »Falls ihm tatsächlich jemand Unterstützung in diesem Ausmaß gewähren will, wird er vermutlich einen Boten zu Charles schicken. Wenn ich fünfzigtausend Pfund riskiere, würde es mich doch sehr interessieren zu sehen, was ich dafür bekomme. Oder was meinst du?«
»O ja, sicher«, antwortete ich. »Und apropos Engländer-kauft Seine Hoheit in patriotischer Gesinnung den Weinbrand bei dir und Jared, oder beehrt er etwa Mr. Silas Hawkins?«
»Mr. Hawkins, der unbedingt in Erfahrung bringen möchte, wie das politische Klima im schottischen Hochland ist?« Voller Bewunderung schüttelte Jamie den Kopf. »Eigentlich habe ich dich geheiratet, weil du ein hübsches Gesicht hast und einen schönen runden Hintern. Und nun stellt sich heraus, daß du auch noch denken kannst!« Geschickt wich er dem Hieb aus, den ich ihm übers Ohr ziehen wollte, und grinste mich an.
»Ich weiß es nicht, Sassenach, aber ich werde es heute noch in Erfahrung bringen.«
Die Geliehene Zeit
gaba_9783641059972_oeb_cover_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_toc_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_fm1_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_ata_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_fm2_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_ded_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_fm3_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_p01_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c01_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c02_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c03_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c04_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c05_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_p02_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c06_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c07_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c08_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c09_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c10_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c11_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c12_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c13_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c14_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c15_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c16_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c17_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_p03_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c18_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c19_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c20_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c21_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_p04_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c22_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c23_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c24_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c25_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c26_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c27_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c28_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c29_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_p05_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c30_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c31_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c32_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c33_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c34_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c35_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_p06_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c36_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c37_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c38_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c39_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c40_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c41_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c42_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c43_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c44_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c45_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c46_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_p07_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c47_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c48_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_c49_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_ack_r1.html
gaba_9783641059972_oeb_cop_r1.html