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Ein Kapitel, in dem allerhand
schiefgeht
Ich kauerte mich näher ans Feuer und streckte
meine Hände aus, um sie aufzutauen. Sie waren schmutzig, weil ich
den ganzen Tag die Zügel gehalten hatte, und ich fragte mich, ob es
der Mühe wert war, zum Fluß zu gehen und sie zu waschen. Manchmal
überstieg es einfach meine Kräfte, moderne Hygienevorstellungen
beizubehalten. Es war verdammt noch mal kein Wunder, wenn die
Menschen so oft krank wurden und früh starben, dachte ich mißmutig.
Häufig erlagen sie nur ihrer Unwissenheit und schlichtem
Dreck.
Die Vorstellung, im Schmutz zu verenden, brachte
mich trotz meiner Müdigkeit auf die Beine. Das Ufer des kleinen
Flusses, der am Lager vorbeifloß, war sumpfig, und meine Schuhe
sanken tief in den Morast ein. Nachdem meine Hände sauber und meine
Füße naß waren, schleppte ich mich zurück zum Feuer, wo Korporal
Rowbotham mit einer Schale, die angeblich Eintopf enthielt, auf
mich wartete.
»Mit den besten Empfehlungen vom Hauptmann, Madam«,
sagte er mit einer ehrerbietigen Verneigung, als er mir das
Schüsselchen reichte, »und ich soll Ihnen auch sagen, daß wir
morgen in Tavistock sind. Da gibt es ein Gasthaus.« Er war in den
mittleren Jahren und hatte ein rundes, freundliches Gesicht.
Zögernd sah er mich an, dann fügte er hinzu: »Der Hauptmann
entschuldigt sich für das schlechte Quartier, Madam, aber für heute
nacht haben wir Ihnen ein Zelt aufgestellt. Nichts Besonderes, aber
vielleicht hält’s wenigstens den Regen ab.«
»Danken Sie dem Hauptmann in meinem Namen«,
erwiderte ich, so freundlich ich konnte. »Und auch Ihnen danke
ich«, fügte ich etwas herzlicher hinzu. Mir war vollkommen klar,
daß mich Hauptmann Mainwaring als lästige Bürde betrachtete und
keinen Gedanken daran verschwendete, wie ich die Nacht verbrachte.
Das
Zelt - ein Stück Leinwand, sorgfältig über einen Ast gespannt und
an beiden Seiten mit Pflöcken befestigt - war zweifellos das
alleinige Werk von Korporal Rowbotham.
Der Unteroffizier entfernte sich. Ich blieb allein
zurück und verzehrte bedächtig angebrannte Kartoffeln und sehniges
Rindfleisch. Am Fluß hatte ich ein Büschel späten Ackersenf
gefunden und hatte eine Handvoll davon mitgenommen. Außerdem hatte
ich noch ein paar Wacholderbeeren, die ich bei einer früheren Rast
gepflückt hatte. Die Senfblätter waren alt und ausgesprochen
bitter, aber zwischen zwei Bissen Kartoffeln brachte ich sie
hinunter. Zum Abschluß würgte ich die Wacholderbeeren hastig
hinunter. Ihr strenges Aroma trieb mir das Wasser in die Augen,
aber wenigstens übertönte es den Geschmack nach Fett und
Angebranntem, und zusammen mit den Senfblättern boten sie
vielleicht hinreichend Schutz vor Skorbut.
In meinem Medizinkasten verwahrte ich einen reichen
Vorrat an Hagebutten, getrockneten Äpfeln und Dillsamen. All das
hatte ich sorgfältig gesammelt, um während der langen Wintermonate
Mangelkrankheiten vorzubeugen. Ich hoffte nur, daß Jamie auch davon
aß.
Ich legte meinen Kopf auf die Knie. Obwohl ich
nicht glaubte, daß mich jemand ansah, wollte ich mein Gesicht
verbergen, wenn ich an Jamie dachte.
Am Falkirk Hill hatte ich mich so lange wie möglich
ohnmächtig gestellt. Aber schon bald wurde ich von einem britischen
Dragoner aufgeschreckt, der versuchte, mir Weinbrand aus seinem
Flachmann einzuflößen. Da meine »Retter« nicht recht wußten, was
sie mit mir anfangen sollten, hatten sie mich nach Callendar House
gebracht und General Hawleys Stab übergeben.
So weit war alles nach Plan verlaufen. Doch
innerhalb der nächsten Stunde war einiges schiefgegangen. Während
ich in einem Vorzimmer saß und den Gesprächen in meiner Umgebung
lauschte, wurde mir klar, daß die vermeintlich große Schlacht am
Vorabend nur ein Scharmützel zwischen den MacKenzies und einem
Trupp englischer Soldaten gewesen war, die sich Hawleys Armee
anschließen wollten. Besagte Armee sammelte sich soeben, um sich
dem erwarteten Angriff der Hochländer am Falkirk Hill zu stellen.
In Wahrheit hatte die Schlacht noch gar nicht stattgefunden!
General Hawley hatte mit den Vorbereitungen alle
Hände voll zu
tun, und da offensichtlich niemand eine Ahnung hatte, was mit mir
geschehen sollte, wurde ich in die Obhut eines jungen Gefreiten
gegeben und zusammen mit einem Brief, der die näheren Umstände
meiner Rettung schilderte, ins zeitweilige Hauptquartier eines
gewissen Oberst Campbell nach Kerse geschickt. Leider war der
Soldat, ein stämmiger junger Mann namens Dubbs, geradezu übereifrig
darauf bedacht, seine Pflicht zu erfüllen, und all meine Versuche,
ihm unterwegs zu entwischen, waren fehlgeschlagen.
Als wir in Kerse ankamen, mußten wir feststellen,
daß man Oberst Campbell nach Livingston abberufen hatte.
»Allem Anschein nach«, hatte ich meinem Wächter
einreden wollen, »hat Oberst Campbell weder Zeit noch Lust, mit mir
zu sprechen. Ich könnte ihm ohnehin nichts sagen. Warum darf ich
mich nicht einfach hier in der Stadt einmieten, bis ich
Vorkehrungen getroffen habe, meine Reise nach Edinburgh
fortzusetzen?« Da mir nichts Besseres eingefallen war, hatte ich
den Engländern dieselbe Geschichte erzählt, die ich vor zwei Jahren
bereits Colum MacKenzie aufgetischt hatte: Ich sei eine verwitwete
Dame aus Oxford und auf dem Weg zu Verwandten in Schottland,
überfallen und von schottischen Straßenräubern entführt
worden.
Der Gefreite Dubbs schüttelte den Kopf und errötete
eigensinnig. Er konnte nicht älter als zwanzig sein und wirkte
nicht besonders aufgeweckt, aber wenn er sich einmal etwas in den
Kopf gesetzt hatte, konnte ihn nichts davon abbringen.
»Das kann ich nicht zulassen, Mrs. Beauchamp«,
sagte er - ich hatte meinen Mädchennamen angegeben -, »Hauptmann
Bledsoe läßt mich vierteilen, wenn ich Sie nicht unversehrt beim
Oberst abliefere.«
Also ging es, auf dem Rücken der beiden
armseligsten Klepper, die ich je gesehen hatte, weiter nach
Livingston. Endlich wurde ich von meinem Begleiter erlöst, was
meine Lage leider auch nicht verbesserte. Statt dessen saß ich im
oberen Stockwerk eines Hauses in Livingston und erzählte meine
Geschichte einem gewissen Oberst Gordon MacLeish Campbell. Er
stammte aus dem schottischen Tiefland und befehligte eins der
Regimenter des Kurfürsten von Hannover.
»Aye, ich verstehe«, sagte er in einem Ton, der
verriet, daß er rein gar nichts verstand. Er war klein, hatte ein
Fuchsgesicht und schütteres rotes Haar, das streng aus der Stirn
gekämmt war. Mit schmalen
Augen betrachtete er den zerknitterten Brief, der auf seinem
Schreibtisch lag.
»Hier heißt es«, sagte er und setzte sich eine
Lesebrille auf die Nase, um das Papier näher in Augenschein zu
nehmen, »daß einer Ihrer Entführer dem Fraser-Clan angehörte, ein
großer Mann mit roten Haaren. Ist das richtig?«
»Ja.« Ich fragte mich, worauf er
hinauswollte.
Er neigte den Kopf, so daß die Brille etwas tiefer
rutschte, und fixierte mich mit stechendem Blick.
»Die Männer, die Sie bei Falkirk gerettet haben,
glauben, daß es sich bei Ihrem Entführer um niemand anders handelt
als um den roten Jamie, den berüchtigten Hochland-Clanführer. Nun
bin ich gewahr, daß Sie während Ihrer Gefangenschaft... große Not
gelitten haben«, er verzog den Mund, aber es war kein Lächeln, »so
daß Sie vielleicht nicht in der Verfassung waren, genau zu
beobachten, was vor sich ging. Aber vielleicht ist Ihnen
aufgefallen, ob die anderen Männer den Betreffenden mit diesem
Namen angesprochen haben?«
»Das haben sie. Sie nannten ihn Jamie.« Ich konnte
mir nicht vorstellen, daß es schaden würde, ihm das zu erzählen.
Aus den Flugschriften, die ich gesehen hatte, ging klar hervor, daß
Jamie ein Anhänger der Stuarts war. Jamies Teilnahme an der
Schlacht von Falkirk war für die Engländer vielleicht interessant,
dürfte ihn aber kaum noch stärker belasten.
»Sie können mich nicht öfter als einmal aufhängen«,
pflegte er zu sagen. Einmal war mehr als genug. Ich blickte zum
Fenster. Vor einer halben Stunde war es dunkel geworden. Auf der
Straße unten sah ich den Schein von Laternen. Jamie befand sich
jetzt wohl beim Callendar House und suchte das Fenster, an dem ich
warten sollte.
Plötzlich überkam mich die absurde Gewißheit, daß
er mir gefolgt war, daß er irgendwie herausbekommen hatte, wohin
ich ritt, und unten auf der Straße darauf wartete, daß ich mich
zeigte.
Hastig stand ich auf und trat ans Fenster. Die
Straße war menschenleer, abgesehen von einem Mann, der Salzheringe
feilbot. Es war natürlich nicht Jamie. Er konnte mich nicht
aufspüren. Niemand aus dem Lager der Stuarts wußte, wo ich mich
befand, ich war mutterseelenallein. Von Panik überwältigt, drückte
ich die Hände mit aller Macht gegen die Scheibe. Mir war gleich, ob
sie zerbrach.
»Mistress Beauchamp! Geht es Ihnen gut?« rief der
Oberst höchst beunruhigt.
Ich preßte meine zitternden Lippen zusammen und
versuchte, mich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Die Scheibe
beschlug, so daß die Szene unten auf der Straße nicht mehr zu sehen
war. Äußerlich gelassen, drehte ich mich um und sah den Oberst
an.
»Ja, es geht mir gut«, sagte ich. »Wenn Ihre
Befragung abgeschlossen ist, möchte ich jetzt gehen.«
»Sie möchten gehen? Hmm.« Er warf mir einen
zweifelnden Blick zu, dann schüttelte er den Kopf.
»Sie bleiben heute nacht hier«, erklärte er. »Und
morgen schicke ich Sie weiter Richtung Süden.«
Mein Magen zog sich vor Schreck zusammen. »Nach
Süden! Warum, zum Teufel?« platzte ich heraus.
Erstaunt zog er die buschigen roten Augenbrauen
hoch und sah mich mit offenem Mund an. Dann faßte er sich und
erklärte: »Ich habe Anweisungen, sämtliche Nachrichten, die den
Verbrecher Jamie Fraser betreffen, weiterzuleiten. Und ebenso
sämtliche Personen, die mit ihm zu tun haben.«
»Ich habe nichts mit ihm zu tun!« protestierte ich.
Wenn man von der unbedeutenden Tatsache absah, daß wir verheiratet
waren.
Oberst Campbell schenkte meinen Worten keine
Beachtung. Er wandte sich dem Schreibtisch zu und blätterte in
seinen Unterlagen.
»Aye, da haben wir’s. Hauptmann Mainwaring heißt
der Offizier, der Sie nach Süden begleiten soll. Er wird Sie bei
Tagesanbruch hier abholen.« Er ließ ein Silberglöckchen ertönen.
Die Tür ging auf, und das dienstfertige Gesicht seines Burschen
erschien. »Garvie, bringen Sie die Dame auf ihr Zimmer. Und
schließen Sie die Tür ab.« Der Oberst verbeugte sich der Form
halber vor mir. »Ich denke, wir werden uns nicht wiedersehen, Mrs.
Beauchamp. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und eine angenehme
Reise.«
Die Reise war weder angenehm, noch ging sie
besonders zügig vonstatten. Captain Mainwarings Trupp brachte eine
Wagenkolonne mit Nachschub nach Lanark. Danach sollten er und der
Rest seiner Einheit südwärts ziehen und unterwegs Botschaften von
geringer Dringlichkeit abliefern. Offensichtlich fiel auch ich in
diese Kategorie, denn noch immer gab es keine Anzeichen dafür, daß
ich meinen Bestimmungsort bald erreichen würde.
»Richtung Süden.« Hieß das London? Hauptmann
Mainwaring hatte mir nicht mitgeteilt, wohin wir zogen, aber ich
konnte mir nichts anderes vorstellen.
Als ich den Kopf hob, sah ich, wie einer der
Dragoner mich über das Feuer hinweg anstarrte. Mit ausdruckslosem
Blick starrte ich zurück, bis er rot wurde und die Augen senkte.
Solche Blicke war ich gewohnt, obwohl die meisten weniger dreist
waren.
Angefangen hatte es mit der Verlegenheit und
Schüchternheit des jungen Idioten, der mich nach Livingston
brachte. Es hatte eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, daß die
reservierte Haltung der englischen Offiziere nicht auf Mißtrauen
zurückzuführen war, sondern auf eine Mischung aus Verachtung und
Entsetzen und ein wenig Mitleid.
Denn ich war nicht einfach nur vor einer Bande
räuberischer, plündernder Schotten gerettet worden. Ich war aus der
Gefangenschaft befreit worden, nachdem ich eine ganze Nacht in
einem Raum mit Männern verbracht hatte, die nach der festen
Überzeugung aller rechtschaffenen Engländer »wilde Tiere waren, die
sich der Vergewaltigung, des Raubes und zahlloser anderer grausiger
Verbrechen schuldig machten«. Es war undenkbar, daß eine junge
Engländerin eine Nacht in Gesellschaft solcher Bestien verbracht
haben und mit heiler Haut davongekommen sein könnte.
Daß Jamie mich als angeblich Ohnmächtige aus der
Kirche getragen hatte, mochte die Sache zu Anfang vereinfacht
haben, hatte aber zweifellos zu dem Gesamteindruck beigetragen, er
und die anderen Schotten hätten mir Gewalt angetan. Und dank des
ausführlichen Briefes, den der Hauptmann meiner Retter geschrieben
hatte,wußte jeder, dem ich später übergeben wurde, Bescheid - und
vermutlich auch jeder, mit dem die Soldaten unterwegs sprachen.
Nach meinen Erfahrungen in Paris wußte ich, wie schnell Klatsch die
Runde machte.
Auch Korporal Rowbotham hatte die Geschichte
bestimmt gehört, aber er behandelte mich stets freundlich, ohne das
süffisante Grinsen, das ich zuweilen auf den Gesichtern der anderen
Soldaten entdeckte. Wenn ich die Angewohnheit gehabt hätte, vor dem
Schlafen zu beten, hätte ich ihn in meine Fürbitten
miteingeschlossen.
Ich stand auf, klopfte meinen Mantel ab, und begab
mich zu meinem Zelt. Als Korporal Rowbotham das sah, erhob er sich
ebenfalls, umrundete unauffällig das Feuer und setzte sich wieder
zwischen seine Kameraden, so daß er den Zelteingang im Rücken
hatte. Sobald sich die Soldaten auf ihrer Decke ausstreckten, würde
er sich in respektvollem Abstand, aber noch in Rufweite von meinem
Lager niederlassen. So hatte er es auch in den vergangenen drei
Nächten getan, ganz gleich, ob wir im Gasthaus oder auf freiem
Felde übernachteten.
Drei Nächte zuvor hatte ich wieder einmal einen
Fluchtversuch unternommen. Hauptmann Mainwaring war sich darüber im
klaren, daß ich nicht freiwillig mit ihm reiste, und obwohl ich ihm
zur Last fiel, war er zu pflichtbewußt, als daß er sich vor der
Verantwortung gedrückt hätte. Folglich teilte er mir zwei Wächter
zu, die tagsüber an meiner Seite ritten.
Nachts wurde ich weniger streng bewacht, denn der
Hauptmann hielt es offensichtlich für unwahrscheinlich, daß ich
mitten im Winter allein und zu Fuß durch menschenleere Moore
flüchten würde. Da hatte er völlig recht. Ich beabsichtigte nicht,
Selbstmord zu begehen.
An jenem Abend waren wir jedoch zwei Stunden, bevor
wir unser Nachtlager aufschlugen, durch ein winziges Dorf gekommen.
Selbst zu Fuß konnte ich es schaffen, den Weg zurück vor
Tagesanbruch zu finden. Das Dorf besaß eine kleine Brennerei, von
der aus mit Fässern beladene Wagen in verschiedene Städte der
Umgebung abfuhren. Ich hatte den Hof der Brennerei gesehen, in dem
sich die Fässer stapelten. Bestimmt konnte ich mich dort verstecken
und mich am Morgen mit dem ersten Wagen aus dem Staub machen.
Nachdem im Lager Ruhe eingekehrt war und die
Soldaten schnarchend rund ums Feuer lagen, war ich also aus meiner
Decke gekrochen, die ich in der Nähe einiger Trauerweiden
ausgebreitet hatte, und hatte mir, geräuschlos wie das Säuseln des
Windes, einen Weg durch die hängenden Zweige gebahnt.
Als ich die Baumgruppe hinter mir hatte, meinte ich
immer noch den säuselnden Wind zu hören, bis sich eine Hand auf
meine Schulter legte.
»Schreien Sie nicht, Sie wollen doch nicht, daß der
Hauptmann hört, daß Sie sich heimlich davonschleichen.« Ich schrie
nicht, aber nur deswegen, weil mir die Luft wegblieb. Der Soldat,
ein langer Kerl, der sich immer viel Mühe gab, seine blonden Locken
auszukämmen, lächelte mich an.
Sein Blick wanderte über meine Brüste. Dann sah er
mir seufzend in die Augen und trat einen Schritt auf mich zu.
Hastig wich ich drei Schritte zurück.
»Es ist doch eigentlich gleich, nicht wahr, Süße?«
sagte er mit einem trägen Lächeln. »Nach allem, was passiert ist.
Einmal mehr oder weniger macht doch keinen Unterschied. Außerdem
bin ich Engländer«, schmeichelte er. »Kein dreckiger
Schotte.«
»Laß die arme Frau in Ruhe, Jess.« Korporal
Rowbotham trat lautlos aus dem Schutz der Weiden hervor. »Sie hat
genug durchgemacht, die arme Dame.« Er sprach ruhig. Jessie warf
ihm einen wütenden Blick zu, doch dann besann er sich, machte kehrt
und verschwand.
Schweigend wartete der Korporal, bis ich meinen zu
Boden gefallenen Umhang aufgehoben hatte, dann geleitete er mich
zurück zum Lager. Dort angelangt, holte er seine Decke, bedeutete
mir, mich hinzulegen, und setzte sich etwa zwei Meter von mir
entfernt nieder, die Decke nach Indianerart um die Schultern
gelegt. Immer wenn ich während der Nacht aufwachte, sah ich ihn
dasitzen und mit kurzsichtigen Augen ins Feuer starren.
In Tavistock gab es tatsächlich ein Gasthaus. Mir
blieb jedoch nicht viel Zeit, die Annehmlichkeiten des Hauses zu
genießen. Wir kamen gegen Mittag in dem Dorf an, und Hauptmann
Mainwaring machte sich sofort auf, seine diversen Botschaften zu
überbringen. Doch schon nach einer Stunde kehrte er zurück und
befahl mir, meinen Umhang zu holen.
»Warum?« fragte ich überrascht. »Wohin gehen
wir?«
Er musterte mich gleichgültig und sagte: »Nach
Bellhurst Manor.«
»Gut«, erwiderte ich. Der Name klang ein wenig
beeindruckender als mein jetziger Aufenthaltsort, der nicht mehr zu
bieten hatte als den intensiven Duft nach Hopfen, einige Soldaten,
die auf dem Boden saßen und würfelten, und einen von Flöhen
befallenen Köter, der am Feuer schlief.
Ohne Rücksicht auf die landschaftliche Schönheit
kehrte das Herrenhaus den offenen Wiesen den Rücken zu und blickte
trotzig landeinwärts auf eine öde Felslandschaft. Anders als die
anmutig geschwungenen Zufahrten zu französischen Landgütern war die
Auffahrt hier gerade, kurz und schmucklos. Den Eingang zierten
zwei schlichte Steinsäulen, auf denen das Wappen des Besitzers
prangte. Als ich daran vorüberritt, versuchte ich, das Bild
einzuordnen. Eine liegende Katze - vielleicht ein Panther? - mit
einer Lilie zwischen den Pfoten. Das Wappen kam mir bekannt vor.
Aber wem gehörte es?
Im langen Gras beim Tor regte sich etwas, und als
sich eine zerlumpte Gestalt in den Schatten zurückzog, um sich vor
den Pferdehufen in Sicherheit zu bringen, erspähte ich hellblaue
Augen. Selbst der Bettler kam mir irgendwie bekannt vor. Vielleicht
hatte ich schon Halluzinationen und klammerte mich an jeden
Eindruck, der nichts mit englischen Soldaten zu tun hatte?
Die Eskorte blieb auf dem Vorplatz und machte sich
nicht einmal die Mühe abzusitzen, als ich mit Hauptmann Mainwaring
die Stufen emporstieg. Mir war schleierhaft, was mich nun
erwartete.
»Mrs. Beauchamp?« Der Butler sah aus, als rechnete
er mit dem Schlimmsten - zweifellos zurecht.
»Ja«, erwiderte ich. »Wem gehört dieses
Haus?«
Doch noch während ich das fragte, warf ich einen
Blick ins Dunkel der Halle hinter ihm und sah ein Gesicht, aus dem
mich große Rehaugen verwundert anstarrten.
Es war Mary Hawkins.
Mary und ich öffneten gleichzeitig den Mund, nur
daß ich schrie, so laut ich konnte. Verblüfft trat der Butler einen
Schritt zurück, stolperte über ein kleines Sofa und fiel um wie ein
Kegel. Dann hörte ich, wie die Soldaten draußen aufgeschrecktvom
Pferd sprangen und die Treppe heraufeilten.
Während ich meine Röcke raffte, kreischte ich:
»Eine Maus! Eine Maus!« und floh, schrille Schreie ausstoßend, in
Richtung Besuchszimmer.
Angesteckt von meiner Hysterie, schrie auch Mary
und hielt mich an der Taille fest, als ich ihr in die Arme lief.
Ich zog sie hinter mir her in den hintersten Winkel des
Besuchszimmer und nahm sie an den Schultern.
»Sag niemandem, wer ich bin«, flüsterte ich ihr ins
Ohr. »Niemandem! Mein Leben hängt davon ab!« Erst fand ich, das
klinge zu melodramatisch, doch während ich die Worte aussprach,
dämmerte mir, daß ich vielleicht die reine Wahrheit sagte. Mit dem
roten Jamie Fraser verheiratet zu sein war eine heikle
Angelegenheit.
Mary fand nur Zeit, benommen zu nicken, bevor sich
die Tür am anderen Ende des Raumes öffnete und ein Mann
hereinkam.
»Was ist das für ein elender Lärmn, Mary?« fragte
er. Er war rundlich, wirkte zufrieden und besaß das energische Kinn
und den selbstbewußten Mund eines Menschen, der sich in der Regel
durchsetzt.
»N-nichts, Papa«, sagte Mary, vor Nervosität
stotternd. »Nur eine M-M-Maus.«
Der Baronet schloß die Augen und holte tief Luft,
um sich zu beruhigen. Als er sich zumindest äußerlich gefaßt hatte,
sah er seine Tochter an.
»Sag es noch einmal, Kind«, befahl er. »Aber
richtig. Gestammel und Gemurmel dulde ich nicht. Atme tief ein und
sammle dich. Also los, noch einmal.«
Mary gehorchte und atmete ein, bis sich ihr Mieder
über ihrer Brust spannte. Ihre Finger umklammerten eine Falte ihres
Seidenbrokatkleids, als suchte sie Halt.
»Es w-war eine Maus, Papa. Mrs. Fr... äh, diese
Dame wurde von einer Maus erschreckt.«
Dieser Versuch schien ihn halbwegs
zufriedenzustellen. Der Baronet trat auf mich zu und blickte mich
neugierig an.
»Oh? Und mit wem habe ich das Vergnügen,
Madam?«
Hauptmann Mainwaring, der die geheimnisvolle Maus
vergeblich gesucht hatte, erschien nun verspätet an meiner Seite,
stellte mich vor und überreichte einen Begleitbrief von Oberst
MacLeish.
»Hm. Offenbar sind Sie, zumindest vorübergehend,
ein Gast Seiner Hoheit.« Er übergab den Brief dem wartenden Butler
und nahm dafür seinen Hut in Empfang.
»Ich bedaure, daß unsere Bekanntschaft nur von
kurzer Dauer ist, Mrs. Beauchamp. Ich bin gerade im Begriff
abzureisen.« Er warf einen Blick zurück auf eine kleine Treppe, die
von der Halle abzweigte. Der Butler, der seine würdevolle Haltung
wiedergefunden hatte, stieg soeben die Stufen hinauf, den
abgegriffenen Brief auf einem Tablett. »Wie ich sehe, teilt
Walmisley Seiner Hoheit bereits mit, daß Sie eingetroffen sind. Ich
muß gehen, sonst versäume ich noch die Postkutsche. Adieu,
Mrs. Beauchamp.«
Er wandte sich an Mary, die sich bis an die
hölzerne Wandtäfelung zurückgezogen hatte.
»Auf Wiedersehen, Tochter. Bemühe dich, bitte...
nun ja.« Er
verzog die Mundwinkel zu etwas, was ein väterliches Lächeln
vorstellen sollte. »Auf Wiedersehen, Mary.«
»Auf Wiedersehen, Papa«, murmelte sie mit gesenktem
Blick. Ich sah die beiden an. Was in aller Welt machte ausgerechnet
Mary Hawkins hier? Offenbar weilte sie als Gast in dem Haus;
wahrscheinlich war der Gutsherr mit ihrer Familie verwandt.
»Mrs. Beauchamp?« Ein kleiner, dicker Lakai
verbeugte sich vor mir. »Seine Hoheit ist jetzt bereit, Sie zu
empfangen, Madam.«
Als ich dem Lakai folgen wollte, klammerte sich
Mary an meinen Arm.
»A-A-A-Aber...«, begann sie. Aufgeregt, wie ich
war, brachte ich nicht die Geduld auf, sie ausreden zu lassen. Ich
lächelte matt und tätschelte Ihre Hand.
»Ja, ja«, sagte ich. »Keine Sorge, alles wird
gut.«
»A-Aber er ist mein...«
Der Lakai verbeugte sich und öffnete eine Tür am
Ende des Korridors. Im hellen Lichtschein leuchteten üppiger Brokat
und poliertes Holz. Ein Stuhl zeigte hinten an der Lehne das
gestickte Familienwappen. Hier kam es klarer zu Geltung als draußen
auf dem verwitterten Stein.
Ein sitzender Panther, der Lilien in den Pfoten
hielt - oder waren es Krokusse? Meine Unruhe wuchs, als der Herr
auf dem Stuhl aufstand und sein Schatten auf die Türschwelle fiel.
Marys letztes angstvolles Wort brachte Klarheit.
»Mein P-P-Pate!« stieß sie hervor.
Und im selben Augenblick verkündete der Lakai:
»Seine Hoheit, der Herzog von Sandringham.«
»Mrs.... Beauchamp?« fragte der Herzog, dem der
Mund vor Überraschung offenstand.
»Ja«, antwortete ich matt, »oder so ähnlich.«
Die Tür des Salons wurde hinter mir geschlossen,
und ich war allein mit Seiner Hoheit. Mary war auf dem Korridor
zurückgeblieben, mit Augen so groß wie Untertassen, und öffnete und
schloß den Mund, stumm wie ein Goldfisch.
Zwischen den Fenstern standen riesige chinesische
Vasen auf intarsienverzierten Tischen. Eine Bronzevenus posierte
kokett auf dem Kaminsims, daneben standen zwei Porzellanschalen mit
Goldrand und silberne Kandelaber, in denen Bienenwachskerzen
leuchteten. Ein dichtgeknüpfter Kermanteppich bester Qualität
bedeckte fast den ganzen Boden. In einer Ecke stand ein Cembalo.
Der wenige verbleibende Platz war mit Intarsienmöbeln und
verschiedenen Statuen vollgestellt.
»Ein schönes Haus habt Ihr hier«, bemerkte ich
freundlich. Der Herzog stand vor dem Feuer, die Hände unter seinen
Rockschößen gefaltet, und beobachtete mich aufmerksam und belustigt
zugleich.
»Vielen Dank«, erwiderte er mit der hohen Stimme,
die so schlecht mit seinem kräftigen Körperbau harmonierte. »Noch
schöner dank Ihrer Gegenwart, meine Liebe.« Seine Belustigung
siegte über die Wachsamkeit, und er grinste entwaffnend.
»Warum Beauchamp?« fragte er. »Das ist doch nicht
zufällig Ihr richtiger Name?«
»Mein Mädchenname.« Aus purer Nervosität griff ich
auf die Wahrheit zurück. Er hob seine dichten blonden
Augenbrauen.
»Sind Sie Französin?«
»Nein, Engländerin. Aber schließlich konnte ich
mich schlecht Fräser nennen, oder?«
»Verstehe.« Mit einem Nicken bedeutete er mir, auf
einem kleinen, brokatbezogenen Sofa Platz zu nehmen. Ich raffte
meine durchnäßten Röcke so anmutig wie möglich, sah großzügig über
die zahlreichen Schmutzflecken und Pferdehaare hinweg und ließ mich
behutsam auf dem blaßgelben Satin nieder.
Der Herzog schritt langsam vor dem Feuer auf und
ab. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, während er mich
aufmerksam betrachtete. Ich kämpfte gegen das wachsende Wohlbehagen
an, das sich bis hinunter in meine schmerzenden Beine ausbreitete
und drohte, mich in den Abgrund von Erschöpfung zu ziehen, der vor
mir klaffte. Jetzt war nicht der rechte Augenblick, sich
gehenzulassen.
»Wer sind Sie?« fragte der Herzog plötzlich. »Eine
englische Geisel, eine glühende Jakobitin oder eine französische
Spionin?«
Ich rieb mir die Nasenwurzel, um meine
Kopfschmerzen zu lindern. Die korrekte Antwort lautete »nichts von
alledem«, aber damit würde ich nicht weit kommen.
»Die Gastlichkeit dieses Hauses läßt, gemessen an
seiner Einrichtung, zu wünschen übrig«, sagte ich so hochmütig, wie
ich es unter den gegebenen Umständen zuwege brachte - es hätte zwar
überzeugender ausfallen können, aber das Vorbild einer großen Dame,
das Louise mir gegeben hatte, war nicht ganz an mich
verschwendet.
Der Herzog stieß ein hohes, schrilles Lachen aus,
wie eine Fledermaus, die gerade einen guten Witz gehört hat.
»Verzeihen Sie, Madam. Sie haben vollkommen recht.
Ich hätte Ihnen eine Erfrischung anbieten sollen, bevor ich mir
anmaße, Ihnen Fragen zu stellen. Wie gedankenlos von mir.«
Leise gab er dem Lakai, der auf sein Klingeln hin
erschienen war, Anweisungen. Dann stellte er sich vor den Kamin und
wartete seelenruhig auf das Eintreffen des Tabletts. Unterdessen
sah ich mich im Raum um und warf ab und zu einen verstohlenen Blick
auf meinen Gastgeber. An belanglosen Plaudereien waren wir beide
nicht interessiert. Ungeachtet der herzoglichen Leutseligkeit
herrschte im Augenblick lediglich Waffenstillstand, und das war uns
beiden klar.
Ich hätte nur gern gewußt, warum. Mich
interessierte brennend, welche Ziele der Herzog verfolgte. Oder
welche Absichten er mir unterstellte. Er hatte mich als Mrs. Fraser
kennengelernt, die Gattin des Gutsherren von Lallybroch. Nun stand
ich als englische Geisel namens Beauchamp vor seiner Tür, die
kürzlich vor einer Bande schottischer Jakobiten gerettet worden
war. Das allein reichte, um verblüffte Fragen nach sich zu ziehen.
Aber er zeigte ein Interesse an mir, das mehr war als schlichte
Neugier.
Da wurde der Tee serviert. Der Herzog nahm seine
Tasse und bedeutete mir, es ihm gleichzutun. Schweigend tranken wir
unseren Tee. Irgendwo im Haus ertönte ein Hämmern. Mit leisem
Klirren setzte der Herzog seine Teetasse ab - das Zeichen für die
Wiederaufnahme der Feindseligkeiten.
»Nun denn«, sagte er mit soviel Festigkeit, wie ein
Mann mit Fistelstimme zustande brachte. »Lassen Sie mich zunächst,
Mrs. Fräser - ich darf Sie doch so nennen? Danke. Lassen Sie mich
vorausschicken, daß ich schon viel über Sie weiß. Ich habe vor,
noch mehr zu erfahren. Sie werden gut daran tun, meine Fragen
vollständig und ohne Vorbehalte zu beantworten. Ich muß sagen, Mrs.
Fraser, daß es erstaunlich schwierig ist, Sie zu töten«, lächelnd
verneigte er sich vor mir, »aber ich bin sicher, daß es sich mit
der nötigen Entschlossenheit doch noch zuwege bringen ließe.«
Reglos starrte ich ihn an, nicht aus angeborener
Kaltblütigkeit, sondern einfach, weil ich sprachlos war. Wieder
besann ich mich
auf einen von Louises Manierismen, zog beide Augenbrauen hoch,
nippte an meinem Tee und betupfte mir dann mit der Serviette
zierlich den Mund.
»Ich fürchte, Sie werden mich für beschränkt
halten«, erwiderte ich höflich, »aber ich habe nicht die leiseste
Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Wirklich nicht, meine Liebe?«
Die kleinen, wasserblauen Augen hielten meinem
Blick stand. Er griff nach dem vergoldeten Silberglöckchen auf dem
Tablett und klingelte.
Der Mann mußte im Nebenzimmer auf sein Zeichen
gewartet haben, denn die Tür öffnete sich sofort. Er war groß und
hager, und an seiner dunkelblauen Livree aus gutem Tuch erkannte
ich den höhergestellten Dienstboten. Mit einer tiefen Verbeugung
wandte er sich an den Herzog.
»Eure Hoheit? Er sprach englisch, aber mit
unverkennbar französischem Akzent. Auch sein Gesicht wirkte
französisch: blaß, lange Nase, schmale Lippen und ein Paar tiefrote
Ohren, die wie kleine Flügel zu beiden Seiten abstanden. Sein
mageres Gesicht wurde noch eine Spur blasser, als er aufblickte und
mich sah. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.
Sandringham beobachtete dies mit mißmutigem
Stirnrunzeln, dann sah er mich lauernd an.
»Erkennen Sie ihn nicht?« fragte er.
Ich wollte gerade den Kopf schütteln, als die
rechte Hand des Mannes plötzlich zuckte. So unauffällig wie möglich
machte er das Zeichen gegen das Böse, die mittleren Finger
gefaltet, Zeige- und kleinen Finger auf mich gerichtet. Da wurde es
mir klar, und im nächsten Augenblick sah ich meine Ahnung bestätigt
- der kleine Leberfleck an der Gabelung von Daumen und
Zeigefinger.
Ich hatte nicht den geringsten Zweifel: Das war der
Mann im getupften Hemd, der mich und Mary in Paris überfallen
hatte. Und offensichtlich stand er im Dienst des Herzogs.
»Du verdammter Bastard!« rief ich. Ich
sprang so hastig auf, daß ich den Teetisch umwarf, und packte den
nächstbesten Gegenstand, der mir in die Finger kam - eine mit
Schnitzereien verzierte Tabaksdose aus Alabaster. Ich warf sie nach
dem Mann, der überstürzt die Flucht ergriff. Die schwere Dose, die
ihn nur um ein Haar verfehlte, schlug gegen den Türrahmen.
Als ich ihm nachsetzte, fiel die Tür ins Schloß,
und ich blieb schweratmend stehen. Die Hände in die Hüften
gestemmt, starrte ich Sandringham an.
»Wer ist das?« fragte ich wütend.
»Mein Kammerdiener«, erwiderte der Herzog gelassen.
»Albert Danton. Mit Krägen und Strümpfen kennt er sich aus, aber
wie die meisten Franzosen ist er ein wenig erregbar. Und überdies
unglaublich abergläubisch.« Er warf einen mißbilligenden Blick auf
die geschlossene Tür. »Diese verdammten Papisten mit ihren
Heiligen, ihrem Weihrauch und so weiter. Man kann ihnen jeden Bären
aufbinden.«
Mein Atem beruhigte sich allmählich, obwohl mein
Herz immer noch wild hämmerte. Tief Luft zu holen fiel mir
schwer.
»Sie dreckiger, ekelerregender, abscheulicher...
Perverser!«
Dieser Ausbruch schien den Herzog zu langweilen,
denn er nickte gleichgültig.
»Ja, ja, meine Liebe. All das, gewiß, und noch
mehr. Und manchmal habe ich auch Pech, zumindest bei jener
Sache.«
»Pech? Würdet Ihr es so bezeichnen?« Ich wankte zu
dem Sofa und setzte mich. Meine zitternden Hände verbarg ich in den
Falten meines Rocks.
»In mehrfacher Hinsicht, meine verehrte Dame. Sehen
Sie nur.« Verständnisheischend streckte er beide Hände aus. »Ich
entsende Danton, um Sie zu beseitigen. Er und seine Kameraden
beschließen, sich erst ein wenig mit Ihnen zu vergnügen. Das ist
gut und schön, aber nachdem sie einen genaueren Blick auf Sie
geworfen haben, kommen sie unerklärlicherweise zu dem Schluß, Sie
seien eine Art Hexe, verlieren den Kopf und laufen davon. Aber
zuvor schänden sie noch meine Patentochter, die zufällig anwesend
ist, so daß an die hervorragende Partie, die ich so mühsam für sie
eingefädelt habe, nicht mehr zu denken ist. Bedenken Sie nur die
Ironie des Schicksals!«
Wie gelähmt lauschte ich seinen Enthüllungen. Ich
wußte kaum, worauf ich zuerst reagieren sollte. Eine Aussage
überraschte mich allerdings besonders.
»Was meint Ihr mit ›beseitigen‹?« fragte ich.
»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr mich tatsächlich umbringen
lassen wolltet?« Der Raum schien zu schwanken, und ich versuchte,
mich mit einem Schluck Tee zu stärken, jedoch ohne großen
Erfolg.
»Nun ja«, erwiderte Sandringham freundlich. »Darauf
wollte ich hinaus. Sagen Sie, meine Liebe, was halten Sie von einem
Glas Sherry?«
Ich musterte ihn mißtrauisch. Nachdem er gerade
erklärt hatte, daß er mir nach dem Leben trachtete, erwartete er
doch wohl nicht, daß ich ein Glas Sherry von ihm
entgegennahm?
»Weinbrand«, sagte ich. »Ein ganzes Glas
voll.«
Erneut ließ er ein hohes Kichern hören, begab sich
zu der Anrichte und sagte über die Schulter: »Hauptmann Randall
meinte, Sie seien eine überaus unterhaltsame Frau. Höchstes Lob aus
seinem Munde, müssen Sie wissen. Er macht sich normalerweise nicht
viel aus Frauen, obwohl sie für ihn schwärmen. Muß an seinem
Aussehen liegen, denn seine Manieren können es nicht sein.«
»Also arbeitet Jack Randall tatsächlich für Euch.«
Ich nahm das Glas, das er mir reichte, denn ich hatte beobachtet,
wie er die zwei Gläser einschenkte. Und da ich sicher war, daß
beide nichts außer Weinbrand enthielten, nahm ich einen herzhaften
Schluck.
Der Herzog tat es mir gleich und blinzelte, als das
scharfe Getränk seine Wirkung entfaltete.
»Selbstverständlich«, erwiderte er. »Oft ist das
beste Werkzeug auch das gefährlichste. Man zögert nicht, es zu
gebrauchen, aber man trifft die notwendigen
Vorsichtsmaßnahmen.«
»Gefährlich, so, so? Was wißt Ihr eigentlich über
Jonathan Randall?« fragte ich neugierig.
Der Herzog kicherte. »Oh, buchstäblich alles, würde
ich sagen. Wahrscheinlich sogar weit mehr als Sie, meine Liebe.
Einen Mann wie ihn sollte man nicht in seine Dienste nehmen, wenn
man ihn nicht zügeln kann. Und Geld ist zwar ein guter Anreiz,
taugt aber nicht, um ihn an der Kandare zu halten.«
»Im Gegensatz zu Erpressung?« bemerkte ich
trocken.
Die Hände über dem runden Bauch gefaltet, lehnte er
sich zurück und betrachtete mich mit unverhohlener Neugier.
»Ah, Sie meinen wohl, Erpressung käme auch in
umgekehrter Richtung in Betracht?« Er schüttelte den Kopf, wobei
ein paar Brösel Schnupftabak auf seine Seidenweste fielen.
»Nein, meine Liebe. Zum einen besteht ein gewisser
Rangunterschied zwischen uns. Gerüchte dieser Art könnten meinem
Ruf zwar in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen schaden, doch
bereitet mir dies keine große Sorge. Während der gute Hauptmann...
Nun ja, die Armee hat deutliche Vorbehalte gegen derartige
widernatürliche Vorlieben. Häufig werden sie sogar mit dem Tode
bestraft. Nein, das ist nicht miteinander zu vergleichen.« Er
neigte den Kopf, soweit das sein Mehrfachkinn erlaubte.
»Aber es ist weder die Hoffnung auf Reichtum noch
die drohende Bloßstellung, die Jonathan Randall an mich bindet«,
sagte er. Die kleinen, wäßrigblauen Augen leuchteten. »Er dient
mir, weil ich ihm gebe, was er braucht.«
Ich betrachtete seine korpulente Gestalt mit
unverhohlenem Abscheu, was Seine Gnaden veranlaßte, sich vor Lachen
auszuschütten.
»Nein, nicht, was Sie meinen«, sagte er. »Der
Geschmack des Hauptmanns ist etwas feiner. Im Gegensatz zu
meinem.«
»Was dann?«
»Bestrafung«, sagte er sanft. »Aber das wissen Sie
ja, nicht wahr? Zumindest Ihr Gatte weiß es.«
Allein durch seine Gegenwart fühlte ich mich
beschmutzt, und ich stand auf, um mich ein Stück zu entfernen. Die
Scherben der Alabasterdose lagen noch auf dem Boden verstreut.
Versehentlich stieß ich mit dem Fuß gegen eine, so daß sie gegen
die Wand prallte und unter dem Sofa landete. Sie ließ mich wieder
an Danton denken.
Ich war mir nicht sicher, ob ich den mißlungenen
Mordanschlag mit dem Herzog erörtern wollte, aber im Augenblick
schien mir dieses Thema noch das angenehmste.
»Warum wolltet Ihr mich ermorden lassen?« fragte
ich unvermittelt und drehte mich zu ihm um. Gleichzeitig sah ich
mich nach einer geeigneten Waffe um, falls er seinen Plan noch
nicht aufgegeben haben sollte.
Doch der Herzog machte einen friedlichen Eindruck.
Er bückte sich mühsam, um die Teekanne aufzuheben, die wie durch
ein Wunder unversehrt geblieben war, und stellte sie auf den
Teetisch.
»Damals erschien es mir ratsam«, erwiderte er
ruhig. »Ich hatte erfahren, daß Sie und Ihr Gemahl versuchten, eine
bestimmte Angelegenheit zu vereiteln, die für mich von Interesse
war. Ich zog in Betracht, Ihren Gatten zu beseitigen, aber das
erschien mir zu gefährlich, da er zwei der mächtigsten Familien
Schottlands angehört.«
»Ihr habt in Betracht gezogen, ihn zu beseitigen?«
Mir ging ein
Licht auf, eins von vielen, die wie ein Feuerwerk in meinem Kopf
aufblitzten. »Haben die beiden Seeleute, die Jamie in Paris
angegriffen haben, in Eurem Auftrag gehandelt?«
Der Herzog nickte gelassen.
»Das schien mir die einfachste Methode, wenn auch
ein wenig rüde. Aber dann tauchte Dougal MacKenzie in Paris auf,
und ich fragte mich, ob Ihr Gatte nicht in Wahrheit für die
Stuarts arbeitete. Es war nicht mehr klar, welche Ziele er wirklich
verfolgte.«
Ich hingegen fragte mich, welche Ziele der Herzog
verfolgte. Seine merkwürdigen Äußerungen erweckten den Eindruck, er
sei ein heimlicher Jakobit - wenn das zutraf, hatte er es
meisterhaft verstanden, sein Geheimnis zu wahren.
»Und dann«, fuhr er fort, während er behutsam den
Deckel auf die Kanne setzte, »war Ihre aufkeimende Freundschaft mit
Louis von Frankreich zu bedenken. Selbst wenn Ihr Gatte bei den
Bankiers erfolglos geblieben wäre, hätte Louis Charles Stuart mit
den nötigen Mitteln versorgen können - vorausgesetzt, daß Sie Ihre
reizende Nase nicht in die Angelegenheit steckten.«
Stirnrunzelnd betrachtete er das Hörnchen, das er
in der Hand hielt, und schnippte ein paar Staubflocken davon ab.
Dann aber widerstand er der Versuchung, es zu essen, und warf es
auf den Tisch.
»Sobald sich herausgestellt hatte, was wirklich vor
sich ging, versuchte ich, Ihren Gatten zurück nach Schottland zu
locken, indem ich ihm die Begnadigung in Aussicht stellte. Das war
nicht billig«, meinte er nachdenklich. »Und alles für die
Katz!
Aber dann entsann ich mich der rührenden Zuneigung,
die Ihr Gemahl Ihnen entgegenbringt«, sagte er mit einem
wohlwollenden Lächeln, das besonders widerwärtig wirkte. »Ich nahm
an, daß Ihr tragisches Ableben ihn von seinem Vorhaben ablenken
würde, aber nicht soviel Aufsehen erregen würde wie seine eigene
Ermordung.«
Plötzlich fiel mir etwas ein, und ich betrachtete
das Cembalo, das in der Ecke stand. Auf dem Ständer lagen mehrere
Notenblätter in einer schönen, klaren Handschrift.
Fünfzigtausend Pfund stehen Euch zur Verfügung, sobald Eure
Hoheit englischen Boden betreten. S. »S.« stand natürlich für
Sandringham. Der Herzog lachte entzückt.
»Wirklich klug von Ihnen, meine Liebe. Denn da Ihr
Gatte, wie
ich hörte, völlig unmusikalisch ist, mußte der Einfall von Ihnen
stammen.«
»Eigentlich nicht von mir persönlich«, erwiderte
ich und wandte mich wieder um. Da auf dem Tischchen neben mir weder
Brieföffner noch stumpfe Gegenstände lagen, griff ich hastig nach
einer Vase mit Treibhausblumen und vergrub mein Gesicht in den
Blüten. Ich schloß die Augen und spürte die kühlen Blütenblätter an
meinen plötzlich erhitzten Wangen. Aus Furcht, daß mein Gesicht
mich verraten könnte, wagte ich es nicht aufzublicken.
Denn im Fenster hinter dem Herzog hatte ich einen
kürbisrunden Kopf erblickt, den die grünen Samtvorhänge umrahmten,
als wäre er eines der exotischen Sammelstücke des Herzogs. Als ich
die Augen öffnete und vorsichtig durch die Blumen spähte, sah ich
ein breites Grinsen, das an eine Kürbislaterne erinnerte.
Ich war hin und her gerissen zwischen Entsetzen und
Erleichterung. Also hatte ich den Bettler am Tor doch richtig
erkannt. Hugh Munro, ein Gefährte aus Jamies Zeit als Geächteter,
war Schulmeister gewesen und auf See in türkische Gefangenschaft
geraten. Entstellt durch die Folter, mußte er sich als Bettler und
Wilderer durchschlagen - das damit erzielte Einkommen besserte er
auf, indem er sich gelegentlich als Kundschafter betätigte. Ich
hatte gehört, er sei ein Agent der Hochlandarmee, aber mir war
nicht klar gewesen, daß ihn seine Tätigkeit so weit nach Süden
führte.
Wie lange saß er schon hier oben vor dem Fenster im
ersten Stockwerk? Ich wagte nicht, mit ihm Kontakt aufzunehmen -
ich hatte schon genug damit zu tun, einen Punkt hinter dem Herzog
zu fixieren und scheinbar gleichgültig in die Luft zu
starren.
Der Herzog betrachtete mich interessiert.
»Wirklich. Doch nicht etwa Gerstmann? Soviel Verstand hätte ich ihm
nicht zugetraut.«
»Aber mir schon? Ich fühle mich geschmeichelt.«
Meine Nase senkte sich wieder in die Blumen, und ich sprach
zerstreut in eine Päonie.
Der Bettler vor dem Fenster löste eine Hand vom
Efeu. Da ihm die Sarazenen die Zunge herausgeschnitten hatten,
sprach Hugh Munro mit den Händen. Er blickte mich aufmerksam an,
zeigte zuerst auf mich, dann auf sich und dann zur Seite. Die
breite Hand neigte sich, und zwei Finger wurden zu Beinen, die nach
Osten liefen. Ein letztes Zwinkern, eine zum Gruß geballte Faust,
und fort war er.
Die Spannung fiel von mir ab. Zitternd holte ich
Luft. Dann mußte ich niesen und stellte die Blumen weg.
»Demnach seid Ihr also Jakobit, nicht wahr?« fragte
ich.
»Nicht unbedingt«, erwiderte der Herzog freundlich.
»Die Frage ist, meine Liebe, ob Sie es sind.« Gedankenverloren nahm
er seine Perücke ab und kratzte sich die blonden, schütteren Haare,
bevor er sie wieder aufsetzte.
»In Paris haben Sie versucht, die Wiedereinsetzung
von König James zu vereiteln. Nachdem dies gescheitert ist, treten
Sie und Ihr Gemahl als die treuesten Gefolgsleute Seiner Hoheit
auf. Warum?« In den kleinen blauen Augen las ich nichts als
freundliche Neugier, doch er hatte nicht aus freundlicher Neugier
einen Mordanschlag auf mich verübt.
Seit ich wußte, wer mein Gastgeber war, versuchte
ich krampfhaft, mich daran zu erinnern, was Frank und Reverend
Wakefield über ihn gesagt hatten. War der Herzog tatsächlich ein
Jakobit gewesen? Soweit ich mich erinnerte, war die Geschichte -
vertreten durch Frank und den Reverend - zu keinem klaren Urteil
gelangt. Und auch ich war unschlüssig.
»Ich denke nicht, daß ich es Euch sagen werde«,
antwortete ich bedächtig.
Erstaunt zog er eine blonde Braue hoch, holte eine
kleine Emailledose aus der Tasche und nahm eine Prise
Schnupftabak.
»Finden Sie das klug, meine Liebe? Danton ist noch
in Rufweite.«
»Danton würde mich nicht einmal mit einer drei
Meter langen Stange anfassen«, erklärte ich schroff. »Und Ihr
würdet das übrigens auch nicht tun. Nicht«, fügte ich hastig hinzu,
als ich sah, wie er den Mund öffnete, »aus demselben Grund. Aber
wenn Ihr unbedingt wissen wollt, auf welcher Seite ich stehe, dann
werdet Ihr mich zumindest so lange leben lassen, bis Ihr es
herausgefunden habt, nicht wahr?«
Der Herzog verschluckte sich an seinem
Schnupftabak, nieste, hustete heftig und klopfte sich auf die
Brust. Ich richtete mich auf und musterte ihn kühl.
»Wenn Ihr versucht, mich durch Drohungen zum
Sprechen zu bringen, kommt Ihr nicht weit«, sagte ich mit weitaus
mehr Selbstvertrauen, als ich empfand.
Sandringham betupfte sich die tränenden Augen mit
einem Taschentuch.
Schließlich holte er tief Luft, stieß sie durch gespitzte Lippen
wieder aus und starrte mich an.
»Nun gut«, sagte er halbwegs ruhig. »Ich denke, daß
meine Handwerker nun die nötigen Veränderungen an Ihrem Zimmer
vorgenommen haben. Eins der Mädchen wird Sie
hinaufbegleiten.«
Ich mußte ihn ziemlich dumm angesehen haben, denn
er lächelte spöttisch, während er sich aus seinem Stuhl
hievte.
»Im Grunde spielt es keine Rolle«, bemerkte er.
»Wer immer Sie sein mögen und welche Kenntnisse Sie auch besitzen,
als Hausgast haben Sie eine unschätzbare Eigenschaft.«
»Und welche wäre das?« fragte ich. Die Hand an der
Glocke, hielt er inne und lächelte.
»Sie sind die Gemahlin des roten Jamie«, sagte er
leise. »Und er liebt Sie heiß und innig, nicht wahr, meine
Liebe?«
Ich hatte schon schlimmere Gefängnisse gesehen.
Der Raum maß der Länge und Breite nach etwa zehn Meter, und nur der
Salon im ersten Stock war prunkvoller eingerichtet. Das Himmelbett
stand auf einem kleinen Podest, die Damastvorhänge waren an den
vier Bettpfosten üppig mit Pfauenfedern geschmückt, und vor dem
gewaltigen Kamin luden zwei brokatbezogene Sessel dazu ein, es sich
bequem zu machen.
Das Zimmermädchen, das mich hergeführt hatte,
stellte den Wasserkrug und die Schüssel ab, die es trug, und
beeilte sich, das vorbereitete Holzfeuer zu entfachen. Der Lakai
stellte ein abgedecktes Tablett mit meinem Abendessen auf den Tisch
neben der Tür und postierte sich dann breitbeinig vor dem Eingang,
so daß an Flucht nicht zu denken war. Es hätte auch nicht viel Sinn
gehabt, einen Versuch zu unternehmen, dachte ich verstimmt. Schon
hinter der ersten Biegung des Korridors hätte ich mich verlaufen.
Das verdammte Haus war ungefähr so groß wie der
Buckinghampalast.
»Seine Hoheit hofft, daß Sie sich hier wohl fühlen,
Madam«, sagte das Mädchen und verabschiedete sich mit einem
zierlichen Knicks.
»Der? Ganz bestimmt!« erwiderte ich ungnädig.
Mit einem deprimierend dumpfen Schlag schloß sich
die Tür hinter ihr, und das knirschende Geräusch, mit dem der große
Schlüssel im Schloß umgedreht wurde, schien die letzte
Schutzschicht von meinen strapazierten Nerven zu kratzen.
Vor Kälte zitternd, verschränkte ich die Arme und
ging zum Feuer,
wo ich mich in einen Sessel fallen ließ. Am liebsten hätte ich
meine Abgeschiedenheit dazu genutzt, einen netten kleinen
hysterischen Anfall zu bekommen. Doch ich befürchtete, wenn ich
meinen Gefühlen erst einmal freien Lauf ließ, würde ich sie nie
wieder unter Kontrolle bekommen. Also schloß ich die Augen,
betrachtete das rötliche Flackern auf der Innenseite meiner Lider
und zwang mich zur Ruhe.
Schließlich befand ich mich im Augenblick außer
Gefahr, und Hugh Munro war zu Jamie unterwegs. Selbst wenn Jamie im
Lauf der Woche meine Spur verloren hatte, würde Hugh ihn finden und
hierherführen. Hugh kannte in seinen vier Gemeinden jeden
Kleinbauern und jeden fahrenden Kesselflicker, jeden Bauernhof und
jedes Herrenhaus. Neuigkeiten und Klatsch verbreiteten sich rasch,
und eine Botschaft des stummen Bettlers würde hurtig wie der Wind
über die Hügel reisen. Falls es ihm gelungen war, unbemerkt von
seinem luftigen Sitz im Efeu zu klettern und den Grund und Boden
des Herzogs zu verlassen.
»Sei nicht albern«, redete ich mir Mut zu, »der
Mann ist Wilderer von Beruf. Natürlich hat er es geschafft.« Das
Echo, das die Stuckdecke zurückwarf, wirkte irgendwie
tröstlich.
»Und wenn dem so ist«, fuhr ich fort, »dann wird
Jamie kommen.«
Richtig, fiel es mir plötzlich ein. Und
Sandringhams Leute werden ihn erwarten. Sie sind die Gemahlin
des roten Jamie, hatte der Herzog gesagt. Meine einzige
unschätzbare Eigenschaft. Ich war ein Lockvogel.
»Ich bin ein Köder!« rief ich und setzte mich
kerzengerade auf. Das Unwürdige meiner Lage rief einen kleinen,
aber willkommenen Wutanfall hervor, der die Angst ein wenig
linderte. Ich versuchte, die Flammen meines Zorns zu schüren, indem
ich mich erhob, auf-und ab ging und mir neue Schimpfnamen für den
Herzog ausdachte, die ich ihm bei nächster Gelegenheit an den Kopf
werfen wollte. Als ich bei »abgefeimter Päderast« angelangt war,
hörte ich von draußen gedämpfte Schreie.
Ich zog die schweren Samtvorhänge vor den Fenstern
zurück und stellte fest, daß der Herzog nicht zuviel versprochen
hatte. Die Fensterrahmen waren mit massiven Holzbalken vernagelt,
die ein so dichtes Gitter bildeten, daß ich zwar noch etwas sehen,
aber kaum meinen Arm hindurchstecken konnte.
Die Dämmerung war hereingebrochen, und die Schatten
unter den Parkbäumen waren schwarz wie Tinte. Aus dem Park kamen
auch die Rufe, und von den Ställen her hörte ich die Antwort.
Plötzlich erschienen drei Männer mit Fackeln.
Die dunklen Gestalten liefen so eilig auf den Wald
zu, daß die Flammen der Fackeln hellrot aufleuchteten. Als die
Männer den Rand des Parks erreichten, sah ich weitere Gestalten,
die auf dem winterlichen Rasen vor dem Haus
übereinanderpurzelten.
Ich stand auf Zehenspitzen, umklammerte das Gitter
und drückte die Stirn gegen das Holz, um besser sehen zu können.
Das Tageslicht war nun ganz geschwunden, und im Schein der Fackeln
sah ich kaum mehr als die Umrisse der Kämpfenden.
Jamie konnte das nicht sein, sagte ich mir und
versuchte, den Kloß in meiner Kehle hinunterzuschlucken. Nicht so
bald, nicht jetzt. Und nicht allein - gewiß würde er nicht allein
kommen. Denn nun konnte ich erkennen, daß sich alle auf einen Mann
stürzten, der auf den Knien lag, während die Wildhüter und
Stallknechte des Herzogs mit Fäusten und Stöcken auf ihn
eindroschen.
Dann fiel die geduckte Gestalt der Länge nach hin,
und die Rufe erstarben, obwohl noch einige Schläge ausgeteilt
wurden, bis die Horde endlich von dem Mann abließ. Ein paar Worte
wurden gewechselt, die ich hoch oben auf meinem Aussichtspunkt
nicht verstand. Dann beugten sich zwei Männer vor und packten ihr
Opfer unter den Armen. Als sie auf dem Weg zum Haus unter meinem
Fenster im zweiten Stock vorbeikamen, fiel der Fackelschein auf
einen zerlumpten, schmutzigen Kittel. Das war nicht Jamie.
Einer der Stallknechte hastete vorüber und
schwenkte triumphierend ein dickes Lederränzel an einem Riemen. Das
Klimpern der Metallplättchen, die den Riemen zierten, konnte ich
nicht hören, aber sie glitzerten im Fackelschein, und meine Arme
wurden kraftlos vor Entsetzen.
Es waren Münzen und Knöpfe. Und Gaberlunzies, jene
kleinen Bleimünzen, die einen Bettler berechtigten, in einer
bestimmten Gemeinde zu betteln. Hugh Munro besaß vier davon, zum
Ausgleich für die Qualen, die er unter den Türken erlitten hatte.
Es war nicht Jamie, sondern Hugh.
Ich zitterte so sehr, daß mich meine Beine kaum
noch tragen wollten, aber ich lief zur Tür und schlug mit aller
Kraft dagegen.
»Laßt mich raus!« schrie ich. »Ich muß den Herzog
sprechen! Laßt mich raus, sage ich!«
Als auf mein fortgesetztes Schreien und Klopfen
keine Antwort folgte, raste ich zurück zum Fenster. Unten bot sich
inzwischen ein vollkommen friedlicher Anblick: Ein Junge hielt eine
Fackel für einen Gärtner, der am Rande des Rasens kniete und
sorgfältig die durch den Kampf herausgerissene Grasnarbe wieder
einfügte.
»He da!« brüllte ich. Natürlich ließen sich die
vergitterten Fenster nicht öffnen. Rasch holte ich einen der
schweren silbernen Kerzenständer und schlug damit eine Scheibe
ein.
»Hilfe! He, ihr da unten! Sagt dem Herzog, daß ich
ihn sprechen will! Jetzt! Hilfe!« Eine der Gestalten schien den
Kopf in meine Richtung zu wenden, aber keiner von beiden machte
Anstalten, zum Haus zu gehen. Sie fuhren mit ihrer Arbeit fort, als
hätte nur der Ruf eines Nachtvogels die Stille zerrissen.
Wieder rannte ich zur Tür, hämmerte und schrie, und
dann zurück ans Fenster. Ich rief, ich flehte, und ich drohte, bis
ich heiser wurde, und ich schlug gegen die erbarmungslose Tür, bis
meine Hände rot und wund waren, aber niemand kam. Dem Schweigen
nach zu urteilen, hätte ich in dem riesigen Haus allein sein
können. Auf dem Korridor war es ebenso still wie draußen im
nächtlichen Park, still wie im Grab. Meine Angst brach nun
ungezügelt hervor, und ich sank hemmungslos schluchzend auf die
Knie.
Steifgefroren und mit pochenden Kopfschmerzen
erwachte ich davon, daß ich über den Boden geschoben wurde.
Hellwach wurde ich aber erst, als mein Schenkel von der Kante der
sich öffnenden Tür eingeklemmt wurde.
»Au!« Mit steifen Gliedern drehte ich mich um und
richtete mich auf allen vieren auf, so daß mir die Haare wild ins
Gesicht hingen.
»Claire! Oh, b-bitte sei still. Liebes, bist du
verletzt?« Gestärktes Leinen raschelte, als sich Mary neben mich
hockte. Hinter ihr fiel die Tür wieder ins Schloß, und der
Schlüssel wurde umgedreht.
»Ja... ich meine, nein. Es geht mir gut«,
antwortete ich benommen. »Aber Hugh...« Ich preßte die Lippen
zusammen und schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. »Was
in drei Teufels Namen machst du hier, Mary?«
»Ich h-habe die Haushälterin bestochen, damit sie
mich hereinläßt«, flüsterte sie. »Kannst du nicht leiser
sprechen?«
»Das macht nicht viel«, erwiderte ich in normalem
Tonfall. »Die Tür ist so dick, daß sich höchstens eine Horde
Fußballfans bemerkbar machen könnte.«
»Eine was?«
»Nicht so wichtig.« Mein Verstand wurde allmählich
klarer, aber meine Augen waren verklebt und geschwollen und mein
Kopf dröhnte. Mühsam richtete ich mich auf, stolperte zur
Waschschüssel und benetzte mein Gesicht mit kaltem Wasser.
»Du hast die Haushälterin bestochen?« fragte ich,
während ich mir das Gesicht abtrocknete. »Aber eingeschlossen sind
wir trotzdem, nicht wahr? Ich habe gehört, wie der Schlüssel
umgedreht wurde.« Im Halbdunkel des Zimmers sah Mary kreidebleich
aus. Die Kerze war ausgegangen, während ich auf dem Fußboden
schlief, und der Raum wurde nur noch vom tiefroten Glühen der
Scheite im Kamin erleuchtet. Sie biß sich auf die Lippen.
»M-mehr habe ich nicht erreicht. Mrs. Gibson hat so
große Angst vor dem Herzog, daß sie mir den Schlüssel nicht geben
wollte. Sie hat eingewilligt, mich mit dir einzuschließen, und am
Morgen läßt sie mich wieder heraus. Ich dachte, du freust dich über
Gesellschaft«, fügte sie schüchtern hinzu.
»Oh. Ja... danke. Das ist lieb von dir.« Ich nahm
eine Kerze aus der Schublade und ging zum Kamin, um sie anzuzünden.
Da das Wachs der heruntergebrannten Kerze den Kerzenständer
verklebte, ließ ich etwas flüssiges Wachs auf den Tisch tropfen und
stellte die neue Kerze hinein. Ob die schönen Möbel des Herzogs
Schaden litten, war mir gleich.
»Claire«, sagte Mary, »hast du
Schwierigkeiten?«
Ich biß mir auf die Lippen, um nicht überstürzt zu
antworten. Schließlich war Mary erst siebzehn, und von Politik
hatte sie vermutlich noch weniger Ahnung als einstmals vom
männlichen Geschlecht.
»Ja«, erwiderte ich, »ziemlich große, fürchte ich.«
Langsam setzte meine Gehirntätigkeit wieder ein. Selbst wenn Mary
mir bei der Flucht keine große Hilfe sein konnte, war sie
vielleicht in der Lage, mir mehr über ihren Paten und die
Gepflogenheiten in seinem Haushalt zu erzählen.
»Hast du vorhin den Tumult am Waldrand gehört?«
fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Allmählich begann sie zu
zittern, in dem großen Raum drang die Wärme des Feuers nicht bis
zum Bett vor.
»Nein, aber eins der Mädchen hat erzählt, die
Wildhüter hätten im Park einen Wilddieb gefangen. Es ist
schrecklich kalt. Können wir nicht ins B-Bett gehen?«
Mary kniete bereits auf der Tagesdecke und suchte
unter dem Keilkissen nach dem Laken. Rund und kindlich zeichnete
sich ihr Po unter dem weißen Nachthemd ab.
»Das war kein Wilddieb«, erwiderte ich, »oder
vielmehr, es war nicht nur ein Wilddieb, sondern auch ein Freund.
Er war auf dem Weg zu Jamie, um ihm zu sagen, wo ich bin. Weißt du,
was mit ihm geschehen ist, nachdem ihn die Wildhüter
gefangengenommen haben?«
Mary sah mich an. Ihr Gesicht war nur ein heller
Fleck zwischen den düsteren Bettvorhängen. Doch selbst bei diesem
Licht konnte ich sehen, daß sie entsetzt die Augen aufgerissen
hatte.
»O Claire! Es tut mir so leid!«
»ja, mir auch«, entgegnete ich ungeduldig. »Weißt
du vielleicht, wo der Wilderer jetzt ist?« Wenn man Hugh an einem
leicht zugänglichen Ort eingesperrt hatte, konnte Mary ihn am
Morgen vielleicht freilassen.
Ihre Lippen zitterten so sehr, daß sie nur noch
stammeln konnte, und das hätte mich eigentlich warnen sollen. Aber
die Worte, die sie endlich hervorstieß, trafen mich wie ein
Schlag.
»S-sie h-haben ihn aufg-g-gehängt. Am T-Tor zum
P-Park.«
Es dauerte einige Zeit, bis ich wieder fähig war,
meine Umgebung wahrzunehmen. Eine Welle von Trauer, Angst und
Hoffnungslosigkeit hatte mich überwältigt. Verschwommen nahm ich
wahr, daß Marys kleine Hand zaghaft meine Schulter tätschelte, daß
sie mir ein Taschentuch und einen Schluck Wasser anbot, aber ich
rollte mich zitternd zusammen, sprach nicht und wartete darauf, daß
sich die Verzweiflung löste, die meinen Magen zusammenkrampfte.
Endlich ebbte meine Panik ab, und ich sah Mary mit
tränenverschleierten Augen an.
»Es geht schon wieder.« Ich setzte mich auf und
putzte mir nicht gerade damenhaft mit dem Ärmel die Nase. Dann nahm
ich das dargebotene Handtuch und drückte es mir auf die Augen. Als
Mary sich besorgt über mich beugte, griff ich nach ihrer Hand und
streichelte sie beruhigend.
»Wirklich«, sagte ich. »Es geht mir besser. Und ich
bin so froh,
daß du hier bist.« Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich ließ das Tuch
sinken und sah sie forschend an.
»Was ich dich fragen wollte - warum bist du
überhaupt hier? In diesem Haus, meine ich.«
Mary senkte die Augen, errötete und zupfte an der
Tagesdecke.
»Der H-Herzog ist mein Pate, das weißt du
doch.«
»Ja, das habe ich inzwischen mitbekommen«,
erwiderte ich. »Doch ich habe so meine Zweifel, daß es ihm nur um
deine reizende Gesellschaft geht.«
Meine Bemerkung entlockte ihr ein zaghaftes
Lächeln. »N-nein. Aber er, der Herzog, meine ich, er denkt, daß er
einen passenden G-G-Gemahl für mich gefunden hat.« Die Anstrengung,
das Wort »Gemahl« auszusprechen, hatte ihr die Röte ins Gesicht
getrieben. »Papa hat mich hergebracht, damit ich ihn
kennenlerne.«
Ihr Verhalten ließ darauf schließen, daß man ihr
besser nicht zur Verlobung gratulierte. »Und, wer ist es?«
Wie sich herausstellte, kannte sie ihn nur dem
Namen nach. Ein Mr. Isaacson, der als Importeur in London tätig
war. Der vielbeschäftigte Mann hatte keine Zeit, nach Edinburgh zu
reisen, um seine Zukünftige zu treffen, war aber bereit, nach
Bellhurst Manor zu kommen, wo die Hochzeit stattfinden sollte,
sofern alle Beteiligten einverstanden waren.
Ich nahm die silberne Haarbürste vom Nachtkästchen
und begann gedankenverloren, meine Haare zu bürsten. Nachdem aus
der Verbindung mit dem französischen Adel nichts geworden war,
beabsichtigte der Herzog, sein Patenkind an einen reichen Kaufmann
zu verschachern.
»Ich habe eine neue Aussteuer«, sagte Mary mit
mattem Lächeln. »Dreiundvierzig bestickte Unterröcke... zwei mit
Goldfäden.« Sie hielt inne, preßte die Lippen zusammen und starrte
blicklos auf ihre unberingte linke Hand. Ich legte meine Hand auf
die ihre.
»Vielleicht ist er ein guter Mensch«, versuchte ich
ihr Mut zuzusprechen.
»Gerade d-davor habe ich ja Angst.« Sie wich meinem
fragenden Blick aus, senkte die Augen und faltete die Hände im
Schoß.
»Mr. Isaacson weiß nicht, was in... P-Paris
geschehen ist. Und ich soll es ihm auch nicht sagen.« Unglücklich
verzog sie das Gesicht. »Sie haben eine gräßliche alte Frau zu mir
geschickt, die mir erklärt hat, wie ich mich in der
H-H-Hochzeitsnacht verhalten
soll, damit es so aussieht, als wäre es das erstemal, aber ich...
o Claire, wie kann ich das machen?« klagte sie. »Und Alex... ich
konnte es ihm nicht sagen, ich habe es nicht über mich gebracht!
Ich war so ein Feigling, ich h-habe ihm nicht einmal Lebewohl
gesagt!«
Mary warf sich in meine Arme, und ich tätschelte
ihr den Rükken. Bei dem Versuch, sie zu trösten, trat mein eigener
Kummer ein wenig in den Hintergrund. Schließlich wurde sie ruhiger,
setzte sich auf und trank etwas Wasser. Sie hatte einen Schluckauf
bekommen.
»Wirst du ihn heiraten?« fragte ich. Sie sah mich
an, ihre Wimpern waren feucht.
»Ich habe keine andere Wahl«, sagte sie
schlicht.
»Aber...«, begann ich, hielt jedoch ratlos
inne.
Mary hatte recht. Als junge Frau, ohne eigenes
Vermögen und ohne Mann, der ihr beistand, blieb ihr nichts anderes
übrig, als sich den Wünschen ihres Vaters und ihres Paten zu beugen
und den unbekannten Mr. Isaacson aus London zu heiraten.
Keine von uns hatte jetzt noch Verlangen nach den
Speisen auf dem Tablett. Wir krochen unter die warmen Decken, und
Mary schlief, vor Kummer erschöpft, nach wenigen Minuten ein.
Obwohl ich mich nicht weniger ausgelaugt fühlte, fand ich keine
Ruhe; die Trauer um Hugh, die Sorge um Jamie und die Rätsel, die
sich um den Herzog rankten, hielten mich wach.
Die Laken waren klamm und meine Füße eiskalt. Um
mich nicht mit schlimmeren Sorgen quälen zu müssen, dachte ich über
Sandringham nach. Welche Rolle kam ihm in diesem Spiel zu?
Allem Anschein nach war er Jakobit. Wie er selbst
zugab, war er bereit gewesen, einen Mord zu begehen - oder begehen
zu lassen -, nur um zu gewährleisten, daß Charles die nötigen
Mittel bekam, um nach Schottland aufzubrechen. Und die musikalisch
verschlüsselte Nachricht wies darauf hin, daß es letztlich der
Herzog mit seinen Hilfeversprechungen gewesen war, der Charles dazu
bewogen hatte, im August die Segel zu setzen.
Gewiß gab es Männer, die sich hüteten, sich als
Jakobiten zu erkennen zu geben. Angesichts der Strafe, die auf
Verrat stand, schien das auch nicht weiter verwunderlich. Und der
Herzog hatte mehr zu verlieren als andere, sollte die Sache, der er
sich verschrieben hatte, scheitern.
Dennoch erweckte der Herzog kaum den Eindruck, ein
begeisterter Anhänger der Stuarts zu sein. Seine Bemerkungen über
Danton
verrieten, daß er einem katholischen Herrscher nur geringe
Sympathien entgegenbringen würde. Und warum hielt er seine
Zahlungen so lange zurück, wo Charles nicht nur jetzt, sondern
schon seit seiner Ankunft in Schottland so dringend Geld
brauchte?
Ich konnte mir nur zwei Gründe vorstellen, die das
Verhalten des Herzogs erklärten; zwar gereichte ihm keiner von
beiden zur Ehre, aber beide standen im Einklang mit seinem
Charakter.
Als Jakobit mochte er bereit sein, einen ihm nicht
genehmen katholischen König zu unterstützen, um als wichtigster
Geldgeber der wiedereingesetzten Stuartmonarchie in den Genuß
zahlreicher Vorteile zu kommen. Mir war klar, daß »Prinzipientreue«
nicht zum Vokabular des Mannes zählte, der Begriff »Eigennutz«
hingegen schon. Vielleicht wollte er Charles’ Einzug in England
abwarten, damit das Geld nicht verschwendet wurde, bevor die
Hochlandarmee den entscheidenden Vorstoß nach London wagte. Jeder
vernünftige Mensch, der Charles Stuart kannte, hätte eingesehen,
daß man ihm nicht zuviel Geld auf einmal anvertrauen durfte.
Vielleicht wollte der Herzog auch sichergehen, daß
die Stuarts die nötige Rückendeckung für ihren Feldzug bekamen,
bevor er sich selbst finanziell beteiligte. Schließlich war es ein
Unterschied, ob man eine Rebellion unterstützte oder ob man allein
eine ganze Armee unterhielt.
Doch es war noch ein weitaus unheilvolleres Motiv
für das herzogliche Verhalten denkbar. Indem er seine Unterstützung
davon abhängig machte, daß das jakobitische Heer englischen Boden
erreichte, beschwor er einen Konflikt zwischen Charles und seinen
Clanführern herauf. Denn Charles würde, das Geld vor Augen, eine
widerstrebende Armee nach Süden und damit weg von den schützenden
Bergen, in denen die Kämpfer Zuflucht finden konnten, führen.
Wenn sich der Herzog schon von den Stuarts reichen
Lohn versprach, sofern sie den Thron zurückeroberten, was hatte er
dann erst vom Hause Hannover zu erwarten, falls er Charles Stuart
aus Schottland weglockte und ihn und seine Anhänger auf Gedeih und
Verderb der englischen Armee auslieferte?
Die Geschichtsschreibung gab keinen Aufschluß über
die wahren Sympathien des Herzogs. Das erschien mir merkwürdig;
gewiß mußte er seine Absichten früher oder später preisgeben.
Andererseits hatte es der alte Fuchs, der Herr von Lovat, beim
letzten
Jakobitenaufstand verstanden, beide Seiten gegeneinander
auszuspielen, sich bei den Hannoveranern einzuschmeicheln und sich
gleichzeitig die Gunst der Stuarts zu erhalten. Und auch Jamie
hatte die Seiten gewechselt. Vielleicht war es in dem trügerischen
Sumpf der Machtpolitik nicht weiter schwierig, seine Zugehörigkeit
zu verbergen.
Während ich mich schlaflos und frierend
herumwälzte, hörte ich plötzlich ein leises rhythmisches Geräusch.
Ich drehte mich um, horchte, stützte mich auf den Ellbogen und
beäugte meine Gefährtin ungläubig. Sie hatte sich auf der Seite
eingerollt, ihre runden Wangen schimmerten rosig, und in ihrem
weichen Mund steckte sicher und geborgen ihr Daumen, während ihre
Unterlippe zarte Saugbewegungen machte.
Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
Schließlich tat ich keins von beiden, sondern zog ihr nur behutsam
den Daumen aus dem Mund und legte ihr die entspannte Hand auf die
Brust. Dann blies ich die Kerze aus und kuschelte mich an
Mary.
Ob es an der Unschuld dieser kleinen Geste lag, die
früheste Erinnerungen an Vertrauen und Geborgenheit heraufbeschwor,
an der trostreichen Nähe eines warmen Körpers oder nur daran, daß
mich Kummer und Furcht bis zur Erschöpfung ausgelaugt hatten -
jedenfalls tauten meine Füße auf, ich entspannte mich und schlief
ein.
In die warmen Decken gehüllt, schlummerte ich
traumlos und fest. Um so mehr erschrak ich, als ich jäh aus dem
Tiefschlaf gerissen wurde. Es war immer noch dunkel - stockfinster,
genauer gesagt, denn das Feuer war inzwischen erloschen -, aber in
unmittelbarer Nähe herrschte der reinste Tumult. Etwas Schweres war
auf dem Bett gelandet und hatte dabei meinen Arm gestreift, und
dieses Etwas trug sich offenbar mit der Absicht, Mary zu
ermorden.
Das Bett hob und senkte sich, die Matratze unter
mir kippte bedenklich, und das Bettgestell erbebte. Qualvolles
Stöhnen und leise Drohungen drangen an mein Ohr, und eine Hand
schlug mir ins Auge.
Hastig rollte ich mich aus dem Bett, stolperte die
Podeststufe hinunter und fiel der Länge nach auf den Boden. Die
Rauferei schien noch heftiger zu werden, und ich hörte ein
schreckliches, ersticktes Quieken - wahrscheinlich versuchte Mary
zu schreien, während sie erwürgt wurde.
Plötzlich ertönte ein verblüffter Ruf aus einer
männlichen Kehle, dann wurden noch einmal Bettdecken
durcheinandergeworfen, und die Schreie erstarben. Fieberhaft
tastete ich umher, fand die Zunderdose auf dem Tisch und zündete
eine Kerze an. Das flakkernde Flämmchen wurde größer und ruhiger
und offenbarte das, was ich schon vermutet hatte, als ich jene
gälischen Flüche hörte - Mary, von der man nichts sah außer wild um
sich schlagenden Armen, und bäuchlings auf ihr meinen sichtlich
aufgebrachten Gatten, der trotz seiner körperlichen Überlegenheit
buchstäblich alle Hände voll zu tun hatte.
Da er voll und ganz damit beschäftigt war, Mary zu
bändigen, hatte er nicht einmal von der gerade entzündeten Kerze
Notiz genommen. Statt dessen versuchte er, ihre Hände zu packen,
während er ihr gleichzeitig das Kissen aufs Gesicht drückte. Ich
unterdrückte das hysterische Lachen, das angesichts dieses
Spektakels in mir aufstieg, stellte die Kerze ab, beugte mich übers
Bett und klopfte ihm auf die Schulter.
»Jamie?«
»Herrgott!« Er sprang hoch wie ein Lachs und
landete in geduckter Haltung, die Hand am Dolch, auf dem Fußboden.
Dann sah er mich, sackte erleichtert zusammen und schloß die
Augen.
»Bei Gott, Sassenach! Tu das nie wieder, hörst du?
Seien Sie still«, fuhr er Mary an, die das Kissen abgeschüttelt
hatte, aufrecht im Bett saß, keuchte und große Augen machte. »Ich
wollte Ihnen nichts tun. Ich dachte, Sie sind meine Frau.« Er
umrundete das Bett, nahm mich an beiden Schultern und küßte mich so
fest, als wollte er sichergehen, daß er jetzt die richtige Frau in
den Armen hielt. Ich erwiderte seinen Kuß leidenschaftlich, rieb
mich an seinem unrasierten Kinn und sog seinen Duft nach feuchtem
Leinen und Wolle und Schweiß ein.
»Zieh dich an«, befahl er, als er mich losließ. »In
diesem verdammten Haus wimmelt es nur so von Dienstboten. Unten
geht’s zu wie in einem Ameisenhaufen.«
»Wie bist du hereingekommen?« fragte ich und sah
mich nach meinem Kleid um.
»Durch die Tür natürlich«, erwiderte er ungeduldig.
»Hier.« Er nahm mein Kleid von einem Stuhl und warf es mir zu.
Tatsächlich stand die massive Tür offen, und ein ansehnlicher
Schlüsselbund baumelte am Schloß.
»Aber wie...«, begann ich.
»Später«, entgegnete er schroff. Dann sah er Mary,
die aufgestanden war und ihren Morgenmantel überzog. »Am besten
verschwinden Sie wieder im Bett, Mädel«, riet er. »Der Fußboden ist
kalt.«
»Ich komme mit.« Marys Worte wurden durch die
Falten des Gewands gedämpft, doch als sie trotzig ihren Kopf durch
den Ausschnitt streckte, wurde ihre Entschlossenheit
deutlich.
»Den Teufel werden Sie tun«, entgegnete Jamie. Er
warf ihr einen wütenden Blick zu, und ich sah, daß sich frische
blutige Kratzwunden über seine Wange zogen. Doch als er ihre
zitternden Lippen sah, zügelte er seinen Zorn und redete beruhigend
auf sie ein. »Tut mir leid, Mädel. Ich sorge dafür, daß Sie deshalb
keine Schwierigkeiten bekommen. Ich schließe die Tür hinter uns
wieder ab, und morgen früh können Sie allen erzählen, was passiert
ist. Niemand wird Ihnen die Schuld daran geben.«
Ohne seine Worte zu beachten, streifte Mary hastig
ihre Hausschuhe über und rannte zur Tür.
»Holla! Wohin wollen Sie?« Verblüfft setzte Jamie
ihr nach, doch sie war vor ihm an der Tür. Gleich darauf stand sie
draußen in der Halle und funkelte ihn an.
»Ich komme mit!« erklärte sie wildentschlossen.
»Wenn Sie mich nicht mitnehmen, laufe ich den Korridor hinunter und
schreie, so laut ich kann!«
Jamie starrte sie an. Seine Haare leuchteten
kupfern im Kerzenschein, und das Blut stieg ihm in die Wangen.
Offenbar war er hin und her gerissen zwischen der Notwendigkeit,
sich ruhig zu verhalten, und dem Drang, Mary mit bloßen Händen zu
erwürgen und auf den Lärm zu pfeifen. Mary, die Röcke gerafft, um
sofort loszurennen, starrte wütend zurück. Da ich inzwischen Kleid
und Schuhe anhatte, stieß ich Jamie in die Rippen und löste damit
den Bann.
»Nimm sie mit«, sagte ich. »Los, wir gehen.«
Jamie bedachte mich mit einem Blick, der keinen
Deut freundlicher war als der, den er Mary zugeworfen hatte, doch
er zögerte keine Sekunde. Mit einem hastigen Nicken nahm er meinen
Arm, und wir eilten alle drei in den kalten, finsteren Korridor
hinaus.
Das Haus war totenstill und doch voller Geräusche;
Dielenbretter knarrten unter unseren Füßen, und unsere Kleider
raschelten wie
Laub im Sturmwind. Die Wandtäfelung ächzte, und leise Geräusche
vom anderen Ende des Korridors deuteten daraufhin, daß dort
heimlich Nagetiere am Werk waren. Und über alldem lag das
angsteinflößende Schweigen eines großen, dunklen Hauses, dessen
Schlummer nicht gestört werden durfte.
Mary hielt meinen Arm umklammert, als wir hinter
Jamie den Korridor hinunterschlichen. Er huschte wie ein Schatten
an der Wand entlang, lautlos, aber rasch.
Hinter einer Tür, an der wir vorbeikamen, hörte ich
leise Schritte. Auch Jamie wurde aufmerksam. Er drückte sich gegen
die Wand und bedeutete Mary und mir, es ihm gleichzutun. Eng an die
kühle Täfelung geschmiegt, hielt ich den Atem an.
Behutsam wurde die Tür geöffnet, und eine Frau mit
einer weißen Spitzenhaube steckte den Kopf heraus. Sie spähte in
die andere Richtung.
»Hallo«, wisperte sie. »Bist du’s, Albert?« Kalter
Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Das Hausmädchen erwartete den
Besuch des herzoglichen Kammerdieners, der dem Ruf der Franzosen
alle Ehre zu machen schien.
Wahrscheinlich würde sie einen bewaffneten Schotten
nicht als angemessenen Ersatz für ihren säumigen Liebhaber ansehen.
Ich spürte, wie sich Jamie neben mir anspannte, um seine Skrupel zu
überwinden - es war nicht seine Art, Frauen niederzuschlagen. Noch
ein Augenblick, und sie würde sich umdrehen, ihn erblicken und das
ganze Haus wachschreien.
Ich trat vor.
»Hm, nein«, sagte ich entschuldigend. »Leider bin’s
nur ich.«
Als die Dienstbotin zusammenfuhr, ging ich rasch
einen Schritt auf sie zu, so daß ich vor ihr stand, während Jamie
sich hinter ihrem Rücken an die Wand drückte.
»Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe«, meinte
ich mit fröhlichem Lächeln. »Ich konnte nicht schlafen, da dachte
ich mir, versuch’s doch mit einem Schluck heißer Milch. Geht’s hier
lang zur Küche?«
»Häh?« Die Dienstbotin, eine rundliche junge Frau
Anfang Zwanzig, starrte mich mit offenem Mund an. Von Zahnpflege
hielt sie offenbar nicht viel. Glücklicherweise war es nicht die
Frau, die mich auf mein Zimmer gebracht hatte. Vielleicht wußte sie
nicht, daß ich eine Gefangene war.
»Ich bin zu Besuch in diesem Hause«, stellte ich
schließlich klar. Den Grundsatz beherzigend, daß Angriff die beste
Verteidigung ist, starrte ich sie anklagend an.
»Albert, so, so? Weiß Seine Hoheit, daß Sie nachts
Männer in Ihrem Zimmer empfangen?« wollte ich wissen. Damit hatte
ich den Nerv getroffen, denn die Frau erblaßte, fiel auf die Knie
und umklammerte meinen Rock. Die Aussicht, verraten zu werden,
erschütterte sie so, daß sie zu fragen vergaß, warum ein Gast nach
Mitternacht durch den Korridor wanderte, und zwar nicht nur in
Kleid und Schuhen, sondern auch in einem Reiseumhang.
»O Madam! Bitte, sagen Sie es nicht Seiner Hoheit!
Sie haben ein gutes Gesicht, Madam, gewiß wollen Sie nicht, daß ich
meine Stellung verliere? Haben Sie Mitleid mit mir, gnädige Frau,
ich habe daheim noch sechs jüngere Geschwister, und ich...«
»Aber, aber.« Beruhigend klopfte ich ihr auf die
Schulter. »Keine Sorge, ich werde dem Herzog nichts sagen. Gehen
Sie einfach wieder ins Bett und...« In einem Tonfall, den man bei
Kindern und Geisteskranken anschlägt, beschwichtigte ich sie und
schob sie in ihre kleine Kammer zurück, während sie wortreich ihre
Unschuld beteuerte.
Nachdem ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte,
lehnte ich mich erschöpft gegen den Rahmen. Jamie tauchte aus den
Schatten auf und grinste mich an, sagte aber nichts, sondern
tätschelte nur anerkennend meinen Kopf, ehe er wieder meinen Arm
nahm und mich weiterzog.
Mary wartete unter einem Fenster auf dem
Treppenabsatz. Weiß leuchtete ihr Morgenmantel im Morgenlicht, das
durch die dahinjagenden Wolken schien. Allem Anschein nach zog ein
Sturm auf.
Als Jamie zu ihr auf den Treppenabsatz trat, hielt
Mary ihn an seinem Plaid fest.
»Psst!« flüsterte sie. »Da kommt jemand!«
Tatsächlich näherten sich von unten leise Schritte,
und der matte Lichtkegel einer Kerze fiel auf die Wände. Mary und
ich sahen uns hastig um, aber hier konnten wir uns nirgends
verstekken. Wir befanden uns auf einer Hintertreppe für die
Dienstboten, und auf den kahlen Absätzen gab es weder Möbel noch
Wandbehänge.
Jamie seufzte resigniert und bedeutete Mary und
mir, in den
Korridor zurückzukehren, aus dem wir gekommen waren. Dann
postierte er sich mit gezücktem Dolch in einer schattigen Ecke auf
dem Treppenabsatz.
Von bangen Befürchtungen geplagt, hielt Mary meine
Hand umklammert. Jamie trug zwar eine Pistole bei sich, aber es war
klar, daß er sie im Haus nicht benutzen konnte - und das würde auch
ein Lakai erkennen. Also mußte Jamie auf den Dolch zurückgreifen.
Mein Magen zog sich zusammen vor Mitleid mit dem unseligen Diener,
der im Begriff war, einem knapp zwei Zentner schweren Schotten ins
Messer zu laufen.
Im Geiste machte ich eine Bestandsaufnahme meiner
Kleidung und kam gerade zu dem Schluß, daß ich auf einen Unterrock
verzichten konnte, falls Fesseln benötigt wurden, als der gebeugte
Kopf des Kerzenträgers in Sicht kam. Das dunkle Haar war in der
Mitte gescheitelt und mit einer ekelerregend süßlichen Pomade
geglättet - ein Duft, der sofort die Erinnerung an eine düstere
Pariser Straße und schmale, grausame Lippen unter einer Maske
heraufbeschwor.
Danton hörte mein entsetztes Keuchen und blickte
erschrocken auf. Im nächsten Augenblick wurde er am Hals gepackt
und so heftig gegen die Wand gestoßen, daß seine Kerze in hohem
Bogen davonflog.
Auch Mary hatte ihn gesehen.
»Das ist er!« rief sie. Vor Schreck vergaß sie zu
stottern und wurde gefährlich laut. »Der Mann in Paris!«
Mit seinem muskulösen Unterarm drückte Jamie den
zappelnden Kammerdiener gegen die Wand. Im wechselnden Licht des
Mondes, der immer wieder zwischen Wolkenfetzen hervorlugte, war das
Gesicht des Mannes leichenblaß. Es wurde noch etwas blasser, als
Jamie ihm seine Klinge an die Kehle setzte.
Ich trat auf den Treppenabsatz. In diesem
Augenblick wußte ich weder, was Jamie vorhatte, noch war ich mir im
klaren darüber, was ich von ihm erwartete. Danton gab ein
ersticktes Stöhnen von sich, als er mich sah, und versuchte
vergeblich, sich zu bekreuzigen.
»La Dame Blanche!« flüsterte er mit
entsetztem Blick.
Jamie packte den Mann grob an den Haaren und schlug
seinen Kopf gegen die hölzerne Wandverkleidung.
»Hätte ich Zeit, mo garhe, würdest du
langsam sterben«, sagte er leise, doch seine ruhige Stimme
entbehrte nicht der Überzeugungskraft.
»Sieh es als Gnade Gottes an, daß ich in Eile bin.« Er zerrte
Dantons Kopf noch weiter nach hinten, so daß ich seinen krampfhaft
schluckenden Adamsapfel sah. Angsterfüllt starrte er mich an.
»Du nennst sie ›La Darne Blance«‹, stieß
Jamie hervor. »Ich nenne sie meine Frau. So soll denn ihr Gesicht
das letzte sein, was du in deinem Leben erblickst!«
Jamie stieß Danton das Messer mit solcher
Heftigkeit in die Kehle, daß er vor Anstrengung aufstöhnte. Ein
dunkler Blutschwall ergoß sich über sein Hemd. Der Geruch des jähen
Todes erfüllte das Treppenhaus, während der Mann mit einem nicht
enden wollenden Gurgeln in sich zusammensank.
Ich kam wieder zu mir, als ich hörte, wie Mary sich
hinter mir auf dem Korridor erbrach. Mein erster klarer Gedanke
war, daß die Dienstboten am nächsten Morgen eine fürchterliche
Bescherung aufwischen mußten. Mein zweiter Gedanke galt Jamie. Im
huschenden Mondlicht sah ich sein blutbesudeltes Gesicht und die
dunklen Tropfen auf seinem Haar. Er atmete schwer und machte den
Eindruck, als wäre ihm auch schlecht.
Als ich mich zu Mary umdrehte, sah ich weit hinten
im Korridor einen Lichtschimmer, der durch eine sich öffnende Tür
fiel. Offenbar wollte jemand nachsehen, woher der Lärm rührte. Ich
nahm den Saum von Marys Morgenrock, fuhr ihr damit hastig über den
Mund, packte sie am Arm und zog sie auf den Treppenabsatz.
»Komm schon!« sagte ich. »Wir müssen hier raus!«
Jamie, der wie benommen Dantons Leichnam betrachtete, schüttelte
sich unvermittelt, kam wieder zu sich und wandte sich zur
Treppe.
Offenbar wußte er den Weg, denn er führte uns ohne
Zögern durch die dunklen Flure. Schwer atmend stolperte Mary neben
mir her.
Vor der Tür zur Spülküche blieb Jamie plötzlich
stehen und stieß einen leisen Pfiff aus. Die Tür öffnete sich, und
schemenhafte Gestalten tauchten aus der Dunkelheit auf. Eine von
ihnen trat hastig vor. Gedämpfte Worte wurden gewechselt, und der
Mann - wer immer er sein mochte - griff nach Mary und zog sie in
den Schatten. Ein kühler Luftzug verriet mir, daß irgendwo vor uns
eine Tür nach draußen offenstand.
Jamie legte mir die Hand auf die Schulter und
führte mich durch die düstere Spülküche in einen kleineren Raum,
scheinbar eine Art
Rumpelkammer. Irgendwo stieß ich mir das Schienbein an,
unterdrückte aber den Schmerzensschrei.
Endlich gelangten wir ins Freie. Der Nachtwind fuhr
unter meinen Umhang und blähte ihn auf wie einen Ballon. Nach der
nervenaufreibenden Wanderung durch das dunkle Haus wäre ich am
liebsten davongeflogen.
Die Männer waren nicht weniger erleichtert als ich;
sie tauschten halblaute Bemerkungen aus und lachten gedämpft, bis
Jamie sie zur Ruhe rief. Dann huschte einer nach dem andern wie ein
Schatten über den freien Platz vor dem Haus. Neben mir stand Jamie
und beobachtete, wie sie im Gehölz verschwanden.
»Wo ist Murtagh?« brummte er, während er
stirnrunzelnd dem letzten seiner Männer nachblickte.
»Wahrscheinlich sucht er Hugh«, beantwortete er seine Frage selbst.
»Weißt du, wo der stecken könnte, Sassenach?«
Ich schluckte und spürte plötzlich den beißenden
Wind unter meinem Mantel. Die Erinnerung dämpfte das Hochgefühl der
Freiheit.
Mit knappen Worten erzählte ich es ihm. Sein
blutverschmiertes Gesicht verfinsterte sich, und als ich ausgeredet
hatte, waren seine Züge hart wie Stein.
»Wollt ihr die ganze Nacht hier herumstehen?«
erkundigte sich eine Stimme hinter uns. »Oder sollen wir Alarm
schlagen, damit sie gleich wissen, wo sie uns suchen müssen?«
Jamies Gesicht hellte sich ein wenig auf, als
Murtagh lautlos wie ein Geist neben uns aus den Schatten trat.
Unter einem Arm trug er ein Bündel; ein Braten aus der Küche,
dachte ich, als ich die Blutflecken auf dem Tuch sah. Bestärkt
wurde diese Mutmaßung durch den großen Schinken, den er sich unter
den anderen Arm geklemmt hatte, und die Wurstketten um seinen
Hals.
Jamie rümpfte die Nase und lächelte matt.
»Du riechst wie ein Metzger, Mann. Kannst du
nirgends hingehen, ohne an deinen Magen zu denken?«
Murtagh musterte Jamie mit schiefgelegtem
Kopf.
»Lieber wie ein Metzger aussehen als wie
Schlachtvieh nach der Schlachtung, mein Junge. Gehen wir
jetzt?«
Bei der Flucht durch den dunklen Wald wurde mir
bald unheimlich. Die mächtigen Bäume ragten in großen Abständen
auf, doch die
Schößlinge, die man dazwischen hatte stehen lassen, nahmen im
wechselnden Licht leicht die bedrohliche Gestalt eines Wildhüters
an. Endlich verdichteten sich die Wolken, und der Vollmond lugte
glücklicherweise seltener hervor. Als wir den Park durchquert
hatten, begann es zu regnen.
Drei Männer waren bei den Pferden geblieben. Mary
war bereits vor einem von Jamies Leuten aufgesessen. Im Herrensitz
reiten zu müssen war ihr sichtlich unangenehm, denn sie ordnete die
Falten ihres Morgenmantels immer wieder neu um ihre Schenkel,
vergeblich bemüht, die Tatsache zu verbergen, daß sie Beine
besaß.
Ich war zwar etwas erfahrener, fluchte aber auch
über die schweren Falten meines Rockes, als ich einen Fuß in Jamies
Hand setzte. Dann saß ich mit einem bewährten Plumps auf. Das Pferd
schnaubte entrüstet und legte die Ohren an.
»Tut mir leid, Kumpel«, murmelte ich ohne echtes
Mitgefühl. »Wenn du das schlimm findest, wart erst mal ab, bis er
aufsteigt.«
Als ich mich nach Jamie umschaute, sah ich ihn
unter einem Baum neben einem etwa vierzehnjährigen Jungen
stehen.
»Wer ist das?« fragte ich Geordie Paul Fraser, der
neben mir seinen Sattelgurt festzurrte.
»Wie? Ach, er.« Stirnrunzelnd sah er den Jungen an,
dann blickte er wieder auf seinen widerspenstigen Gurt. »Er heißt
Ewan Gibson. Hugh Munros ältester Stiefsohn. Scheinbar war er mit
seinem Vater unterwegs, als sie von den Wildhütern des Herzogs
erwischt wurden. Der Bub ist davongekommen, wir haben ihn am Rand
des Moores gefunden. Er hat uns hierhergeführt.« Nach einem letzten
unnötigen Zerren starrte er den Gurt herausfordernd an.
»Wissen Sie, wo wir den Vater von dem Buben
finden?« fragte er unvermittelt.
Ich nickte, und die Antwort stand mir anscheinend
ins Gesicht geschrieben, denn er drehte sich wieder zu Hughs
Stiefsohn um. Jamie drückte den Jungen an seine Brust und klopfte
ihm auf den Rücken. Dann hielt er ihn ein Stück von sich weg und
sagte etwas, wobei er ihn aufmerksam ansah. Jamies Worte verstand
ich nicht, aber nach einer Weile faßte sich der Junge und nickte.
Auch Jamie nickte, und mit einem letzten Klaps auf die Schulter
führte er ihn zu den Pferden, wo ihm George McClure bereits die
Hand entgegenstreckte. Dann kam Jamie mit gesenktem Kopf zu uns;
das lose Ende seines Plaids ließ er trotz Kälte und Regen im Wind
flattern.
Geordie spuckte auf den Boden. »Armes Schwein«,
murmelte er, ohne zu erklären, wen er meinte, und schwang sich in
den Sattel.
An der südöstlichen Ecke des Parks machten wir
halt. Die Pferde stampften und scheuten, während zwei der Männer
zwischen den Bäumen verschwanden. Es konnten nicht mehr als zwanzig
Minuten vergangen sein, bis sie zurückkamen, doch die Zeit kam uns
endlos vor.
Die Männer saßen nun zu zweit auf einem Pferd, das
andere trug quer über dem Sattel eine leblose Gestalt, die in ein
Fraserplaid gehüllt war. Den Pferden behagte das nicht. Meins warf
den Kopf hoch und blähte die Nüstern, als das Tier mit Hughs
Leichnam vorbeitrabte. Doch Jamie riß am Zügel, fluchte auf
gälisch, und das Tier fügte sich.
Ich spürte, wie sich Jamie hinter mir in den
Steigbügeln aufstellte und sich umsah, als wollte er seine
verbliebenen Gefolgsleute zählen. Dann legte er mir den Arm um die
Taille, und wir schlugen den Weg nach Norden ein.
Wir ritten fast die ganze Nacht hindurch. Während
einer kurzen Rast zog mich Jamie unter den schützenden Zweigen
einer Kastanie an sich, zögerte aber plötzlich.
»Was ist?« fragte ich lächelnd. »Hast du Angst,
deine Frau vor deinen Männern zu küssen?«
»Nein.« Er bewies mir seine Furchtlosigkeit, dann
lächelte er mich an. »Nein, mich überkam nur die Angst, daß du
anfängst zu schreien und mir das Gesicht zerkratzt.« Er betastete
vorsichtig die Spuren, die Marys Fingernägel hinterlassen
hatten.
»Du Armer«, sagte ich lachend. Nicht der
Willkommensgruß, auf den du dich gefreut hattest, oder?«
»Ich hab’ mir nichts Besseres mehr erhofft«, meinte
er grinsend. Er hatte zwei Würste von Murtaghs Kette abgeschnitten
und reichte mir eine.
»Was meinst du damit? Hast du gedacht, ich würde
dich nach einer Woche schon nicht mehr wiedererkennen?«
Immer noch lächelnd schüttelte er den Kopf.
»Nein. Aber als ich ins Haus kam, wußte ich mehr
oder weniger, wo du bist, wegen der vergitterten Fenster.« Er zog
eine Braue hoch. »So wie die aussahen, mußt du einen teuflischen
Eindruck auf Seine Hoheit gemacht haben.«
»Das habe ich auch«, erwiderte ich knapp. An den
Herzog wollte ich jetzt keinen Gedanken verschwenden. »Erzähl
weiter.«
»Na«, meinte er und schob den nächsten Bissen in
den Mund, »ich kannte das Zimmer, aber ich brauchte den Schlüssel,
nicht wahr?«
»Genau«, bestätigte ich. »Und das wolltest du mir
erzählen.«
Er kaute kurz und schluckte.
»Den hat mir die Haushälterin gegeben, allerdings
nicht ganz freiwillig.« Er rieb sich behutsam den Unterleib. »Allem
Anschein nach ist die Frau schon öfter nachts im Bett gestört
worden - und es hat ihr nicht gefallen.«
»O ja.« Amüsiert stellte ich mir die Szene vor.
»Wahrscheinlich hat sie dich für eine erfrischende Abwechslung
gehalten.«
»Das wage ich zu bezweifeln, Sassenach. Sie
kreischte wie eine Todesfee und stieß mir das Knie in den
Unterleib, und während ich mich vor Schmerz krümmte, hätte sie mir
beinah mit dem Kerzenleuchter den Schädel eingeschlagen.«
»Und was hast du gemacht?«
»Ich habe sie niedergeschlagen - in dem Augenblick
war mir nicht gerade ritterlich zumute - und sie mit den Bändern
ihrer Nachthaube gefesselt. Dann habe ich ihr ein Handtuch in den
Mund gestopft, damit sie endlich aufhörte, mir Schimpfnamen an den
Kopf zu werfen, und ihr Zimmer durchsucht, bis ich die Schlüssel
gefunden hatte.«
»Gut gemacht.« Doch da fiel mir etwas ein. »Aber
woher wußtest du, wo die Haushälterin schläft?«
»Das hat mir die Wäscherin erzählt«, meinte er
gelassen, »aber erst mußte ich ihr erklären, wer ich bin, und ihr
androhen, sie auszuweiden und am Spieß zu braten, wenn sie mir
nicht sagte, was ich wissen wollte.« Er lächelte gequält. »Ich
hab’s dir gesagt, Sassenach, es hat seine Vorteile, wenn einem der
Ruf eines Barbaren vorauseilt. Vermutlich haben inzwischen alle vom
roten Jamie Fraser gehört.«
»Und wer den Namen noch nicht kennt, wird ihn
demnächst kennenlernen.« Ich musterte ihn, so gut es im Halbdunkel
ging. »Und bei der Wäscherin bist du ungeschoren
davongekommen?«
»Sie hat mich an den Haaren gezogen«, meinte er
nachdenklich, »und mir ein Büschel ausgerissen. Eins sage ich dir,
Sassenach, wenn ich je den Beruf wechseln muß, dann werde ich mich
hüten,
Frauen auszurauben - sich damit den Lebensunterhalt zu verdienen
ist verdammt hart.«
Gegen Morgen setzte heftiger Schneeregen ein, aber
wir ritten noch eine Weile, ehe Ewan Gibson sein Pony zügelte und
sich schwerfällig in den Steigbügeln aufstellte, um Ausschau zu
halten. Dann deutete er auf einen Hügel, der sich zur Linken
erhob.
Da es immer noch dunkel war, mußten wir absitzen
und die Pferde den fast unsichtbaren Pfad hinaufführen, der sich
durch Heidekraut und Granitfelsen wand. Als wir auf dem Gipfel
angelangt waren und verschnauften, wurde es hell. Beim Abstieg
konnte ich nun wenigstens die Rinnsale sehen und den Fußangeln in
Gestalt von Brombeerranken ausweichen.
In dem kleinen Talkessel am Fuße des Hügels standen
sechs Häuser - obwohl »Haus« nicht das rechte Wort war für die
armseligen Hütten, die sich dort unter den Lärchen duckten. Die
strohgedeckten Dächer waren so tief hinuntergezogen, daß von den
Mauern kaum noch etwas zu sehen war.
Vor einer Hütte machten wir halt. Ewan sah Jamie
zögernd an, und als dieser nickte, verschwand er unter dem
niedrigen Türbalken der Behausung. Ich trat zu Jamie und legte
meine Hand auf seinen Arm.
»Das ist Hugh Munros Haus«, sagte er leise. »Ich
habe ihn heimgebracht zu seiner Frau. Der Junge sagt es ihr.«
Ich blickte erst auf den dunklen, niedrigen Eingang
der Hütte und dann auf den schlaffen Körper unter dem Plaid, den
zwei der Männer losbanden. Jamies Arm zitterte, er schloß kurz die
Augen, und seine Lippen bewegten sich. Dann trat er vor und nahm
die Last mit ausgestreckten Armen entgegen. Ich strich mir das Haar
aus dem Gesicht und folgte ihm gebückt durch die niedrige
Tür.
Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte,
aber immer noch schlimm genug. Hughs Witwe lauschte schweigend und
mit gesenktem Haupt Jamies gälischen Beileidsworten, während ihr
die Tränen über die Wangen liefen. Zögernd streckte sie die Hand
nach dem Plaid aus, als wollte sie es wegziehen, aber dann verließ
sie der Mut. Unbeholfen ruhte ihre Hand auf dem Leichentuch,
während sie mit der anderen ein kleines Kind an sich zog.
Neben dem Feuer kauerten mehrere Kinder - Hughs
Stiefkinder -, und in einer rohgezimmerten Wiege nah am Herd lag
ein kleines,
in Windeln gewickeltes Bündel. Der Anblick des Babys hatte etwas
Tröstliches; wenigstens das war von Hugh geblieben. Doch dieses
Gefühl wich der kalten Furcht, als ich die schmutzigen
Kindergesichter im Halbdunkel sah. Hugh hatte für sie gesorgt. Ewan
war tapfer und arbeitswillig, aber nicht älter als vierzehn, und
das nächste Kind war ein Mädchen von etwa zwölf Jahren. Wie sollten
sie über die Runden kommen?
Das Gesicht der Frau war von Arbeit und Sorge
gezeichnet. Sie hatte fast keine Zähne mehr. Erschrocken bedachte
ich, daß sie wohl nur wenige Jahre älter war als ich. Sie wies auf
das Bett, und Jamie legte den Leichnam behutsam nieder. Dann sprach
er wieder auf gälisch mit ihr, doch sie schüttelte hoffnungslos den
Kopf und starrte unverwandt die verhüllte Gestalt auf dem Bett
an.
Jamie kniete neben dem Bett nieder, neigte den Kopf
und legte eine Hand auf den Leichnam. Er sprach leise, aber
deutlich, und selbst ich mit meinen beschränkten Gälischkenntnissen
konnte ihm folgen.
»Ich schwöre dir, Freund, und Gott, der
Allmächtige, sei mein Zeuge. Um der Liebe willen, die du für mich
empfunden hast, sollen die Deinen niemals Not leiden, solange ich
etwas zu geben habe.« Reglos verharrte er auf den Knien. In der
Hütte war außer dem Knacken des Torffeuers und dem Geräusch des
Regens auf dem Strohdach kein Laut zu hören. Jamies Haare waren
dunkel vor Nässe, und Regentropfen leuchteten juwelengleich auf den
Falten seines Plaids. Dann ballte er seine Faust zu einem letzten
Abschiedsgruß und stand auf.
Jamie verneigte sich vor Mrs. Munro und nahm meinen
Arm. Doch bevor wir gehen konnten, wurde das Kuhfell, das vor dem
Eingang hing, beiseite geschoben, und ich trat zurück, um Mary
Hawkins, gefolgt von Murtagh, Platz zu machen.
Mary war nicht nur durchnäßt, sondern auch
verwirrt. Ein feuchtes Plaid lag um ihre Schultern, und unter dem
durchweichten Samt ihres Morgenmantels lugten ihre schmutzigen
Hausschuhe hervor. Als sie mich erblickte, trat sie rasch an meine
Seite, als wäre sie dankbar für meine Gegenwart.
»Ich w-wollte nicht hereinkommen«, wisperte sie mit
einem scheuen Blick auf Hugh Munros Witwe, »aber Mr. Murtagh hat
darauf bestanden.«
Jamie runzelte fragend die Stirn, während Murtagh
Mrs. Munro
respektvoll grüßte und sie auf gälisch ansprach. Murtagh sah aus
wie immer, griesgrämig, aber tüchtig, doch mir fiel auf, daß seine
Haltung noch mehr Würde zeigte als sonst. Vor dem Bauch trug er
eine pralle Satteltasche. Vielleicht ein Abschiedsgeschenk für Mrs.
Munro, dachte ich.
Murtagh legte die Tasche vor mir auf den Boden.
Dann richtete er sich auf und sah erst mich an, dann Mary, dann
Hugh Munros Witwe, und zuletzt Jamie, der ebenso verdutzt wirkte
wie ich. Nachdem Murtagh sich der Aufmerksamkeit seines Publikums
vergewissert hatte, verbeugte er sich in aller Form vor mir, wobei
ihm eine dunkle Locke in die Stirn fiel.
»Ich bringe dir deine Rache«, sagte er gemessen.
Dann richtete er sich wieder auf und verneigte sich nacheinander
vor Mary und Mrs. Munro. »Und Gerechtigkeit für das Unrecht, das
euch widerfahren ist.«
Mary nieste und wischte sich hastig die Nase mit
ihrem Plaid ab. Mit großen Augen starrte sie Murtagh an. Ich
blickte auf die ausgebeulte Satteltasche, und die Kälte, die mir
plötzlich über den Rücken kroch, hatte nichts mit dem Wetter
draußen zu tun. Aber es war Hugh Munros Witwe, die auf die Knie
niedersank, mit ruhiger Hand die Tasche öffnete und den Kopf des
Herzogs von Sandringham herauszog.