31
Alltag in Lallybroch
Nach dieser etwas mißglückten Heimkehr wendeten sich die Dinge sehr rasch zum Besseren. Jamie wurde von Lallybroch sogleich voll in Anspruch genommen, ganz so, als ob er nie weggewesen wäre, und auch ich wurde in den Alltag des Landlebens einbezogen. Es war ein stürmischer Herbst mit viel Regen, doch gab es auch heitere, schöne Tage. Überall herrschte lebhaftes Treiben, die Ernte mußte eingebracht und die für den herannahenden Winter notwendigen Vorbereitungen getroffen werden.
Lallybroch war abgelegen, selbst im Vergleich zu anderen Hochlandgütern. Es gab nicht einmal richtige Straßen, doch die Post erreichte uns trotzdem. Der Briefträger war unsere einzige Verbindung zur Außenwelt. In meiner Erinnerung erschien mir die Welt draußen manchmal als etwas Unwirkliches, als hätte ich niemals im Spiegelsaal von Versailles getanzt. Doch die Briefe brachten mir Frankreich zurück, und während ich sie las, konnte ich im Geist die Pappeln in der Rue Tremoulins sehen oder das Dröhnen der Kathedralenglocken im Höpital des Anges hören.
Louise hatte inzwischen ein gesundes Kind zur Welt gebracht, einen Sohn. Ihre Briefe, gespickt mit Ausrufezeichen und Unterstreichungen, sprühten vor Begeisterung über den engelsgleichen Henri. Von seinem Vater, dem vermeintlichen oder dem echten, war nie die Rede.
In Charles Stuarts Brief wiederum, der einen Monat danach eintraf, wurde das Kind mit keiner Silbe erwähnt. Doch Jamie meinte, der Brief sei noch wirrer als sonst und schwelge in hochtrabenden, unausgegorenen Plänen.
Der Graf von Mar schrieb nüchtern und umsichtig, machte aber aus seinem Ärger über Charles keinen Hehl. Der Bonnie Prince wußte sich nicht zu benehmen. Er war grob und herrisch gegenüber seinen getreuesten Gefolgsleuten, ließ jene, die ihm nützlich hätten sein können, links liegen, war ungezügelt in seiner Rede, und - wie man zwischen den Zeilen lesen konnte - er trank zuviel. In Anbetracht der allgemeinen Ansichten jener Zeit, was den Alkoholkonsum von Herren von Stand betraf, mußten Charles’ Trinkgewohnheiten höchst beeindruckend sein, wenn sie eigens erwähnt wurden. Vermutlich war ihm die Geburt seines Sohnes nicht entgangen.
Mutter Hildegarde schrieb auch ab und zu; es waren knapp gehaltene Mitteilungen, die sie in den wenigen Minuten niederschrieb, die sie sich während eines ausgefüllten Tages abringen konnte. Ihre Briefe schlossen stets mit den gleichen Worten: »Bouton läßt ebenfalls grüßen.«
Maître Raymond schrieb zwar nicht, doch trafen gelegentlich an mich adressierte Briefe ein, ohne Absender und ohne Gruß, die seltsame Dinge enthielten; seltene Kräuter und kleine geschliffene Kristalle; Steine, jeder so groß wie Jamies Daumennagel, glatt und scheibenförmig. In jeden dieser Steine war auf eine Seite eine winzige Figur gemeißelt, und manche trugen außerdem eine Inschrift oberhalb des Bildes oder auf der Rückseite. Und dann Knochen - eine Bärenzehe mit der großen gekrümmten Klaue daran; das vollständige Rückgrat einer kleinen Schlange; bis hin zu etwas, das einem menschlichen Backenzahn verdächtig ähnlich sah.
Ab und zu steckte ich mir ein paar der glatten Steine in die Tasche, denn sie fühlten sich angenehm an. Daß sie alt sein mußten, wußte ich. Mindestens aus der Römerzeit, vielleicht sogar noch älter. Und den Figuren nach zu urteilen, mußte man ihnen magische Fähigkeiten zugeschrieben haben. Ob sie tatsächlich etwas bewirkten oder - wie etwa die Zeichen der Kabbala - lediglich symbolische Bedeutung hatten, das wußte ich nicht. Jedenfalls schienen sie mir eher freundlich gesonnen, und so bewahrte ich sie auf.
Ich verrichtete die täglich anstehenden Arbeiten im Haushalt gern, doch am liebsten mochte ich die langen Spaziergänge zu den Katen im Umkreis. Bei diesen Rundgängen hatte ich stets einen großen Korb mit einer Vielzahl von Dingen dabei, von kleinen Mitbringseln für die Kinder bis zu den Arzneimitteln, die häufig benötigt wurden. Denn aufgrund der Armut und der schlechten hygienischen Verhältnisse waren Krankheiten weit verbreitet, und nördlich von Fort William und südlich von Inverness gab es keine Ärzte.
Manche Krankheiten konnte ich behandeln, zum Beispiel Zahnfleischbluten und Hautausschlag im Frühstadium von Skorbut. Anderes dagegen überstieg meine Heilkräfte.
 
Ich legte meine Hand auf Rabbie MacNabs Kopf. Sein struppiges Haar war an den Schläfen feucht, doch sein Mund war offen, locker und entspannt, und der Pulsschlag am Hals ging langsam.
»Es geht ihm jetzt gut«, sagte ich. Das sah auch seine Mutter; friedlich schlafend lag er da. Sie entspannte sich.
»Der heiligen Muttergottes sei Dank!« murmelte Mary MacNab und bekreuzigte sich flüchtig, »und Ihnen auch, Herrin.«
»Ich habe doch gar nichts gemacht«, widersprach ich. Das stimmte tatsächlich; der einzige Dienst, den ich dem jungen Rabbie erweisen konnte, bestand darin, daß ich seine Mutter bat, ihn in Ruhe zu lassen. Es hatte mich in der Tat einiges an Überredungskunst gekostet, sie davon abzuhalten, ihm mit Hahnenblut vermischte Kleie einzuflößen, mit versengten Federn unter seiner Nase herumzuwedeln oder ihn mit kaltem Wasser zu begießen - denn keine dieser Methoden schien besonders angezeigt bei einem epileptischen Anfall. Als ich kam, hatte seine Mutter wortreich bedauert, daß sie nicht das wirkungsvollste Mittel anwenden konnte - Quellwasser, das der Patient aus dem Schädel eines Selbstmörders zu trinken hatte.
»Es erschreckt mich immer so, wenn er diese Anfälle bekommt«, meinte Mary MacNab und blickte sehnsüchtig auf das Bett, in dem ihr Sohn lag. »Letztesmal habe ich Vater MacMurtry geholt, und er hat ein furchtbar langes Gebet gesprochen und ihn mit Weihwasser besprengt, um die Teufel auszutreiben. Aber jetzt sind sie doch zurückgekehrt.« Sie rang die Hände, als ob sie am liebsten ihren Sohn streicheln würde, es aber nicht fertigbrächte.
»Es sind keine Teufel«, erwiderte ich. »Es ist nur eine Krankheit, und gar keine besonders schlimme.«
»Aye, Herrin, wenn Sie das sagen«, murmelte sie. Offensichtlich war sie nicht überzeugt, wollte mir aber auch nicht widersprechen.
»Es wird ihm bald wieder gutgehen«, versuchte ich, die Frau zu beschwichtigen, ohne ihr falsche Hoffnungen zu machen. »Er hat sich doch von solchen Anfällen immer wieder erholt, nicht wahr?« Die Anfälle hatten vor zwei Jahren angefangen - wohl infolge von Kopfverletzungen, die ihm sein seliger Vater zugefügt hatte -, und wenn sie auch nicht sehr häufig auftraten, so jagten sie seiner Mutter doch jedesmal wieder Angst und Schrecken ein.
Sie nickte widerstrebend.
»Aye... obwohl er sich immer den Kopf anschlägt, wenn er sich so hin und her wirft.«
»Ja, das ist nicht ungefährlich«, nickte ich geduldig. »Wenn es wieder passiert, müssen Sie zusehen, daß er sich nicht irgendwo anstoßen kann, und ihn dann allein lassen. Ich weiß, daß es fürchterlich anzusehen ist, aber danach geht es ihm wieder gut. Warten Sie einfach ab, bis der Anfall vorbei ist, dann legen Sie Rabbie ins Bett und lassen ihn schlafen.« Ich wußte, daß meine Worte nur wenig ausrichten konnten. Um Mary zu überzeugen, bedurfte es eines handfesten Beweises.
Als ich mich zum Gehen wandte, hörte ich ein Klicken in der tiefen Tasche meines Rockes, und da kam mir plötzlich eine Idee. Ich griff hinein und holte ein paar der Zaubersteinchen heraus, die Raymond mir geschickt hatte. Ich wählte das milchig weiße - Chalcedon vermutlich -, auf dem ein sich krümmender Mann dargestellt war. Dafür ist es also gedacht, schoß es mir durch den Kopf.
»Nähen Sie ihm diesen Stein in die Tasche«, sagte ich und drückte der Frau den winzigen Talisman in die Hand. »Er wird ihn vor... vor Teufeln schützen.« Ich räusperte mich. »Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen, auch wenn er wieder so einen Anfall hat; er wird ihn unversehrt überstehen.«
Als ich beim Abschied mit einem Schwall von Dankesworten überschüttet wurde, kam ich mir ausgesprochen albern vor, war aber gleichzeitig zufrieden. Ich war nicht ganz sicher, ob ich nun eine immer bessere Heilerin wurde oder nur geübter Scharlatan. Aber wenn ich schon nichts für Rabbie tun konnte, so konnte ich doch wenigstens seiner Mutter helfen - oder ihr dabei helfen, sich selbst zu helfen. Heilung geht vom Kranken selbst aus, nicht vom Arzt. Das hatte mir Raymond beigebracht.
 
Und so machte ich mich auf zu meinen weiteren Besuchen, nämlich zu zwei Katen auf der Westseite des Guts. Doch bei den Kirbys und den Weston Frasers waren alle wohlauf, und schon bald begab ich mich auf den langen Nachhauseweg. Oben auf dem Hang setzte ich mich unter eine große Buche und ruhte mich einen Augenblick aus. Die Sonne stand bereits tief am Himmel, hatte die Kiefern auf der Hügelkette westlich von Lallybroch aber noch nicht erreicht. Es war schon später Nachmittag, und die Landschaft erstrahlte in kräftigen Herbstfarben.
Als ich mich gegen den glatten Stamm einer Buche lehnte und die Augen schloß, verwandelte sich das helle Leuchten der reifen Gerstenfelder hinter meinen Augenlidern in ein glühendes Dunkelrot.
Die stickigen Räume der bäuerlichen Katen hatten mir Kopfschmerzen verursacht. Den Kopf an den Baum gelehnt, begann ich langsam und tief zu atmen. Meine Lungen füllten sich mit frischer Luft, und ich überließ mich dem, was ich meine »Einkehr« nannte.
Es war mein unvollkommener Versuch, jenen Prozeß zu wiederholen, den Maître Raymond mir im Hôpital des Anges gezeigt hatte: eine Übung, bei der ich den Blick nach innen richtete und versuchte, jede Faser meines Körpers zu spüren, indem ich mir die verschiedenen Organe und ihre Funktionen genau vorstellte.
Ich saß ganz ruhig, meine Hände lagen entspannt in meinem Schoß, und ich lauschte auf den Schlag meines Herzens. Es pochte zuerst schnell vom Aufstieg, aber bald schlug es langsam und gleichmäßig. Die herbstliche Brise blies mir in den Nacken und kühlte meine glühend heißen Wangen.
Mit geschlossenen Augen folgte ich im Geist dem Strömen meines Blutes, das durch die Herzkammern floß, dann blaurot durch die Lungenschlagader strömte und sich rasch in Rot verwandelte, während es in den Lungenflügeln mit Sauerstoff angereichert wurde. Durch den Aortabogen schoß es nun in rasender Geschwindigkeit dahin und verzweigte sich nach oben, nach unten, zur Seite - in die Halsschlagader, hinein in die Nieren, in die Schlagader am Schlüsselbein. Bis in die feinsten Kapillaren und bis direkt unter die Haut verfolgte ich den Blutkreislauf meines Körpers, und ich empfand Vollkommenheit und Wohlbefinden. Frieden.
Ruhig saß ich da, atmete langsam und fühlte mich schläfrig wie nach dem Liebesakt. Ich spürte meine Haut, dünn und verletzlich, die etwas geschwollenen Lippen, und meine Kleider fühlten sich an wie Jamies Berührung. Es war kein Zufall, daß ich an ihn gedacht hatte, um die Heilungskräfte in mir zu wecken. Ob es die geistige oder die körperliche Gesundheit betraf - seine Liebe war für mich wichtig wie Brot oder Blut.
Der Kopfschmerz war verschwunden. Einen Augenblick verweilte ich noch, dann erhob ich mich und ging den Hügel hinunter nach Hause.
 
Ein Zuhause hatte ich eigentlich nie gehabt. Mit fünf Jahren wurde ich Waise und teilte in den folgenden dreizehn Jahren das vagabundierende Forscherleben meines Onkels Lamb. In Zelten auf staubigen Ebenen, in Höhlen in den Bergen oder in den gekehrten und geschmückten Kammern einer leeren Pyramide schlug Quentin Lambert Beauchamp, M. A., Dr. rer. phil., Mitglied der Königlichen Akademie der Naturwissenschaften, jeweils sein flüchtiges Lager auf und betrieb seine archäologischen Forschungen, die ihn berühmt machen sollten, lange bevor ein Autounfall seinen Bruder das Leben kostete und mich in sein Leben drängte. Onkel Lamb war nicht der Typ, der sich über Kleinigkeiten wie eine verwaiste Nichte lange den Kopf zerbrach, und so hatte er mich in einem Internat angemeldet.
Doch ich gehörte nicht zu denen, die die Wechselfälle des Schicksals kampflos hinnehmen, und weigerte mich strikt, dorthin zu gehen. Da Onkel Lamb an mir einen Charakterzug wahrnahm, den er von sich selbst nur allzugut kannte, zuckte er bloß die Schultern und ließ mich an seinem Vagabundenleben teilhaben.
Dieses ruhelose Leben war dann mit Frank weitergegangen, hatte sich aber vom freien Feld in die geschlossenen Räume der Universitäten verlagert. Denn die Forschungen eines Historikers finden für gewöhnlich drinnen statt. Als dann 1939 der Krieg ausbrach, war das für mich ein weitaus geringerer Bruch als für die meisten anderen Menschen.
Ich zog aus unserer letzten Mietwohnung in die Schwesternstation im Pembroke Hospital und von da aus in ein Feldlazarett nach Frankreich, ehe ich wieder nach Pembroke zurückkehrte. Es folgten einige wenige kurze Monate mit Frank, bevor wir nach Schottland aufbrachen, um wieder zueinanderzufinden. Doch hier verloren wir uns für immer, als ich in einen Steinkreis trat, den Wahnsinn kennenlernte und mich in einer Vergangenheit wiederfand, die jetzt meine Gegenwart war.
Es war seltsam und wunderbar zugleich, in Lallybroch im oberen Schlafzimmer neben Jamie aufzuwachen, sein schlafendes Gesicht im morgendlichen Dämmerlicht zu sehen und daran zu denken, daß er in diesem Bett geboren worden war. Die Geräusche im Haus, das Ächzen der Hintertreppe unter den Schritten einer Magd, der Regen, der auf das Schieferdach trommelte - all das waren Geräusche, die er schon so oft gehört hatte, daß er sie nicht mehr wahrnahm. Ich schon.
Seine Mutter Ellen hatte einen spätblühenden Rosenstrauch neben der Haustür gepflanzt, dessen feiner und schwerer Duft durch das Schlafzimmerfenster drang. Es war, als ob sie selbst hereinkäme und im Vorbeigehen sanft sein Gesicht streifte. Und auch mich mit einer flüchtigen Berührung willkommen hieß.
Hinter dem Wohnhaus lag Lallybroch selbst; Felder und Scheunen, das Dorf und die kleinen Gehöfte. In dem Fluß, der von den Bergen herabkam, hatte Jamie Fische gefangen, er war die Eichen hinaufgeklettert und hatte Lärchen erklommen, deren Holz inzwischen von den Herdfeuern der Katen verzehrt worden war. Dies hier war sein Zuhause.
Doch auch sein Leben war voller Brüche und Erschütterungen gewesen. Verhaftung, das gehetzte Leben eines Geächteten, das entwurzelte Leben eines Söldners. Dann wieder Verhaftung, Gefangenschaft und Folter, und schließlich die Flucht ins Exil, das nun hinter ihm lag. Doch die ersten vierzehn Jahre seines Lebens hatte er an einem Ort verbracht. Und auch daß er, wie es Brauch war, für zwei Jahre zum Bruder seiner Mutter, Dougal MacKenzie, geschickt wurde, gehörte zum Leben eines jungen Mannes, der später auf sein Gut zurückkehren, sich um seine Pächter und um Haus und Hof kümmern und Teil eines großen Ganzen werden würde. Beständigkeit war seine Bestimmung.
Allerdings war da jene Zeit der Abwesenheit gewesen, in der er Dinge gesehen hatte, die über die engen Grenzen von Lallybroch hinausgingen, ja jenseits der felsigen Küste Schottlands lagen. Jamie hatte mit Königen gesprochen, Recht und Gesetz und Handel kennengelernt, Abenteuer, Gewalt und Magie erlebt. Da er nun einmal die Grenzen der Heimat überschritten hatte - konnte ihn seine Bestimmung, sein Schicksal hier für immer festhalten? Ich war mir nicht sicher.
Als ich den Hügel hinabstieg, sah ich ihn unten Pflastersteine setzen. Er reparierte einen Riß in einer Trockenmauer, die ein kleines Feld begrenzte. Neben ihm auf der Erde lagen zwei Kaninchen, sauber ausgeweidet, aber noch nicht gehäutet.
»›Heim kehrt der Schiffer, heim vom Meer, und der Jäger kehrt heim von den Hügeln‹«, zitierte ich, während ich näher kam.
Er lächelte mir zu, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte sich.
»Hör mir bloß auf mit dem Meer, Sassenach. Ich habe heute morgen zwei Burschen gesehen, die ein Stück Holz auf dem Mühlteich schwimmen ließen, und allein vom Zuschauen wäre mir beinahe mein Frühstück hochgekommen.«
Ich lachte. »Dann hast du also keine Eile, nach Frankreich zurückzukehren?«
»Gott bewahre. Nicht einmal der Weinbrand kann mich lokken.« Er setzte einen letzten Stein auf die Mauer und rückte ihn zurecht. »Gehst du nach Hause?«
»Ja. Soll ich die Kaninchen mitnehmen?«
Er schüttelte den Kopf und bückte sich nach ihnen. »Brauchst du nicht; ich komme auch mit. Ian braucht jemanden, der ihm bei den neuen Vorratskellern für die Kartoffeln hilft.«
Die erste Kartoffelernte in Lallybroch sollte in wenigen Tagen stattfinden, und auf meinen schüchternen und laienhaften Rat hin wurde ein kleiner Keller gebaut, um die Kartoffeln darin zu lagern. Ich hatte äußerst gemischte Gefühle, wenn ich das Kartoffelfeld betrachtete. Einerseits war ich richtig stolz auf das wuchernde Kraut. Andererseits bekam ich panische Angst bei dem Gedanken, daß sechzig Familien den ganzen Winter hindurch mit dem auskommen mußten, was unter diesem Kraut in der Erde steckte. Auf meinen Vorschlag hin - den ich unbedacht ein Jahr zuvor gemacht hatte - war ein erstklassiges Gerstenfeld in einen Kartoffelacker umgewandelt worden. Bis dahin waren Kartoffeln im Hochland gänzlich unbekannt.
Wie ich wußte, würde sich die Kartoffel im Hochland zu einem wichtigen Nahrungsmittel entwickeln, da sie weniger krankheitsanfällig war als Hafer und Gerste. Das hatte ich vor langer Zeit in einem Geographiebuch gelesen. Doch die Verantwortung für die Menschen zu übernehmen, die von den Früchten der Erde leben mußten, war etwas ganz anderes.
Ich überlegte, ob diese Verantwortung nicht vielleicht nur Übungssache war. Jamie war es gewohnt, sich um die Angelegenheiten des Gutes und der Pächter zu kümmern, als wäre er dafür geschaffen. Aber das war er ja auch.
»Dann ist der Keller also bald fertig?« fragte ich.
»Aye. Ian hat die Türen gemacht, und auch die Grube ist fast ausgehoben. Nur im hinteren Teil ist lockeres Erdreich, wo er mit seinem Holzbein immer steckenbleibt.«
Nachdenklich blickte Jamie zu dem Hügel hinter uns. »Wir müssen den Keller bis heute abend fertig haben und abdecken. Es wird noch regnen.«
Ich drehte mich ebenfalls um. Auf dem Hügel war nichts zu sehen außer Gras und Heidekraut, ein paar Bäume und felsiges Granitgestein, das hie und da zwischen dem Gestrüpp hervorspitzte.
»Woher zum Teufel weißt du das bloß?«
Er lächelte und deutete mit dem Kinn zum Hügel. »Siehst du die kleine Eiche dort? Und die Esche daneben?«
Verwundert sah ich zu den Bäumen hinauf. »Ja. Was ist mit ihnen?«
»Die Blätter, Sassenach. Siehst du, daß die Bäume heller aussehen als gewöhnlich? Wenn die Luft feucht ist, drehen sich die Blätter der Eiche und der Esche um, so daß man die Unterseite sieht. Der ganze Baum wirkt etwas heller.«
»Das mag sein«, gab ich unsicher zurück, »wenn man weiß, wie der Baum normalerweise aussieht.«
Jamie lachte und nahm mich am Arm. »Ich habe vielleicht kein Ohr für Musik, Sassenach, aber ich habe Augen im Kopf. Und ich habe diese Bäume wohl schon zehntausendmal betrachtet, bei jedem Wetter.«
Von den Feldern bis zum Gutshaus war noch ein ganzes Stück Weg zurückzulegen. Wir gingen die meiste Zeit schweigend und genossen die Wärme der nachmittäglichen Sonne auf dem Rücken. Ich schnupperte in der Luft und dachte mir, daß Jamie wohl recht hatte mit dem Regen; all die herbstlichen Gerüche - vom scharfen Harzduft der Kiefern bis zum staubigen Geruch reifen Getreides - waren intensiver geworden. Anscheinend stimmte auch ich mich allmählich auf den Rhythmus, den Anblick und die Gerüche von Lallybroch ein. Mit der Zeit würde ich sie vielleicht ebensogut kennen wie Jamie. Ich drückte seinen Arm und spürte den Druck seiner Hand als Antwort.
»Vermißt du Frankreich, Sassenach?« fragte er plötzlich.
»Nein«, sagte ich verblüfft. »Weshalb?«
Er zuckte die Schultern, ohne mich anzusehen. »Nun, als ich dich den Hügel herunterkommen sah, mit dem Korb am Arm, dachte ich mir, wie hübsch du doch bist, wenn die Sonne auf deine braunen Haare scheint. Es kam mir so vor, als hättest du schon immer hier gelebt, wie ein junger Baum - dieser Erde entsprossen. Und dann schoß mir plötzlich durch den Kopf, daß Lallybroch für dich vielleicht nur ein armseliges Fleckchen Erde ist. Das Leben hier ist nicht glanzvoll, nicht wie in Frankreich. Und du hast nicht einmal eine interessante Arbeit wie im Spital.« Er sah mich vorsichtig an. »Ich glaube, ich habe Angst, daß es dir hier langweilig wird - mit der Zeit.«
Ich schwieg eine Weile, bevor ich antwortete, obwohl ich mir darüber schon einige Gedanken gemacht hatte.
»Mit der Zeit«, sagte ich bedächtig. »Jamie - ich habe in meinem Leben schon viel mitgemacht, und ich habe viele Orte gesehen. Dort, wo ich herkomme, gab es Dinge, die ich manchmal vermisse. Ich möchte manchmal in London mit dem Bus fahren oder den Telefonhörer in die Hand nehmen und mit jemandem reden, der weit weg ist. Ich möchte einen Wasserhahn aufdrehen und warmes Wasser haben und es nicht immer von der Quelle holen und in einem Kessel warm machen müssen. Das würde mir gefallen - aber ich brauche es nicht. Und was das glanzvolle Leben betrifft: Ich habe es kennengelernt, und ich mochte es nicht. Hübsche Kleider sind ja schön und gut, aber wenn Klatsch, Intrige, Verdruß, dumme Feste und kleinliche Etikette damit verbunden sind... nein. Da laufe ich lieber im Hemd rum und sage dafür, was mir gefällt.«
Er lachte, und ich drückte noch einmal fest seinen Arm.
»Was die Arbeit angeht... ich habe doch zu tun hier.« Ich sah hinunter auf den Korb mit Kräutern und Arzneien, den ich am Arm trug. »Ich kann mich doch nützlich machen. Und wenn ich Mutter Hildegarde oder meine anderen Freunde vermisse - na ja, auch wenn es nicht so schnell geht wie mit dem Telefon, gibt es immerhin die Briefpost.«
Ich blieb stehen und blickte ihn an. Das Licht der untergehenden Sonne warf einen goldenen Schimmer auf sein Gesicht und ließ die Backenknochen deutlich hervortreten.
»Jamie... ich möchte da sein, wo du bist. Nirgendwo sonst.«
Er stand einen Augenblick lang still da, dann gab er mir sehr sanft einen Kuß auf die Stirn.
 
»Es ist lustig«, sagte ich, als wir den Hügel zum Haus hinuntergingen. »Ich hatte mir über dich genau die gleichen Gedanken gemacht. Ob du hier glücklich bist nach all dem, was du in Frankreich erlebt hast.«
Er lächelte wehmütig und blickte hinunter auf das dreistöckige weißverputzte Steinhaus, das im Licht der untergehenden Sonne golden und ockerfarben schimmerte.
»Nun, das ist mein Zuhause, Sassenach. Ich gehöre hierher.«
Ich berührte leicht seinen Arm. »Es ist deine Bestimmung, willst du sagen?«
Er holte tief Luft und legte seine Hand auf den Holzzaun, der einen Acker von den Feldern am Haus abgrenzte.
»Eigentlich war es nicht meine Bestimmung, Sassenach. Eigentlich hätte Willie der Gutsherr sein sollen. Wenn er noch am Leben wäre, wäre ich wohl Soldat geworden - vielleicht auch Kaufmann, wie Jared.«
Willie, Jamies älterer Bruder, war im Alter von elf Jahren an Pocken gestorben, und so war sein kleiner Bruder, damals sechs, der Erbe von Lallybroch.
Er zuckte leicht mit den Schultern, als würde ihn sein Hemd kneifen. Er tat das immer, wenn er verlegen oder unsicher war; ich hatte es schon seit Monaten nicht mehr an ihm beobachtet.
»Aber Willie ist tot. Und so bin ich der Herr geworden.« Er sah mich an, ein bißchen scheu, dann griff er in seine Felltasche und holte etwas heraus. In seiner Hand lag eine kleine Schlange aus Kirschholz, die Willie ihm zum Geburtstag geschnitzt hatte. Ihr Kopf war etwas verdreht, als wunderte sie sich über ihren eigenen Schwanz.
Jamie strich sanft über die Schlange; das schimmernde Holz war etwas abgegriffen, die Windungen des Schlangenkörpers glänzten wie Schuppen im frühen Dämmerlicht.
»Manchmal unterhalte ich mich in Gedanken mit Willie«, erzählte Jamie, während er mit der Schlange spielte. »Wenn du noch leben würdest, Bruder, wenn du der Gutsherr wärst, wie es vorgesehen war, hättest du es genauso gemacht wie ich? Oder hättest du einen besseren Weg gefunden?« Er blickte mich an und errötete leicht. »Klingt das verrückt?«
»Nein.« Ich berührte den glatten Kopf der Schlange mit den Fingerspitzen. Durch die kristallklare Abendluft drang das hohe, helle Zwitschern einer Feldlerche.
»Ich mache das auch«, sagte ich nach einer Pause leise. »Mit Onkel Lamb. Und mit meinen Eltern. Besonders mit meiner Mutter. Ich - ich habe nicht oft an sie gedacht, als ich jung war, nur manchmal habe ich von ihr geträumt. Sie war weich und warm und hatte eine wunderbare Singstimme. Aber als ich krank war, nach... Faith - manchmal habe ich mir vorgestellt, sie wäre da. Bei mir.« Mich überfiel eine tiefe Traurigkeit, als ich an die Verluste aus alter und neuer Zeit dachte.
Jamie berührte sanft mein Gesicht und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Manchmal denke ich, die Toten hängen an uns genau wie wir an ihnen«, sagte er leise. »Komm, Sassenach, gehen wir weiter. Es ist bald Essenszeit.«
Er hakte sich bei mir unter, und langsam setzten wir unseren Weg fort.
»Ich verstehe, was du meinst, Sassenach«, meinte Jamie. »Ich höre manchmal die Stimme meines Vaters, in der Scheune, auf den Feldern. Auch wenn ich sonst nicht an ihn denke. Doch manchmal schau’ ich mich um, als ob ich ihn gerade draußen gehört hätte, wie er mit einem der Pächter lacht, oder wie er gerade ein Pferd zureitet.«
Er lachte plötzlich und deutete auf die Weide vor uns.
»Es ist ein Wunder, daß ich ihn hier noch nie gehört habe.«
Es war eine ganz unscheinbare Stelle - ein Holzgatter in der Steinmauer, die parallel zur Straße verlief.
»Wirklich? Was hat er denn hier immer gesagt?«
»Meist dies: ›Wenn du fertig bist mit Reden, Jamie, dreh dich um und beug dich drüber.‹«
Wir lachten und blieben an dem Gatter stehen.
»Also hier bist du verhauen worden? Ich sehe gar keine Zahnabdrücke«, sagte ich und betrachtete das Holz.
»Nein, so schlimm war es nicht«, erwiderte er lachend und strich zärtlich über das verwitterte Eschenholz.
»Oft rissen wir uns Holzsplitter in die Finger, Ian und ich. Dann gingen wir ins Haus, und Mrs. Crook oder Jenny zogen sie uns schimpfend wieder heraus.«
Er sah zum Haus hin, dessen Fenster im Erdgeschoß hell erleuchtet waren. Dunkle Schatten bewegten sich in den Räumen; kleine, flinke Schatten huschten hinter den Küchenfenstern, wo Mrs. Crook und die Mägde das Abendessen vorbereiteten. Ein größerer Schatten, groß und schlank wie eine Zaunlatte, erschien plötzlich in einem der Wohnzimmerfenster. Es war Ian, der einen Augenblick im Licht stehenblieb, als wäre er durch Jamies Erinnerungen herbeigerufen worden. Dann zog er die Vorhänge zu.
»Ich war immer froh, wenn Ian dabei war«, fuhr Jamie fort, den Blick immer noch auf das Haus gerichtet. »Wenn wir bei einem Streich erwischt wurden und dafür eine Tracht Prügel bekamen, meine ich.«
»Geteiltes Leid ist halbes Leid, stimmt’s?« erwiderte ich lächelnd.
»Ein bißchen schon. Ich fühlte mich nicht ganz so schäbig, wenn wir zu zweit waren. Aber wohl vor allem deshalb, weil ich darauf zählen konnte, daß er eine Menge Lärm machen würde.«
»Wie? Du meinst, weil er so geschrien hat?«
»Aye. Er hat immer ein furchtbares Theater gemacht, deshalb schämte ich mich nicht so sehr für mein eigenes Geschrei.« In der Dunkelheit konnte ich Jamies Gesicht nicht mehr erkennen, aber ich sah ihn wieder verlegen mit den Schultern zucken.
»Natürlich versuchte ich, nicht zu schreien, aber es gelang mir nicht immer. Wenn mein Vater überzeugt war, ich hätte Prügel verdient, dann bekam ich eine ordentliche Tracht. Und der rechte Arm von Ians Vater war mächtig wie ein Baumstamm.«
»Weißt du«, sagte ich mit einem Blick auf das Haus, »ich habe noch nie so recht darüber nachgedacht, aber warum um alles in der Welt hat dich dein Vater ausgerechnet hier draußen verdroschen? Im Haus oder in der Scheune wäre doch sicher auch genug Platz gewesen.«
Jamie schwieg einen Augenblick, dann zuckte er wieder die Schultern.
»Ich hab’ ihn nie danach gefragt. Aber ich vermute, es war so ähnlich wie beim König von Frankreich.«
»Beim König von Frankreich?« Dieser plötzliche Gedankensprung verblüffte mich ein wenig.
»Aye«, erwiderte er trocken, »ich weiß nicht genau, wie man sich dabei fühlt, wenn man sich in aller Öffentlichkeit waschen und anziehen und aufs Klo gehen muß. Aber ich kann dir sagen, es ist eine sehr demütigende Erfahrung, dastehen und den Pächtern deines Vaters erklären zu müssen, wofür du den Hintern versohlt bekommen hast.«
»Das kann ich mir vorstellen«, nickte ich mitfühlend und doch belustigt. »Wo du doch der zukünftige Gutsherr warst, meinst du? Deshalb hat er es hier draußen gemacht?«
»Ich vermute es. Die Pächter sollten sehen, daß ich wußte, was Gerechtigkeit bedeutet - wenn auch als Leidtragender.«
Die Geliehene Zeit
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