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Culloden
»Was für ein gemeines kleines Schweinsgesicht!« Brianna starrte angewidert auf die knapp einssechzig große Puppe im Rotrock, die drohend am Rand der Halle des Besucherzentrums von Culloden stand. Die gepuderte Perücke war angriffslustig in die tiefe Stirn und über die rotbemalten Hamsterbäckchen geschoben.
»Ja, schlank war er nicht gerade«, stimmte Roger ihr amüsiert zu. »Dafür aber ein höllisch guter Feldherr, ganz anders als sein eleganter Vetter dort drüben.« Er zeigte auf die größere Figur von Charles Edward Stuart an der gegenüberliegenden Seite des Besucherzentrums, der unter dem blauen Samthut mit der weißen Kokarde durchgeistigt in die Ferne blickte und den Herzog von Cumberland blasiert mit Mißachtung strafte.
»Man nannte ihn auch Billy, den Schlächter«, erklärte Roger mit Blick auf den Herzog. »Und das mit gutem Grund. Abgesehen davon, was er angerichtet hat...« - Roger wies auf das weite, frühlingsgrüne Moor vor der Tür, dem der graue Himmel einen dunklen Anstrich verlieh -, »haben die Soldaten des Herzogs von Cumberland die schlimmste Schreckensherrschaft errichtet, die das Hochland jemals erlebt hat. Sie verfolgten die Überlebenden der Schlacht bis in die Berge und plünderten und verbrannten, was ihnen in die Hände fiel. Frauen und Kinder mußten verhungern, und Männer wurden sofort erschossen - ganz gleich, ob sie für Charles gekämpft hatten oder nicht. Ein Zeitgenosse schrieb über den Herzog: >Er schuf eine Wüste und nannte es Frieden.‹ Ich fürchte, der Herzog von Cumberland ist hierzulande immer noch ausgesprochen unbeliebt.«
Damit hatte er recht. Der Kurator des Besuchermuseums, ein Freund von Roger, hatte berichtet, daß die Puppe des Bonnie Prince mit Ehrfurcht und Respekt behandelt wurde, während dem Rock des Herzogs von Cumberland immer wieder Knöpfe abhanden kamen und die Figur selbst Opfer mehr als eines groben Scherzes geworden war.
»Als mein Freund eines Morgens hereinkam und das Licht einschaltete, ragte aus dem Bauch seiner Gnaden ein echter Hochlanddolch«, erzählte Roger. »Er hat einen gewaltigen Schreck bekommen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Brianna, während sie den Herzog mit großen Augen betrachtete. »Nehmen die Leute das immer noch so ernst?«
»Aye. Die Schotten vergessen nicht so schnell, und vergeben tun sie erst recht nicht.«
»Wirklich?« Sie blickte ihn neugierig an. »Sind Sie Schotte, Roger? Wakefield klingt eigentlich nicht schottisch, aber in der Art, wie Sie über den Herzog von Cumberland sprechen, schwingt so etwas mit...« Ein halbes Lächeln lag auf ihren Lippen, und obwohl er nicht recht wußte, ob sie sich über ihn lustig machte, gab er ihr eine ernsthafte Antwort.
»Oh, natürlich bin ich Schotte. Wakefield ist nicht mein Geburtsname. Ich habe ihn vom Reverend bekommen, als er mich adoptiert hat. Er war der Onkel meiner Mutter, und als meine Eltern im Krieg umkamen, hat er mich bei sich aufgenommen. Aber eigentlich heiße ich MacKenzie. Was den Herzog von Cumberland betrifft«, er deutete auf das Bleiglasfenster, durch das man auf die Gedenksteine des Schlachtfelds blickte, »steht dort ein Stein, auf dem der Name meines Clans eingemeißelt ist und unter dem einige meiner Vorfahren liegen.«
Roger gab der goldenen Epaulette einen Schubs, so daß sie hin und her schwang. »Ich nehme es nicht so persönlich wie manch anderer, aber vergessen kann auch ich es nicht.« Doch dann faßte er sie behutsam am Arm. »Wollen wir nach draußen gehen?«
Im Freien blies ein kalter, stürmischer Wind, der die Wimpel an den Masten zu beiden Seiten des Schlachtfelds heftig flattern ließ. Die gelbe und die rote Fahne markierten die Position der beiden Feldherren, von der aus sie im Rücken ihrer Soldaten auf den Ausgang der Schlacht gewartet hatten.
»Ziemlich weit weg vom Schuß«, bemerkte Brianna trocken. »Keine Gefahr, eine verirrte Kugel abzubekommen.«
Roger sah, daß sie zitterte. Sie hatte sich bei ihm untergehakt, und er zog ihre Hand fester unter seinen Arm. Unter dem plötzlichen Ansturm von Glücksgefühlen, den diese Berührung in ihm wachrief, meinte er fast zu zerspringen. Rasch rettete er sich in einen historischen Vortrag. »Nun, so haben die Generäle damals die Truppen gelenkt - aus sicherer Entfernung. Besonders Charlie. Er hat am Ende der Schlacht so überstürzt die Flucht ergriffen, daß er sogar sein silbernes Picknickgeschirr zurückließ.«
»Ein Picknickgeschirr? Er hat zur Schlacht ein Picknick mitgebracht?«
»Aye.« Roger merkte, daß es ihm im Beisein von Brianna gefiel, sich schottisch zu geben. Normalerweise achtete er darauf, seinen Akzent hinter dem zweckmäßigen, an der Universität üblichen Oxford-Englisch zu verbergen, doch jetzt ließ er seiner Zunge freien Lauf und wurde prompt mit einem Lächeln belohnt.
»Wissen Sie, warum er Prince Charlie genannt wurde?« fragte Roger. »Die Engländer sind heute noch der Meinung, es sei ein Kosename, der zeigt, wie beliebt er bei seinen Soldaten war.«
»Und, stimmt das etwa nicht?«
Roger schüttelte den Kopf. »Weiß Gott nicht. Die Soldaten nannten ihn Prinz Tcharlach - das gälische Wort für Charles. Tcharlach mac Seamus. >Charles, der Sohn von James‹. Also sehr förmlich und respektvoll. Aber weil es sich so ähnlich anhört, haben die Engländer daraus Charlie gemacht.«
»Dann war er also gar nicht Bonnie Prince Charlie, der nette kleine Prinz?«
»Damals jedenfalls nicht.« Roger zuckte die Achseln. »Heute ist das natürlich anders. Einer dieser kleinen historischen Fehler, die über Generationen hinweg als Faktum weitergegeben werden.«
»Und das sagen Sie als Historiker!« neckte Brianna.
Roger lächelte trocken. »Deswegen weiß ich ja Bescheid.«
Langsam schlenderten sie auf den Kieswegen über das Schlachtfeld. Roger erklärte ihr den Einsatz der am Kampf beteiligten Regimenter und ihre Strategie und würzte seinen Bericht mit Anekdoten über die beiden Feldherren.
Aber als der Wind sich legte und sich allmählich Stille über der Landschaft ausbreitete, erstarb auch ihr Gespräch. Nur hin und wieder ließen sie eine Bemerkung fallen, und dann auch schon fast im Flüsterton. Der Himmel war mit grauen Wolken überzogen, und das trübe Licht, das über der Senke hing, dämpfte alle Farben.
»Diese Stelle heißt der Brunnen des Todes.« Roger blieb vor einer kleinen Quelle stehen. Unter einem Steinsims quoll ein kleines Rinnsal hervor und sammelte sich in einem Becken, das kaum dreißig Zentimeter Durchmesser hatte. »Hier ist einer der Clanoberhäupter gestorben. Seine Gefolgsleute wuschen ihm mit dem Wasser dieser Quelle das Blut aus dem Gesicht. Und dort drüben sind die Clansmänner begraben.«
Die Grabmäler bestanden aus großen, grauen, moosüberwachsenen Granitquadern, die von Wind und Wetter rundgeschliffen waren. Sie standen verstreut am Rand des Feldes auf Flecken weichen grünen Grases, und die eingemeißelten Inschriften waren so verwittert, daß man sie teilweise kaum noch lesen konnte. MacGillivray. MacDonald. Fraser. Grant. Chisholm. MacKenzie.
»Sehen Sie mal«, sagte Brianna flüsternd und wies auf einen der Steine. Vor ihm lag ein Bund graugrüner Zweige, in den die ersten Frühlingsblumen geflochten waren.
»Heidekraut«, erklärte Roger. »Eigentlich sieht man sie erst im Sommer, wenn es blüht. Dann liegen Sträuße wie dieser vor jedem Stein. Rotes Heidekraut, aber hie und da auch ein weißer Zweig. Weißblühendes Heidekraut bringt Glück; außerdem steht es für Königtum. Charlie führte es gemeinsam mit der weißen Rose als Emblem.«
»Woher stammen die Sträuße?« Brianna ging in die Hocke und strich zart über die Zweige.
»Von Besuchern.« Roger hockte sich neben sie. FRASER stand in verblichenen Lettern auf dem Stein. »Von den Nachkommen der Männer, die hier gestorben sind. Oder auch nur von denen, die sie in gutem Andenken behalten.«
Sie sah ihn forschend an. »Haben Sie das auch schon mal getan?«
Lächelnd schaute er auf seine Hände.
»Ja. Das mag zwar sentimental klingen, aber manchmal mache ich das auch.«
Brianna wandte sich zu den Moorpflanzen um, die auf der anderen Seite des Weges wucherten.
»Dann helfen Sie mir! Zeigen Sie mir Heidekraut«, bat sie ihn.
Auf dem Heimweg verflüchtigte sich die Melancholie, die sie in Culloden überkommen hatte, doch das Gefühl, die gleiche Regung geteilt zu haben, blieb. Sie sprachen und lachten miteinander wie alte Freunde.
»Wie schade, daß Mutter nicht mitkommen konnte«, meinte Brianna, als sie in die Straße von Mrs. Thomas’ Pension einbogen.
Obwohl er Claire Randall schätzte, fand Roger es gar nicht schade. Doch er grunzte lediglich nichtssagend und fragte dann: »Wie geht es Ihrer Mutter? Ich hoffe, sie ist nicht ernstlich krank.«
»Nein, sie hat sich nur den Magen verdorben. Zumindest behauptet sie das.« Brianna zog zweifelnd die Stirn kraus. Dann wandte sie sich zu Roger um und legte ihm die Hand aufs Knie. Seine Beine begannen zu zittern, und er konnte sich nur mit Mühe auf ihre Worte konzentrieren.
»... was in ihr vorgeht?« endete Brianna. Sie schüttelte den Kopf, und selbst im Dämmerlicht des Wagens stoben kupferne Funken aus ihren Locken. »Ich weiß nicht, aber sie wirkt so abwesend! Nicht unbedingt krank - eher so, als würde sie sich Sorgen machen.«
Roger spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.
»Mmmpf«, meinte er. »Vielleicht fehlt ihr die Arbeit. Ich bin sicher, es geht ihr bald wieder besser.« Dankbar lächelte Brianna ihn an. Kurz darauf hatten sie das kleine Haus erreicht.
»Es war großartig, Roger«, sagte Brianna und berührte ihn flüchtig an der Schulter. »Mit Mutters Projekt sind wir allerdings nicht so recht weitergekommen. Kann ich Ihnen nicht auch noch bei der mühseligen Kleinarbeit helfen?«
Rogers Stimmung hellte sich auf. »Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Wollen Sie morgen vorbeikommen und sich mit mir die Garage vornehmen? Wenn Sie Kleinkram lieben, gibt es nichts Besseres.«
»Prima! Lächelnd sah sie durchs Wagenfenster zu ihm herein. »Vielleicht bringe ich Mutter zu unserer Unterstützung mit.«
Das entmutigte Roger, doch höflich wahrte er die Fassung.
»In Ordnung«, er nickte. »Prima. Hoffentlich.«
 
Letztlich kam Brianna am nächsten Tag dann doch allein ins Pfarrhaus.
»Mama ist in der Stadtbücherei«, erklärte sie, »und kämpft sich durch die alten Telefonbücher. Sie sucht jemanden, den sie von früher her kennt.«
Roger glaubte einen Augenblick, sein Herz bliebe stehen. Er hatte sich die Telefonbücher des Reverend noch am Abend zuvor vorgenommen. Es gab drei Einträge unter »James Fraser«.
»Nun, ich hoffe, sie findet, was sie sucht«, sagte er so beiläufig wie möglich. »Aber ist es Ihr Ernst, daß Sie mir helfen wollen? Es wird sicher eine langweilige und schmutzige Angelegenheit.«
»Ich weiß. Mein Vater hat mich manchmal um Hilfe gebeten, wenn er alte Aufzeichnungen durchging und bestimmte Anmerkungen suchte. Außerdem ist dies Mamas Projekt, und da versteht es sich von selbst, daß ich Ihnen helfe.«
»Nun gut.« Roger blickte an seinem weißen Oberhemd hinunter. »Ich ziehe mich nur noch rasch um, und dann sehen wir mal, was wir finden.«
Das Garagentor quietschte und ächzte, bevor es sich dem Unvermeidlichen ergab und sich auftat.
Brianna wedelte mit der Hand die Staubwolken beiseite. »Oje«, meinte sie hustend. »Wie lange mag es wohl her sein, daß jemand hier drinnen war?«
»Jahrzehnte, vermute ich«, erwiderte Roger geistesabwesend. Er ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe durch den Raum gleiten und beleuchtete aufgestapelte Kartons und Holzkisten, mit abblätternden Aufklebern versehene Schrankkoffer und unter Segeltuch verborgene amorphe Haufen. Hier und da ragten die Beine von Möbelstücken durch den Wirrwarr wie die Skeletteile kleiner Dinosaurier.
Als Roger zwischen all dem Gerümpel eine Art Pfad entdeckte, begab er sich ins Dickicht. Augenblicklich war er in einem Tunnel aus Staub und Schatten verschwunden, und nur der blasse Widerschein der Taschenlampe, der hin und wieder an der Decke zu sehen war, verriet, daß er vorankam. Schließlich entdeckte er das Ende eines herabhängenden Seils, und als er triumphierend daran zog, war der Raum urplötzlich vom Licht einer überdimensionalen Glühbirne erhellt.
»Hier entlang.« Roger, der rasch wieder zurückgefunden hatte, ergriff Briannas Hand. »Dort hinten ist ein wenig Platz.«
An der Rückwand lehnte ein altersschwacher Tisch. Früher war er vielleicht einmal der Mittelpunkt von Reverend Wakefields Eßzimmer gewesen und hatte dann verschiedene Inkarnationen als Küchentisch, Werkzeugbank, Sägeblock und Malerpalette durchlaufen, ehe er in diesem staubigen Heiligtum seine letzte Ruhestätte fand. Ein mit dicken Spinnweben überzogenes Fenster ließ blasses Licht auf seine zerfurchte, farbenbekleckerte Oberfläche fallen.
»Hier können wir arbeiten«, meinte Roger, während er einen Stuhl aus dem Gerümpel zog und ihn säuberlich mit dem Taschentuch abstaubte. »Setzen Sie sich! Ich sehe mal zu, daß ich das Fenster öffnen kann. Sonst müssen wir hier ersticken.«
Brianna nickte, doch anstatt sich hinzusetzen, kramte sie neugierig in dem nächstgelegenen Stapel von Kisten. Roger, der sich am Fenster zu schaffen machte, hörte, wie sie die Aufschriften von einigen Kisten ablas. »Hier ist 1930-1933«, sagte sie. »Und hier 1942-1946. Was ist da drin?«
»Tagebücher«, erklärte Roger, während er sich mit den Ellenbogen auf dem schmutzverkrusteten Fenstersims abstützte. »Mein Vater - ich meine, der Reverend - hat Tagebuch geführt. Jeden Abend nach dem Essen hat er sich drangesetzt.«
»Anscheinend hatte er viel zu berichten.« Brianna hob eine Kiste nach der anderen herunter, um den dahinterliegenden Stapel zu begutachten. »Ein Haufen Kartons hier sind mit Namen beschriftet - Kerse, Livingston, Balnain. Gemeindemitglieder?«
»Nein. Ortschaften.« Schnaufend hielt Roger einen Augenblick in seinem Bemühen inne. Er wischte sich über die Stirn, was auf seinem Ärmel einen breiten Schmutzstreifen hinterließ. Zum Glück waren sie beide auf ihre Aufgabe angemessen vorbereitet und trugen alte Kleider. »Wahrscheinlich enthalten sie Aufzeichnungen zur Geschichte verschiedener Dörfer des Hochlands. Aus einigen solcher Kisten sind tatsächlich Bücher geworden, die es in schottischen Andenkenläden zu kaufen gibt.«
Roger drehte sich zu einem Lochbrett um, an dem alle möglichen abgenutzten Werkzeuge hingen, und wählte für seinen nächsten Angriff auf das Fenster einen großen Schraubenzieher.
»Suchen Sie die Kartons mit der Aufschrift ›Kirchenbücher‹«, riet er ihr. »Oder mit Dorfnamen aus der Gegend von Broch Tuarach.«
»Aber ich kenne dort keine Dörfer«, wandte Brianna ein.
»Aye, das hatte ich ganz vergessen.« Roger bohrte die Spitze des Schraubenziehers in den Spalt zwischen Flügel und Rahmen, wobei mehrere Schichten alter Farbe absplitterten. »Nun, zum Beispiel Broch Mordha... ähm, Mariannan und... ähm, St. Kilda. Es gibt noch andere, aber von diesen weiß ich, daß sie relativ große Kirchen hatten, die inzwischen geschlossen oder verfallen sind.«
»Gut.« Brianna, die gerade ein herabhängendes Stück Segeltuch beiseite zog, fuhr plötzlich mit einem Aufschrei des Entsetzens zurück.
»Was ist los?« Den Schraubenzieher drohend erhoben, wirbelte Roger herum.
»Keine Ahnung. Irgendwas hat sich bewegt, als ich an der Plane gezogen habe.« Erleichtert ließ Roger seine Waffe sinken.
»Sonst nichts? Eine Maus höchstwahrscheinlich. Oder eine Ratte.«
»Eine Ratte! Hier gibt es Ratten?« Briannas Erregung war nicht zu übersehen.
»Ich hoffe nicht. Wenn doch, dann haben sie womöglich die Aufzeichnungen verspeist, die wir suchen«, erwiderte Roger. Dann reichte er ihr die Taschenlampe. »Hier, leuchten Sie damit in die dunklen Ecken. Dann sind Sie vor Überraschungen sicher.«
»Vielen Dank.« Brianna nahm die Taschenlampe, zögerte aber.
»Gut, dann machen wir weiter«, sagte Roger. »Oder soll ich es erst noch mit dem altbewährten Rattenzauber versuchen?«
Brianna grinste breit. »Rattenzauber? Was ist das denn?«
Roger antwortet nicht sofort, sondern unternahm erst noch einen weiteren Angriff auf das Fenster. Es gab schließlich nach und sprang auf. Ein Strom kühler Luft drang herein.
»Oh, ist das angenehm!« Erfreut wedelte sich Roger Luft zu; dann lächelte er Brianna an. »Machen wir jetzt weiter?«
Sie reichte ihm die Lampe und trat beiseite. »Wir wär’s, wenn Sie die Kartons suchen und ich den Inhalt prüfe? Und was ist mit dem Rattenzauber?«
»Feigling!« schimpfte er, bevor er sich hinunterbeugte und unter eine Plane spähte. »Der Rattenzauber ist ein alter schottischer Brauch. Wenn man im Haus oder in der Scheune Ratten hatte, vertrieb man sie mit einem selbstverfaßten Gedicht - oder einem Lied. Man mußte den Ratten lediglich erklären, wie schlecht das Essen in diesem Haus ist und daß sie anderswo bessere Speisen finden. Dann mußte man ihnen nur noch genau den Weg beschreiben, und wenn das Licht gut war, machten sie sich auf und davon.«
Er zog einen Karton mit der Aufschrift JAKOBITEN, VERSCHIEDENES hervor und trug ihn zum Tisch. Dabei sang er:
 
Schert euch hinfort, ihr Rattenpack,
denn hier bei uns wird niemand satt.
Wir können nur noch klagen,
denn leer ist unser Magen.
 
Krachend ließ er den Karton auf den Tisch fallen. Dann verneigte er sich vor der kichernden Brianna, wandte sich wieder den Stapeln zu und fuhr mit lauter Stimme fort:
 
Bei Campbells, da gibt’s reichlich Futter,
sind die Schränke voll mit Rahm und Butter.
Und dort hält keine Katze Wacht,
’s gibt Speis und Schmaus, daß ’s Herze lacht.
 
»Haben Sie das gerade erfunden?« Brianna pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Klar.« Schwungvoll setzte Roger den nächsten Karton auf den Tisch. »Wenn ein Rattenzauber wirken soll, muß er ein Original sein.« Roger ließ den Blick über die Reihen von Kisten gleiten. »Nach diesem Vortrag müßte eigentlich jede Ratte im Umkreis von einem Kilometer verschwunden sein.«
»Gut.« Brianna zog ein Taschenmesser heraus und schlitzte das Klebeband des obersten Kartons auf. »Das könnten Sie auch mal in unserer Pension machen. Mama ist überzeugt davon, daß es im Badezimmer Mäuse gibt. Irgendwas hat an ihrer Seife genagt.«
»Was man tun muß, um eine Maus zu vertreiben, die Seife frißt, weiß Gott allein. Meine Kräfte übersteigt es jedenfalls.« Er rollte ein zerschlissenes, rundes Kniekissen heran, das er hinter einem hohen Stapel alter Lexika entdeckt hatte, und ließ sich neben Brianna nieder. »Hier, nehmen Sie die Kirchenbücher. Die lassen sich leichter lesen.«
Den ganzen Vormittag arbeiteten sie in ungetrübter Harmonie. Zwar fanden sie inmitten aufwirbelnder Staubwolken zahllose interessante Kleinigkeiten und hier und da ein Silberfischchen, jedoch nur wenig, was für ihre Nachforschungen von Bedeutung war.
»Wir sollten mal eine Mittagspause einlegen«, meinte Roger schließlich. Eigentlich widerstrebte es ihm von Grund auf, ins Haus zurückzukehren, wo er Fiona ausgeliefert sein würde, doch Briannas Magen knurrte schon fast so laut wie sein eigener.
»Gut. Nach dem Essen können wir weitermachen, wenn Sie nicht zu müde sind.« Brianna stand auf und streckte sich, wobei ihre geballten Fäuste beinahe an die Deckenbalken der alten Garage stießen. Sie wischte sich die Hände an den Jeans ab und verschwand zwischen den Stapeln von Kisten.
»He!« Kurz vor der Tür blieb sie stehen. Roger, der ihr folgte, wäre fast über sie gestolpert.
»Was ist?« fragte er. »Schon wieder eine Ratte?« Die Sonne ließ in ihrem Haar kupferfarbene und goldene Funken aufleuchten. Sie war von einer Aura schimmernder Staubkörnchen umgeben, und ihr Profil mit der langen schmalen Nase hob sich vom Gegenlicht ab - sie sah aus wie Unsere liebe Frau aus den Archiven.
»Nein. Sehen Sie mal!« Sie wies auf einen Karton in der Mitte eines Stapels. An der Seite klebte ein Zettel mit der Aufschrift RANDALL.
Roger durchzuckte bei diesem Anblick nicht nur gespannte Erregung, sondern auch eine dunkle Vorahnung. Briannas Freude hingegen war ungetrübt.
»Vielleicht finden wir hier das Material, das wir suchen!« rief sie. »Mama sagt, daß sich mein Vater für diese Dinge interessiert hat. Vielleicht hat er sich beim Reverend danach erkundigt.«
»Möglich.« Mit aller Kraft verdrängte Roger das ungute Gefühl, das ihn beim Anblick des Namens überkommen hatte. Er kniete sich hin, um den Karton hervorzuziehen. »Nehmen wir ihn mit ins Haus. Nach dem Essen können wir ihn durchsehen.«
 
Als sie den Karton später im Arbeitszimmer des Reverend öffneten, fanden sie eine eigentümliche Sammlung von Dingen. Unter alten Fotokopien von Seiten aus verschiedenen Kirchenbüchern lagen zwei, drei Musterungslisten der Armee, Briefe und Papiere, ein schmales, kleines Notizbuch mit grauen Kartondeckeln, ein Stapel verblichener Fotografien mit aufgerollten Ecken und eine feste Mappe mit der Aufschrift »Randall«.
Brianna nahm sie in die Hand und öffnete sie. »Oh, es ist Daddys Stammbaum!« staunte sie. »Sehen Sie!« Sie reichte Roger die Mappe. Im Innern lagen zwei Bogen festes Pergament mit ordentlichen, geraden Linien. Der Anfang ging zurück auf das Jahr 1633, und der letzte Eintrag auf der zweiten Seite lautete:
Frank Wolverton RandallClaire Elizabeth Beauchamp, 1937
 
»Der ist vor Ihrer Geburt angefertigt worden«, murmelte Roger.
Brianna sah ihm über die Schulter, als er mit dem Finger die Linien der Ahnentafel nachfuhr. »Ich kenne ihn schon, denn Daddy hatte eine Kopie davon in seinem Arbeitszimmer. Er hat ihn mir immer wieder gezeigt. Allerdings war ich schon unten eingetragen; also muß dies hier eine ältere Version sein.«
»Vielleicht hat ihm der Reverend dabei geholfen.« Roger gab Brianna die Mappe zurück und griff nach einem Blatt von dem Stapel auf dem Schreibtisch.
»Und hier, ein Familienerbstück.« Roger betrachtete das als Briefkopf eingeprägte Wappen. »Ein Offizierspatent der Armee, unterzeichnet von König George II.«
»Von George dem Zweiten? Herr im Himmel, das war ja noch vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg!«
»Allerdings; es stammt aus dem Jahre 1735 und ist auf den Namen Jonathan Wolverton Randall ausgestellt. Haben Sie von ihm gehört?«
»Ja.« Brianna nickte so heftig, daß ihr vereinzelte Locken ins Gesicht fielen. Achtlos strich sie sie zurück und nahm die Urkunde in die Hand. »Daddy hat gelegentlich von ihm gesprochen, denn er ist einer der wenigen Vorfahren, über den er etwas wußte. Er war Hauptmann in der Armee, die in Culloden gegen Bonnie Prince Charles gekämpft hat.« Fragend blickte sie zu Roger auf. »Es kann sogar sein, daß er in der Schlacht gefallen ist. Aber begraben wäre er doch nicht dort, oder?«
Roger schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Es waren die Engländer, die hinterher aufgeräumt haben. Sie haben die meisten ihrer Toten nach England gebracht und dort begraben - zumindest die Offiziere.«
An weiteren Ausführungen hinderte ihn das plötzliche Erscheinen Fionas, die einen Staubwedel wie ein Banner vor sich hertrug.
»Mr. Wakefield«, rief sie. »Da ist ein Mann, der den Wagen des Reverend abholen will, aber der läßt sich nicht starten.«
Roger fuhr schuldbewußt auf. Er hatte die Batterie zum Aufladen in eine Tankstelle gebracht und sie dann auf dem Rücksitz seines Morris stehenlassen. Kein Wunder, daß der Wagen des Reverend nicht ansprang.
»Ich muß mich darum kümmern«, erklärte er Brianna. »Und das kann eine Weile dauern.«
»Schon gut.« Sie lächelte ihn an. »Es ist sowieso besser, wenn ich jetzt gehe. Mama wird inzwischen zurückgekehrt sein, und wir wollten noch zu den Clava Cairns fahren, wenn die Zeit reicht. Vielen Dank für das Mittagessen.«
»War mir ein Vergnügen - und Fiona auch.« Roger fand es bedauerlich, sie nicht begleiten zu können, aber die Pflicht rief. Er warf noch einen Blick auf die Urkunden, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen, bevor er sie einsammelte und wieder im Karton verstaute.
»Hier«, sagte er. »Das betrifft Ihre Familie. Nehmen Sie es mit. Ihre Mutter interessiert es sicher auch.«
»Wirklich? Ist das Ihr Ernst? Vielen Dank, Roger.«
»Gern geschehen«, erwiderte er, während er die Mappe mit dem Stammbaum vorsichtig oben in den Karton legte. »Aber warten Sie! Vielleicht sollte ich dies hier behalten.« Unter dem Offizierspatent ragte eine Ecke des grauen Notizbuchs hervor. Er zog es heraus und ordnete die Papiere im Karton wieder zu einem säuberlichen Stapel. »Sieht aus wie eines der Tagebücher des Reverend. Keine Ahnung, was es in diesem Karton verloren hat, aber ich lege es besser wieder zu den anderen. Die Historische Gesellschaft hat Interesse an seinen Aufzeichnungen angemeldet.«
»Aber klar.« Brianna war aufgestanden und hatte den Karton hochgehoben. Zögernd blickte sie ihn an. »Möchten Sie... möchten Sie, daß ich wiederkomme?«
Roger lächelte. In ihrem Haar klebten Spinnweben, und auf ihrem Nasenrücken prangte ein langer Schmutzstreifen.
»Nichts lieber als das«, erwiderte er. »Dann bis morgen.«
 
Die Neugier auf das Tagebuch des Reverend ließ Roger nicht mehr los. Leider erwies es sich als ausgesprochen mühsam, den alten Pritschenwagen wieder in Gang zu bringen. Gleich danach tauchte der Sachverständige auf, um bei den Möbelstücken des Reverend die Spreu vom Weizen zu trennen und den Wert für die Auktion zu schätzen.
Daß der Nachlaß des Reverend nun so nach und nach veräußert wurde, stimmte Roger wehmütig. Irgendwie kam es ihm so vor, als würde er damit seine Kindheit fortgeben. Und als er sich nach dem Abendessen im Studierzimmer endlich vor das Tagebuch setzte, hätte er nicht sagen können, was ihn mehr dazu trieb: Neugier, was die Familie Randall anging, oder das Verlangen, zu dem Mann, der ihm so lange Vater gewesen war, wieder irgendeine Verbindung herzustellen.
In seiner sauberen Schrift hatte der Reverend unzählige Seiten mit der Chronik der Ereignisse in seinem Pfarrbezirk gefüllt. Der Anblick des schlichten grauen Buches rief in Roger das Bild wach, wie sich der Reverend weltvergessen über den Schreibtisch beugte und sich das Lampenlicht auf seinem kahlen Haupt spiegelte.
»Es geht mir um die Disziplin«, hatte er Roger einmal erklärt. »Regelmäßig etwas zu tun, was die Gedanken ordnet, bringt großen Nutzen. Die katholischen Mönche haben einen festen Tagesablauf mit Gottesdiensten und die katholischen Priester das Brevier. Leider fehlt mir für eine derart organisierte Andacht die Begabung. Aber wenn ich aufschreibe, was tagsüber passiert ist, bekomme ich einen klaren Kopf, und ich kann ruhigen Herzens das Abendgebet sprechen.«
»Ruhigen Herzens!« Roger wünschte, er könnte das auch von sich behaupten; doch seit er die Zeitungsausschnitte im Schreibtisch des Reverends gefunden hatte, war er innerlich nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Er schlug das Buch an einer x-beliebigen Stelle auf und blätterte auf der Suche nach dem Namen »Randall« die Seiten um. Auf dem Umschlag stand »Januar-Juni 1948«. Obwohl es stimmte, daß sich die Historische Gesellschaft für die Tagebücher des Reverends interessierte, hatte er Brianna das Tagebuch aus einem anderen Grund abgenommen. Im Mai 1948 war Claire Randall von ihrem rätselhaften Ausflug zurückgekehrt. Der Reverend hatte die Randalls gut gekannt; er hatte dieses Ereignis sicher erwähnt.
Der Eintrag vom 7. Mai lautete:
 
»War heute abend bei Frank Randall wegen dieser Sache mit seiner Frau. Wie traurig! Gestern bin ich ihr begegnet - sie sah so zerbrechlich aus, aber der starre Blick! - und fühlte mich unwohl in Gesellschaft der armen Frau, obwohl sie recht vernünftig redete.
Was sie durchgemacht hat, würde jeden verstören - was es auch war. Schreckliche Gerüchte im Umlauf. Ziemlich gedankenlos von Dr. Bartholomew, herumzuerzählen, daß sie ein Kind erwartet. Macht es noch schwerer für Frank - und für sie natürlich auch. Die beiden tun mir furchtbar leid.
Mrs. Graham ist diese Woche krank. Hätte sich wirklich einen passenderen Zeitpunkt aussuchen können, wo wir nächste Woche den Flohmarkt haben und sich die alten Kleider auf unserer Veranda türmen...«
 
Rasch blätterte Roger weiter, bis er bei einem Eintrag aus derselben Woche wieder auf den Namen Randall stieß.
 
»10. Mai - Frank Randall hier zum Abendessen. Bemühe mich nach Kräften, öffentlich zu ihnen zu halten. Um den Klatsch einzudämmen, besuche ich seine Frau fast jeden Tag für eine Stunde. Es ist schon fast erbärmlich: Jetzt heißt es, sie sei verrückt geworden. Wie ich Claire Randall kenne, beleidigt sie das Urteil, sie sei geisteskrank, wahrscheinlich mehr als der Vorwurf, unmoralisch zu seinaber eins von beiden muß es doch gewesen sein!
Habe wiederholt versucht, etwas über die Ereignisse zu erfahren, doch sie spricht nicht darüber. Über normale Dinge kann man mit ihr reden, obwohl sie dabei den Eindruck erweckt, sie sei mit den Gedanken woanders.
Darf nicht vergessen, diesen Sonntag über die Sünde übler Nachrede zu predigen - obwohl ich fürchte, daß dadurch die Aufmerksamkeit erst richtig auf den Vorfall gelenkt wird
 
»12. Mai - Kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Claire Randall geistig gesund ist. Habe natürlich den Klatsch gehört, doch wenn man sie so sieht, wirkt sie überhaupt nicht labil.
Ich glaube eher, daß sie ein schreckliches Geheimnis mit sich herumträgt und fest entschlossen ist, es zu wahren. Sprach - in aller Vorsicht - mit Frank darüber. Der schweigt sich zwar aus, doch ich bin überzeugt, daß sie ihn in gewisse Dinge eingeweiht hat. Wollte ihm zu verstehen geben, daß ich ihm auf jede nur mögliche Weise helfen will.«
 
»14. Mai - Besuch von Frank Randall. Eigenartig - er bat mich um Hilfe, doch ich verstehe den Sinn seines Anliegens nicht. Schien ihm aber sehr wichtig zu sein. Er reißt sich sehr zusammen, schon fast zu sehr. Ich fürchte den Knall - wenn er denn kommen sollte.
Claire geht es wieder so gut, daß sie reisen kann; er will noch in dieser Woche mit ihr nach London zurückfahren. Mußte ihm versprechen, die Ergebnisse meiner Nachforschungen an sein Büro in der Universität zu schicken, damit Claire nichts davon erfährt.
Habe ein paar interessante Informationen über Jonathan Randall, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was einer von Franks Vorfahren mit dieser leidigen Angelegenheit zu tun bat. Was James Fraser betrifft, wie ich Frank schon sagte -Tabula rasa, einfach ein Rätsel.
 
Einfach ein Rätsel, und das nicht nur in einer Hinsicht, dachte Roger. Worum hatte Frank Randall den Reverend gebeten? Anscheinend alles über Jonathan Randall und James Fraser zusammenzutragen, was er finden konnte. Offensichtlich hatte Claire ihrem Mann von James Fraser erzählt - zumindest einen Teil, wenn nicht sogar alles.
Doch welcher Zusammenhang bestand zwischen einem Hauptmann der englischen Armee, der 1746 in Culloden gefallen war, und jenem Mann, dessen Name untrennbar mit dem Geheimnis von Claires Verschwinden im Jahre 1945 verbunden zu sein schien - und dem weiteren Geheimnis um Briannas Vater?
Der Rest des Tagebuchs war mit Berichten über verschiedene Ereignisse des Pfarrbezirks ausgefüllt: über Derick Gowans chronische Trunksucht, die darin gipfelte, daß man seinen Leichnam aus dem River Ness zog; über Maggie Browns überstürzte Heirat mit William Dundee einen Monat bevor ihre Tochter June getauft wurde; und über Mrs. Grahams Blinddarmoperation und die Versuche des Reverend, der daraus resultierenden Flut von Mahlzeiten der wohlmeinenden Hausfrauen des Pfarrkreises Herr zu werden. Der größte Nutznießer war wohl letztlich Herbert, der damalige Hund des Reverend, gewesen.
Roger mußte beim Lesen schmunzeln, denn aus den Aufzeichnungen wurde deutlich, wie lebhaft der Reverend Anteil am Leben seiner Schäfchen genommen hatte. Und während Roger die Zeilen überflog, hätte er ihn fast überblättert - den letzten Eintrag zu Frank Randalls Bitte.
 
»18. Juni - Ein kurzes Schreiben von Frank Randall. Mit der Gesundheit seiner Frau steht es nicht zum besten, und die Schwangerschaft ist gefährdet. Er bittet mich zu beten.
Schrieb zurück und versprach ihm, daß ich für ihn und seine Frau beten würde. Wünschte ihnen alles Gute und legte auch die Informationen bei, die ich bis dato hatte finden können. Was er damit anfangen will, weiß ich nicht, das muß er selbst entscheiden. Habe ihm von der überraschenden Entdeckung berichtet, daß Jonathan Randall auf dem Friedhof von St. Kilda begraben ist, und ihn gefragt, ob ich den Grabstein fotografieren soll.«
 
Das war alles. Danach wurden weder die Randalls noch James Fraser erwähnt. Roger ließ das Buch sinken und massierte sich die Schläfen.
Zwar hatte sich sein Verdacht bestätigt, daß ein Mann namens James Fraser in die Sache verwickelt war, doch das Rätsel blieb undurchdringlich. Was hatte beispielsweise Jonathan Randall damit zu schaffen, und warum war er in St. Kilda begraben? In dem Offizierspatent war als sein Geburtsort ein Anwesen in Sussex vermerkt; warum also die letzte Ruhestätte in einem abgelegenen schottischen Kirchhof? Gewiß, bis Culloden war es nicht weit - aber warum hatte man ihn nicht nach Sussex überführt?
»Haben Sie für heute abend noch einen Wunsch, Mr. Wakefield?« Fionas Stimme riß ihn aus seinen fruchtlosen Grübeleien. Als er blinzelnd aufblickte, sah er sie mit einem Besen und einem Putzlappen bewaffnet vor sich stehen.
»Wie bitte? Nein, danke, Fiona. Aber was machen Sie denn da? Sie wollen doch nicht etwa so spät am Abend noch putzen?«
»Morgen kommt hier der Frauenkreis der Gemeinde zusammen«, erklärte Fiona. »Sie haben doch gesagt, daß sie sich hier bei uns treffen dürfen. Und deshalb wollte ich noch ein wenig Ordnung schaffen.«
Die Gemeindefrauen? Bei dem Gedanken an vierzig Hausfrauen, die sich in einer endlosen Reihe von Tweedröcken, Twinsets und Zuchtperlen in das Haus ergossen, erbleichte Roger.
»Leisten Sie den Damen zum Tee Gesellschaft?« fragte Fiona derweilen. »Der Reverend hat das immer getan.«
Die Vorstellung, Brianna Randall und gleichzeitig den Gemeindefrauen gerecht zu werden, war mehr, als Roger ertragen konnte.
»Nein«, erklärte er entschlossen. »Ich... ich habe für morgen schon eine Verabredung.« Er legte die Hand auf das Telefon, das im Durcheinander auf dem Schreibtisch des Reverend kaum noch zu finden war. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Fiona. Ich habe noch einen Anruf zu erledigen.«
 
Als Brianna in unser Zimmer zurückkehrte, lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Fragend blickte ich von meinem Buch auf.
»Ein Anruf von Roger?« riet ich.
»Woher weißt du das?« Sie sah mich überrascht an, doch dann grinste sie. »Ach so, weil er der einzige Mann ist, den ich in Inverness kenne.«
»Daß deine Freunde aus Boston telefonieren, hätte ich auch nicht vermutet«, entgegnete ich und sah auf die Uhr. »Jedenfalls nicht um diese Tageszeit. Da sind sie wohl alle beim Football-Training.«
Brianna, die nicht weiter darauf einging, steckte die Füße unter die Decke. »Roger hat uns eingeladen, morgen mit ihm in einen Ort namens St. Kilda zu fahren. Er sagt, es gäbe dort eine sehenswerte Kirche.«
»Hab’ schon davon gehört«, erwiderte ich unter Gähnen. »Gut, warum nicht? Ich nehme meine Pflanzenpresse mit; vielleicht finde ich ja ein paar Kronwicken - die habe ich nämlich Dr. Abernathy für seine Untersuchungen versprochen. Aber wenn wir den ganzen Tag nur durch die Gegend laufen und alte Grabinschriften lesen, dann gehe ich jetzt schlafen. Es ist anstrengend, in der Vergangenheit herumzustochern.«
Ein Zucken lief über Briannas Gesicht, als wollte sie etwas sagen. Doch sie nickte lediglich und schaltete mit einem rätselhaften Lächeln das Licht aus.
Ich starrte in die Dunkelheit. Bald lag Brianna ruhig da, und ich hörte nur noch ihre regelmäßigen Atemzüge. Sie schlief tief und fest. St. Kilda also. Ich war zwar noch nie dort gewesen, doch der Name war mir vertraut. Eine alte Kirche, wie Brianna gesagt hatte, schon lange aufgegeben und fernab jeder Touristenroute - nur ein Forscher verirrte sich gelegentlich dorthin. Vielleicht war dies die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte?
Dort wäre ich mit Brianna und Roger allein, bräuchte also keine Störung zu befürchten. Und vielleicht wäre der Ort auch gar nicht so schlecht - unter all den längst verstorbenen Gemeindemitgliedern von St. Kilda. Roger hatte noch nicht feststellen können, was aus den Männern von Lallybroch geworden war, doch es schien, als hätten sie das Schlachtfeld von Culloden lebend verlassen. Und mehr brauchte ich nicht zu wissen, um Brianna den Ausgang der Geschichte zu erzählen.
Beim Gedanken an das bevorstehende Gespräch wurde mein Mund trocken. Wie sollte ich die passenden Worte finden? Ich versuchte, mir auszumalen, wie ich vorgehen, was ich sagen und wie sie reagieren würden, doch meine Phantasie reichte nicht aus. Wieder einmal bedauerte ich das Versprechen, das ich Frank gegeben und das mich davon abgehalten hatte, dem Reverend zu schreiben. Denn in diesem Fall wüßte wenigstens schon Roger Bescheid. Aber vielleicht auch nicht, denn es hätte ja sein können, daß der Reverend mir keinen Glauben schenkte.
Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere. Ich wartete auf eine Inspiration, doch meine Erschöpfung war stärker. Schließlich gab ich es auf, drehte mich auf den Rücken und schloß die Augen. Als hätte ich durch meine Grübeleien den Geist des Reverend heraufbeschworen, kam mir ein Satz aus der Bibel in den Sinn. Es ist genug, schien mir die Stimme des Reverend zuzuraunen, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage hat. Und damit schlief ich ein.
 
Als ich im Dämmerlicht des Morgens erwachte, hatte ich die Hände um die Bettdecke geklammert, und das Herz schlug mir mit der Kraft eines Dampfhammers bis zum Halse. »Herr im Himmel!« stöhnte ich.
Das seidene Nachthemd klebte schweißnaß an meiner Haut; als ich an mir hinunterblickte, sah ich, daß sich meine Brustwarzen aufgerichtet hatten. Wellen der Erregung durchzuckten meinen Körper wie die Nachwehen eines Erdbebens. Hoffentlich hatte ich nicht geschrien. Doch Briannas gleichmäßigem Atem nach zu urteilen, schien diese Sorge unbegründet.
Ich ließ mich aufs Kissen zurücksinken. Meine Hände zitterten kraftlos, und erneut brach mir der Schweiß aus.
»Jesus H. Roosevelt Christ!« murmelte ich und bemühte mich, tief durchzuatmen, damit mein Herzschlag allmählich wieder ruhig und gleichmäßig wurde.
Sonst umschmeichelten mich diese Art von Träumen wie sanfte Seide, und wenn ich durch sie erwachte, schlief ich gewöhnlich rasch wieder ein. Von dem Traum blieb nichts als ein sanftes Nachglühen, das ich am Morgen schon wieder vergessen hatte.
Doch diesmal war es anders. Nicht, daß mir noch viele Einzelheiten vor Augen standen, nein, was blieb, war der Eindruck, daß rauhe und drängende Hände nach mir griffen. Und eine Stimme, die so laut rief, daß sie mir in den Ohren gellte.
Ich legte die Hand auf mein wild pochendes Herz. Brianna war in ein leises Schnarchen verfallen, bevor sie wieder zu ihrem gleichmäϐigen Rhythmus zurückkehrte. Wie oft hatte ich diesen Atemzügen in der abgedunkelten Kinderstube gelauscht und gewußt, daß ich mir keine Sorgen zu machen brauchte!
Babys sind weich, und ihre zarte Haut fühlt sich an wie die samtigen Blätter einer Rose. Wenn man eine enge Beziehung zu ihnen hat, spürt man, daß diese Weichheit bis ins Innere reicht - unverkennbar an den runden Backen, die weich sind wie Sahnecreme, und an den Händchen, die sich bewegen, als hätten sie keine Knochen.
Doch von Anfang an schlummert in jedem Kind ein stählerner Wille, der zu sagen scheint: »Ich bin!«, und der den Kern der Persönlichkeit bildet.
Im zweiten Jahr verfestigt sich der Knochenbau, das Kind kann jetzt aufrecht stehen, und der große, feste Schädel schützt das weiche Innere wie ein Helm. Gleichzeitig wird auch das »Ich bin!« lauter. Beim Anblick dieser Kinder kann man diesen Willen, massiv wie Wurzelholz, beinahe durch das schimmernde Fleisch scheinen sehen.
Die Gesichtszüge bilden sich mit sechs heraus, das innere Wesen mit sieben. Die Einkapselung schreitet fort, bis sie im glänzenden Panzer der Pubertät ihren Höhepunkt erreicht. Dann ist alle Weichheit verborgen unter der Vielzahl neuer Persönlichkeiten, die Teenager zur Tarnung ausprobieren.
In den darauffolgenden Jahren kommt es vom Kern her zusehends zur Verhärtung, während sich die Facetten der Persönlichkeit herausbilden. Schließlich ist das »Ich bin!« festgelegt, klar und unverrückbar wie ein Insekt in Bernstein.
Ich hatte geglaubt, dieses Stadium und damit alles Weiche längst abgelegt und mich in den mittleren Jahren rostfreien Stahls häuslich eingerichtet zu haben. Doch jetzt gewann ich den Eindruck, als wäre durch Franks Tod etwas in mir gesprungen. Die Spalten öffneten sich, und ich konnte sie nicht länger durch Leugnen überdecken. Ich hatte meine Tochter, die stark war wie die Bergketten des Hochlands, nach Schottland gebracht, weil ich hoffte, daß der innerste Kern ihres Wesens noch erreichbar und ihr äußerer Panzer gleichzeitig so stabil war, daß er die Belastung ertrug.
Doch plötzlich war mein eigener Kern nicht mehr in der Lage, mein einsames »Ich bin!« zu ertragen, ich fühlte mich meinem weichen Inneren ausgeliefert. Ich wußte nicht mehr, wer ich war und was aus ihr werden würde; ich wußte nur noch, was ich zu tun hatte.
Denn ich war zurückgekommen und hatte wieder in der kühlen Luft der Highlands geträumt. Und die Stimme des Traumes hallte in meinen Ohren und meinem Herzen wider.
»Du gehörst zu mir«, hatte sie gesagt. »Zu mir. Und ich lasse dich nicht gehen.«
Die Geliehene Zeit
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