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Culloden
»Was für ein gemeines kleines Schweinsgesicht!«
Brianna starrte angewidert auf die knapp einssechzig große Puppe im
Rotrock, die drohend am Rand der Halle des Besucherzentrums von
Culloden stand. Die gepuderte Perücke war angriffslustig in die
tiefe Stirn und über die rotbemalten Hamsterbäckchen
geschoben.
»Ja, schlank war er nicht gerade«, stimmte Roger
ihr amüsiert zu. »Dafür aber ein höllisch guter Feldherr, ganz
anders als sein eleganter Vetter dort drüben.« Er zeigte auf die
größere Figur von Charles Edward Stuart an der gegenüberliegenden
Seite des Besucherzentrums, der unter dem blauen Samthut mit der
weißen Kokarde durchgeistigt in die Ferne blickte und den Herzog
von Cumberland blasiert mit Mißachtung strafte.
»Man nannte ihn auch Billy, den Schlächter«,
erklärte Roger mit Blick auf den Herzog. »Und das mit gutem Grund.
Abgesehen davon, was er angerichtet hat...« - Roger wies auf das
weite, frühlingsgrüne Moor vor der Tür, dem der graue Himmel einen
dunklen Anstrich verlieh -, »haben die Soldaten des Herzogs von
Cumberland die schlimmste Schreckensherrschaft errichtet, die das
Hochland jemals erlebt hat. Sie verfolgten die Überlebenden der
Schlacht bis in die Berge und plünderten und verbrannten, was ihnen
in die Hände fiel. Frauen und Kinder mußten verhungern, und Männer
wurden sofort erschossen - ganz gleich, ob sie für Charles gekämpft
hatten oder nicht. Ein Zeitgenosse schrieb über den Herzog: >Er
schuf eine Wüste und nannte es Frieden.‹ Ich fürchte, der Herzog
von Cumberland ist hierzulande immer noch ausgesprochen
unbeliebt.«
Damit hatte er recht. Der Kurator des
Besuchermuseums, ein Freund von Roger, hatte berichtet, daß die
Puppe des Bonnie Prince mit Ehrfurcht und Respekt behandelt wurde,
während dem Rock
des Herzogs von Cumberland immer wieder Knöpfe abhanden kamen und
die Figur selbst Opfer mehr als eines groben Scherzes geworden
war.
»Als mein Freund eines Morgens hereinkam und das
Licht einschaltete, ragte aus dem Bauch seiner Gnaden ein echter
Hochlanddolch«, erzählte Roger. »Er hat einen gewaltigen Schreck
bekommen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Brianna,
während sie den Herzog mit großen Augen betrachtete. »Nehmen die
Leute das immer noch so ernst?«
»Aye. Die Schotten vergessen nicht so schnell, und
vergeben tun sie erst recht nicht.«
»Wirklich?« Sie blickte ihn neugierig an. »Sind Sie
Schotte, Roger? Wakefield klingt eigentlich nicht schottisch, aber
in der Art, wie Sie über den Herzog von Cumberland sprechen,
schwingt so etwas mit...« Ein halbes Lächeln lag auf ihren Lippen,
und obwohl er nicht recht wußte, ob sie sich über ihn lustig
machte, gab er ihr eine ernsthafte Antwort.
»Oh, natürlich bin ich Schotte. Wakefield ist nicht
mein Geburtsname. Ich habe ihn vom Reverend bekommen, als er mich
adoptiert hat. Er war der Onkel meiner Mutter, und als meine Eltern
im Krieg umkamen, hat er mich bei sich aufgenommen. Aber eigentlich
heiße ich MacKenzie. Was den Herzog von Cumberland betrifft«, er
deutete auf das Bleiglasfenster, durch das man auf die Gedenksteine
des Schlachtfelds blickte, »steht dort ein Stein, auf dem der Name
meines Clans eingemeißelt ist und unter dem einige meiner Vorfahren
liegen.«
Roger gab der goldenen Epaulette einen Schubs, so
daß sie hin und her schwang. »Ich nehme es nicht so persönlich wie
manch anderer, aber vergessen kann auch ich es nicht.« Doch dann
faßte er sie behutsam am Arm. »Wollen wir nach draußen
gehen?«
Im Freien blies ein kalter, stürmischer Wind, der
die Wimpel an den Masten zu beiden Seiten des Schlachtfelds heftig
flattern ließ. Die gelbe und die rote Fahne markierten die Position
der beiden Feldherren, von der aus sie im Rücken ihrer Soldaten auf
den Ausgang der Schlacht gewartet hatten.
»Ziemlich weit weg vom Schuß«, bemerkte Brianna
trocken. »Keine Gefahr, eine verirrte Kugel abzubekommen.«
Roger sah, daß sie zitterte. Sie hatte sich bei ihm
untergehakt,
und er zog ihre Hand fester unter seinen Arm. Unter dem
plötzlichen Ansturm von Glücksgefühlen, den diese Berührung in ihm
wachrief, meinte er fast zu zerspringen. Rasch rettete er sich in
einen historischen Vortrag. »Nun, so haben die Generäle damals die
Truppen gelenkt - aus sicherer Entfernung. Besonders Charlie. Er
hat am Ende der Schlacht so überstürzt die Flucht ergriffen, daß er
sogar sein silbernes Picknickgeschirr zurückließ.«
»Ein Picknickgeschirr? Er hat zur Schlacht ein
Picknick mitgebracht?«
»Aye.« Roger merkte, daß es ihm im Beisein von
Brianna gefiel, sich schottisch zu geben. Normalerweise achtete er
darauf, seinen Akzent hinter dem zweckmäßigen, an der Universität
üblichen Oxford-Englisch zu verbergen, doch jetzt ließ er seiner
Zunge freien Lauf und wurde prompt mit einem Lächeln belohnt.
»Wissen Sie, warum er Prince Charlie genannt
wurde?« fragte Roger. »Die Engländer sind heute noch der Meinung,
es sei ein Kosename, der zeigt, wie beliebt er bei seinen Soldaten
war.«
»Und, stimmt das etwa nicht?«
Roger schüttelte den Kopf. »Weiß Gott nicht. Die
Soldaten nannten ihn Prinz Tcharlach - das gälische Wort für
Charles. Tcharlach mac Seamus. >Charles, der Sohn von
James‹. Also sehr förmlich und respektvoll. Aber weil es sich so
ähnlich anhört, haben die Engländer daraus Charlie gemacht.«
»Dann war er also gar nicht Bonnie Prince Charlie,
der nette kleine Prinz?«
»Damals jedenfalls nicht.« Roger zuckte die
Achseln. »Heute ist das natürlich anders. Einer dieser kleinen
historischen Fehler, die über Generationen hinweg als Faktum
weitergegeben werden.«
»Und das sagen Sie als Historiker!« neckte
Brianna.
Roger lächelte trocken. »Deswegen weiß ich ja
Bescheid.«
Langsam schlenderten sie auf den Kieswegen über das
Schlachtfeld. Roger erklärte ihr den Einsatz der am Kampf
beteiligten Regimenter und ihre Strategie und würzte seinen Bericht
mit Anekdoten über die beiden Feldherren.
Aber als der Wind sich legte und sich allmählich
Stille über der Landschaft ausbreitete, erstarb auch ihr Gespräch.
Nur hin und wieder ließen sie eine Bemerkung fallen, und dann auch
schon fast im Flüsterton. Der Himmel war mit grauen Wolken
überzogen, und das trübe Licht, das über der Senke hing, dämpfte
alle Farben.
»Diese Stelle heißt der Brunnen des Todes.« Roger
blieb vor einer kleinen Quelle stehen. Unter einem Steinsims quoll
ein kleines Rinnsal hervor und sammelte sich in einem Becken, das
kaum dreißig Zentimeter Durchmesser hatte. »Hier ist einer der
Clanoberhäupter gestorben. Seine Gefolgsleute wuschen ihm mit dem
Wasser dieser Quelle das Blut aus dem Gesicht. Und dort drüben sind
die Clansmänner begraben.«
Die Grabmäler bestanden aus großen, grauen,
moosüberwachsenen Granitquadern, die von Wind und Wetter
rundgeschliffen waren. Sie standen verstreut am Rand des Feldes auf
Flecken weichen grünen Grases, und die eingemeißelten Inschriften
waren so verwittert, daß man sie teilweise kaum noch lesen konnte.
MacGillivray. MacDonald. Fraser. Grant. Chisholm. MacKenzie.
»Sehen Sie mal«, sagte Brianna flüsternd und wies
auf einen der Steine. Vor ihm lag ein Bund graugrüner Zweige, in
den die ersten Frühlingsblumen geflochten waren.
»Heidekraut«, erklärte Roger. »Eigentlich sieht man
sie erst im Sommer, wenn es blüht. Dann liegen Sträuße wie dieser
vor jedem Stein. Rotes Heidekraut, aber hie und da auch ein weißer
Zweig. Weißblühendes Heidekraut bringt Glück; außerdem steht es für
Königtum. Charlie führte es gemeinsam mit der weißen Rose als
Emblem.«
»Woher stammen die Sträuße?« Brianna ging in die
Hocke und strich zart über die Zweige.
»Von Besuchern.« Roger hockte sich neben sie.
FRASER stand in verblichenen Lettern auf dem Stein. »Von den
Nachkommen der Männer, die hier gestorben sind. Oder auch nur von
denen, die sie in gutem Andenken behalten.«
Sie sah ihn forschend an. »Haben Sie das auch schon
mal getan?«
Lächelnd schaute er auf seine Hände.
»Ja. Das mag zwar sentimental klingen, aber
manchmal mache ich das auch.«
Brianna wandte sich zu den Moorpflanzen um, die auf
der anderen Seite des Weges wucherten.
»Dann helfen Sie mir! Zeigen Sie mir Heidekraut«,
bat sie ihn.
Auf dem Heimweg verflüchtigte sich die Melancholie,
die sie in Culloden überkommen hatte, doch das Gefühl, die gleiche
Regung geteilt zu haben, blieb. Sie sprachen und lachten
miteinander wie alte Freunde.
»Wie schade, daß Mutter nicht mitkommen konnte«,
meinte Brianna, als sie in die Straße von Mrs. Thomas’ Pension
einbogen.
Obwohl er Claire Randall schätzte, fand Roger es
gar nicht schade. Doch er grunzte lediglich nichtssagend und fragte
dann: »Wie geht es Ihrer Mutter? Ich hoffe, sie ist nicht ernstlich
krank.«
»Nein, sie hat sich nur den Magen verdorben.
Zumindest behauptet sie das.« Brianna zog zweifelnd die Stirn
kraus. Dann wandte sie sich zu Roger um und legte ihm die Hand aufs
Knie. Seine Beine begannen zu zittern, und er konnte sich nur mit
Mühe auf ihre Worte konzentrieren.
»... was in ihr vorgeht?« endete Brianna. Sie
schüttelte den Kopf, und selbst im Dämmerlicht des Wagens stoben
kupferne Funken aus ihren Locken. »Ich weiß nicht, aber sie wirkt
so abwesend! Nicht unbedingt krank - eher so, als würde sie sich
Sorgen machen.«
Roger spürte, wie sich sein Magen
zusammenkrampfte.
»Mmmpf«, meinte er. »Vielleicht fehlt ihr die
Arbeit. Ich bin sicher, es geht ihr bald wieder besser.« Dankbar
lächelte Brianna ihn an. Kurz darauf hatten sie das kleine Haus
erreicht.
»Es war großartig, Roger«, sagte Brianna und
berührte ihn flüchtig an der Schulter. »Mit Mutters Projekt sind
wir allerdings nicht so recht weitergekommen. Kann ich Ihnen nicht
auch noch bei der mühseligen Kleinarbeit helfen?«
Rogers Stimmung hellte sich auf. »Dagegen hätte ich
nichts einzuwenden. Wollen Sie morgen vorbeikommen und sich mit mir
die Garage vornehmen? Wenn Sie Kleinkram lieben, gibt es nichts
Besseres.«
»Prima! Lächelnd sah sie durchs Wagenfenster zu ihm
herein. »Vielleicht bringe ich Mutter zu unserer Unterstützung
mit.«
Das entmutigte Roger, doch höflich wahrte er die
Fassung.
»In Ordnung«, er nickte. »Prima.
Hoffentlich.«
Letztlich kam Brianna am nächsten Tag dann doch
allein ins Pfarrhaus.
»Mama ist in der Stadtbücherei«, erklärte sie, »und
kämpft sich durch die alten Telefonbücher. Sie sucht jemanden, den
sie von früher her kennt.«
Roger glaubte einen Augenblick, sein Herz bliebe
stehen. Er hatte sich die Telefonbücher des Reverend noch am Abend
zuvor vorgenommen. Es gab drei Einträge unter »James Fraser«.
»Nun, ich hoffe, sie findet, was sie sucht«, sagte
er so beiläufig wie möglich. »Aber ist es Ihr Ernst, daß Sie mir
helfen wollen? Es wird sicher eine langweilige und schmutzige
Angelegenheit.«
»Ich weiß. Mein Vater hat mich manchmal um Hilfe
gebeten, wenn er alte Aufzeichnungen durchging und bestimmte
Anmerkungen suchte. Außerdem ist dies Mamas Projekt, und da
versteht es sich von selbst, daß ich Ihnen helfe.«
»Nun gut.« Roger blickte an seinem weißen Oberhemd
hinunter. »Ich ziehe mich nur noch rasch um, und dann sehen wir
mal, was wir finden.«
Das Garagentor quietschte und ächzte, bevor es sich
dem Unvermeidlichen ergab und sich auftat.
Brianna wedelte mit der Hand die Staubwolken
beiseite. »Oje«, meinte sie hustend. »Wie lange mag es wohl her
sein, daß jemand hier drinnen war?«
»Jahrzehnte, vermute ich«, erwiderte Roger
geistesabwesend. Er ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe durch
den Raum gleiten und beleuchtete aufgestapelte Kartons und
Holzkisten, mit abblätternden Aufklebern versehene Schrankkoffer
und unter Segeltuch verborgene amorphe Haufen. Hier und da ragten
die Beine von Möbelstücken durch den Wirrwarr wie die Skeletteile
kleiner Dinosaurier.
Als Roger zwischen all dem Gerümpel eine Art Pfad
entdeckte, begab er sich ins Dickicht. Augenblicklich war er in
einem Tunnel aus Staub und Schatten verschwunden, und nur der
blasse Widerschein der Taschenlampe, der hin und wieder an der
Decke zu sehen war, verriet, daß er vorankam. Schließlich entdeckte
er das Ende eines herabhängenden Seils, und als er triumphierend
daran zog, war der Raum urplötzlich vom Licht einer
überdimensionalen Glühbirne erhellt.
»Hier entlang.« Roger, der rasch wieder
zurückgefunden hatte, ergriff Briannas Hand. »Dort hinten ist ein
wenig Platz.«
An der Rückwand lehnte ein altersschwacher Tisch.
Früher war er vielleicht einmal der Mittelpunkt von Reverend
Wakefields Eßzimmer gewesen und hatte dann verschiedene
Inkarnationen als Küchentisch, Werkzeugbank, Sägeblock und
Malerpalette durchlaufen, ehe er in diesem staubigen Heiligtum
seine letzte Ruhestätte fand. Ein mit dicken Spinnweben überzogenes
Fenster ließ blasses Licht auf seine zerfurchte, farbenbekleckerte
Oberfläche fallen.
»Hier können wir arbeiten«, meinte Roger, während
er einen Stuhl aus dem Gerümpel zog und ihn säuberlich mit dem
Taschentuch abstaubte. »Setzen Sie sich! Ich sehe mal zu, daß ich
das Fenster öffnen kann. Sonst müssen wir hier ersticken.«
Brianna nickte, doch anstatt sich hinzusetzen,
kramte sie neugierig in dem nächstgelegenen Stapel von Kisten.
Roger, der sich am Fenster zu schaffen machte, hörte, wie sie die
Aufschriften von einigen Kisten ablas. »Hier ist 1930-1933«, sagte
sie. »Und hier 1942-1946. Was ist da drin?«
»Tagebücher«, erklärte Roger, während er sich mit
den Ellenbogen auf dem schmutzverkrusteten Fenstersims abstützte.
»Mein Vater - ich meine, der Reverend - hat Tagebuch geführt. Jeden
Abend nach dem Essen hat er sich drangesetzt.«
»Anscheinend hatte er viel zu berichten.« Brianna
hob eine Kiste nach der anderen herunter, um den dahinterliegenden
Stapel zu begutachten. »Ein Haufen Kartons hier sind mit Namen
beschriftet - Kerse, Livingston, Balnain.
Gemeindemitglieder?«
»Nein. Ortschaften.« Schnaufend hielt Roger einen
Augenblick in seinem Bemühen inne. Er wischte sich über die Stirn,
was auf seinem Ärmel einen breiten Schmutzstreifen hinterließ. Zum
Glück waren sie beide auf ihre Aufgabe angemessen vorbereitet und
trugen alte Kleider. »Wahrscheinlich enthalten sie Aufzeichnungen
zur Geschichte verschiedener Dörfer des Hochlands. Aus einigen
solcher Kisten sind tatsächlich Bücher geworden, die es in
schottischen Andenkenläden zu kaufen gibt.«
Roger drehte sich zu einem Lochbrett um, an dem
alle möglichen abgenutzten Werkzeuge hingen, und wählte für seinen
nächsten Angriff auf das Fenster einen großen
Schraubenzieher.
»Suchen Sie die Kartons mit der Aufschrift
›Kirchenbücher‹«, riet er ihr. »Oder mit Dorfnamen aus der Gegend
von Broch Tuarach.«
»Aber ich kenne dort keine Dörfer«, wandte Brianna
ein.
»Aye, das hatte ich ganz vergessen.« Roger bohrte
die Spitze des Schraubenziehers in den Spalt zwischen Flügel und
Rahmen, wobei mehrere Schichten alter Farbe absplitterten. »Nun,
zum Beispiel Broch Mordha... ähm, Mariannan und... ähm, St. Kilda.
Es gibt noch andere, aber von diesen weiß ich, daß sie relativ
große Kirchen hatten, die inzwischen geschlossen oder verfallen
sind.«
»Gut.« Brianna, die gerade ein herabhängendes Stück
Segeltuch beiseite zog, fuhr plötzlich mit einem Aufschrei des
Entsetzens zurück.
»Was ist los?« Den Schraubenzieher drohend erhoben,
wirbelte Roger herum.
»Keine Ahnung. Irgendwas hat sich bewegt, als ich
an der Plane gezogen habe.« Erleichtert ließ Roger seine Waffe
sinken.
»Sonst nichts? Eine Maus höchstwahrscheinlich. Oder
eine Ratte.«
»Eine Ratte! Hier gibt es Ratten?« Briannas
Erregung war nicht zu übersehen.
»Ich hoffe nicht. Wenn doch, dann haben sie
womöglich die Aufzeichnungen verspeist, die wir suchen«, erwiderte
Roger. Dann reichte er ihr die Taschenlampe. »Hier, leuchten Sie
damit in die dunklen Ecken. Dann sind Sie vor Überraschungen
sicher.«
»Vielen Dank.« Brianna nahm die Taschenlampe,
zögerte aber.
»Gut, dann machen wir weiter«, sagte Roger. »Oder
soll ich es erst noch mit dem altbewährten Rattenzauber
versuchen?«
Brianna grinste breit. »Rattenzauber? Was ist das
denn?«
Roger antwortet nicht sofort, sondern unternahm
erst noch einen weiteren Angriff auf das Fenster. Es gab
schließlich nach und sprang auf. Ein Strom kühler Luft drang
herein.
»Oh, ist das angenehm!« Erfreut wedelte sich Roger
Luft zu; dann lächelte er Brianna an. »Machen wir jetzt
weiter?«
Sie reichte ihm die Lampe und trat beiseite. »Wir
wär’s, wenn Sie die Kartons suchen und ich den Inhalt prüfe? Und
was ist mit dem Rattenzauber?«
»Feigling!« schimpfte er, bevor er sich
hinunterbeugte und unter eine Plane spähte. »Der Rattenzauber ist
ein alter schottischer Brauch. Wenn man im Haus oder in der Scheune
Ratten hatte, vertrieb man sie mit einem selbstverfaßten Gedicht -
oder einem Lied. Man mußte den Ratten lediglich erklären, wie
schlecht das Essen in diesem Haus ist und daß sie anderswo bessere
Speisen finden. Dann mußte man ihnen nur noch genau den Weg
beschreiben, und wenn das Licht gut war, machten sie sich auf und
davon.«
Er zog einen Karton mit der Aufschrift JAKOBITEN,
VERSCHIEDENES hervor und trug ihn zum Tisch. Dabei sang er:
Schert euch hinfort, ihr Rattenpack,
denn hier bei uns wird niemand satt.
Wir können nur noch klagen,
denn leer ist unser Magen.
denn hier bei uns wird niemand satt.
Wir können nur noch klagen,
denn leer ist unser Magen.
Krachend ließ er den Karton auf den Tisch fallen.
Dann verneigte er sich vor der kichernden Brianna, wandte sich
wieder den Stapeln zu und fuhr mit lauter Stimme fort:
Bei Campbells, da gibt’s reichlich Futter,
sind die Schränke voll mit Rahm und Butter.
Und dort hält keine Katze Wacht,
’s gibt Speis und Schmaus, daß ’s Herze lacht.
sind die Schränke voll mit Rahm und Butter.
Und dort hält keine Katze Wacht,
’s gibt Speis und Schmaus, daß ’s Herze lacht.
»Haben Sie das gerade erfunden?« Brianna pfiff
anerkennend durch die Zähne.
»Klar.« Schwungvoll setzte Roger den nächsten
Karton auf den Tisch. »Wenn ein Rattenzauber wirken soll, muß er
ein Original sein.« Roger ließ den Blick über die Reihen von Kisten
gleiten. »Nach diesem Vortrag müßte eigentlich jede Ratte im
Umkreis von einem Kilometer verschwunden sein.«
»Gut.« Brianna zog ein Taschenmesser heraus und
schlitzte das Klebeband des obersten Kartons auf. »Das könnten Sie
auch mal in unserer Pension machen. Mama ist überzeugt davon, daß
es im Badezimmer Mäuse gibt. Irgendwas hat an ihrer Seife
genagt.«
»Was man tun muß, um eine Maus zu vertreiben, die
Seife frißt, weiß Gott allein. Meine Kräfte übersteigt es
jedenfalls.« Er rollte ein zerschlissenes, rundes Kniekissen heran,
das er hinter einem hohen Stapel alter Lexika entdeckt hatte, und
ließ sich neben Brianna nieder. »Hier, nehmen Sie die
Kirchenbücher. Die lassen sich leichter lesen.«
Den ganzen Vormittag arbeiteten sie in ungetrübter
Harmonie. Zwar fanden sie inmitten aufwirbelnder Staubwolken
zahllose interessante Kleinigkeiten und hier und da ein
Silberfischchen, jedoch nur wenig, was für ihre Nachforschungen von
Bedeutung war.
»Wir sollten mal eine Mittagspause einlegen«,
meinte Roger schließlich. Eigentlich widerstrebte es ihm von Grund
auf, ins Haus zurückzukehren, wo er Fiona ausgeliefert sein würde,
doch Briannas Magen knurrte schon fast so laut wie sein
eigener.
»Gut. Nach dem Essen können wir weitermachen, wenn
Sie nicht zu müde sind.« Brianna stand auf und streckte sich, wobei
ihre geballten Fäuste beinahe an die Deckenbalken der alten Garage
stießen. Sie wischte sich die Hände an den Jeans ab und verschwand
zwischen den Stapeln von Kisten.
»He!« Kurz vor der Tür blieb sie stehen. Roger, der
ihr folgte, wäre fast über sie gestolpert.
»Was ist?« fragte er. »Schon wieder eine Ratte?«
Die Sonne ließ in ihrem Haar kupferfarbene und goldene Funken
aufleuchten. Sie war von einer Aura schimmernder Staubkörnchen
umgeben, und ihr Profil mit der langen schmalen Nase hob sich vom
Gegenlicht ab - sie sah aus wie Unsere liebe Frau aus den
Archiven.
»Nein. Sehen Sie mal!« Sie wies auf einen Karton in
der Mitte eines Stapels. An der Seite klebte ein Zettel mit der
Aufschrift RANDALL.
Roger durchzuckte bei diesem Anblick nicht nur
gespannte Erregung, sondern auch eine dunkle Vorahnung. Briannas
Freude hingegen war ungetrübt.
»Vielleicht finden wir hier das Material, das wir
suchen!« rief sie. »Mama sagt, daß sich mein Vater für diese Dinge
interessiert hat. Vielleicht hat er sich beim Reverend danach
erkundigt.«
»Möglich.« Mit aller Kraft verdrängte Roger das
ungute Gefühl, das ihn beim Anblick des Namens überkommen hatte. Er
kniete sich hin, um den Karton hervorzuziehen. »Nehmen wir ihn mit
ins Haus. Nach dem Essen können wir ihn durchsehen.«
Als sie den Karton später im Arbeitszimmer des
Reverend öffneten, fanden sie eine eigentümliche Sammlung von
Dingen. Unter alten Fotokopien von Seiten aus verschiedenen
Kirchenbüchern lagen zwei, drei Musterungslisten der Armee, Briefe
und Papiere, ein schmales, kleines Notizbuch mit grauen
Kartondeckeln, ein Stapel verblichener Fotografien mit aufgerollten
Ecken und eine feste Mappe mit der Aufschrift »Randall«.
Brianna nahm sie in die Hand und öffnete sie. »Oh,
es ist Daddys Stammbaum!« staunte sie. »Sehen Sie!« Sie reichte
Roger die Mappe. Im Innern lagen zwei Bogen festes Pergament mit
ordentlichen, geraden Linien. Der Anfang ging zurück auf das Jahr
1633, und der letzte Eintrag auf der zweiten Seite lautete:
Frank Wolverton Randall ∞ Claire
Elizabeth Beauchamp, 1937
»Der ist vor Ihrer Geburt angefertigt worden«,
murmelte Roger.
Brianna sah ihm über die Schulter, als er mit dem
Finger die Linien der Ahnentafel nachfuhr. »Ich kenne ihn schon,
denn Daddy hatte eine Kopie davon in seinem Arbeitszimmer. Er hat
ihn mir immer wieder gezeigt. Allerdings war ich schon unten
eingetragen; also muß dies hier eine ältere Version sein.«
»Vielleicht hat ihm der Reverend dabei geholfen.«
Roger gab Brianna die Mappe zurück und griff nach einem Blatt von
dem Stapel auf dem Schreibtisch.
»Und hier, ein Familienerbstück.« Roger betrachtete
das als Briefkopf eingeprägte Wappen. »Ein Offizierspatent der
Armee, unterzeichnet von König George II.«
»Von George dem Zweiten? Herr im Himmel, das
war ja noch vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg!«
»Allerdings; es stammt aus dem Jahre 1735 und ist
auf den Namen Jonathan Wolverton Randall ausgestellt. Haben Sie von
ihm gehört?«
»Ja.« Brianna nickte so heftig, daß ihr vereinzelte
Locken ins Gesicht fielen. Achtlos strich sie sie zurück und nahm
die Urkunde in die Hand. »Daddy hat gelegentlich von ihm
gesprochen, denn er ist einer der wenigen Vorfahren, über den er
etwas wußte. Er war Hauptmann in der Armee, die in Culloden gegen
Bonnie Prince Charles gekämpft hat.« Fragend blickte sie zu Roger
auf. »Es kann sogar sein, daß er in der Schlacht gefallen ist. Aber
begraben wäre er doch nicht dort, oder?«
Roger schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Es waren die
Engländer, die hinterher aufgeräumt haben. Sie haben die meisten
ihrer Toten nach England gebracht und dort begraben - zumindest die
Offiziere.«
An weiteren Ausführungen hinderte ihn das
plötzliche Erscheinen Fionas, die einen Staubwedel wie ein Banner
vor sich hertrug.
»Mr. Wakefield«, rief sie. »Da ist ein Mann, der
den Wagen des Reverend abholen will, aber der läßt sich nicht
starten.«
Roger fuhr schuldbewußt auf. Er hatte die Batterie
zum Aufladen in eine Tankstelle gebracht und sie dann auf dem
Rücksitz seines Morris stehenlassen. Kein Wunder, daß der Wagen des
Reverend nicht ansprang.
»Ich muß mich darum kümmern«, erklärte er Brianna.
»Und das kann eine Weile dauern.«
»Schon gut.« Sie lächelte ihn an. »Es ist sowieso
besser, wenn ich jetzt gehe. Mama wird inzwischen zurückgekehrt
sein, und wir wollten noch zu den Clava Cairns fahren, wenn die
Zeit reicht. Vielen Dank für das Mittagessen.«
»War mir ein Vergnügen - und Fiona auch.« Roger
fand es bedauerlich, sie nicht begleiten zu können, aber die
Pflicht rief. Er warf noch einen Blick auf die Urkunden, die auf
dem Tisch ausgebreitet lagen, bevor er sie einsammelte und wieder
im Karton verstaute.
»Hier«, sagte er. »Das betrifft Ihre Familie.
Nehmen Sie es mit. Ihre Mutter interessiert es sicher auch.«
»Wirklich? Ist das Ihr Ernst? Vielen Dank,
Roger.«
»Gern geschehen«, erwiderte er, während er die
Mappe mit dem Stammbaum vorsichtig oben in den Karton legte. »Aber
warten Sie! Vielleicht sollte ich dies hier behalten.« Unter dem
Offizierspatent ragte eine Ecke des grauen Notizbuchs hervor. Er
zog es heraus und ordnete die Papiere im Karton wieder zu einem
säuberlichen Stapel. »Sieht aus wie eines der Tagebücher des
Reverend. Keine Ahnung, was es in diesem Karton verloren hat, aber
ich lege es besser wieder zu den anderen. Die Historische
Gesellschaft hat Interesse an seinen Aufzeichnungen
angemeldet.«
»Aber klar.« Brianna war aufgestanden und hatte den
Karton hochgehoben. Zögernd blickte sie ihn an. »Möchten Sie...
möchten Sie, daß ich wiederkomme?«
Roger lächelte. In ihrem Haar klebten Spinnweben,
und auf ihrem Nasenrücken prangte ein langer Schmutzstreifen.
»Nichts lieber als das«, erwiderte er. »Dann bis
morgen.«
Die Neugier auf das Tagebuch des Reverend ließ
Roger nicht mehr los. Leider erwies es sich als ausgesprochen
mühsam, den alten Pritschenwagen wieder in Gang zu bringen. Gleich
danach tauchte der Sachverständige auf, um bei den Möbelstücken des
Reverend die Spreu vom Weizen zu trennen und den Wert für die
Auktion zu schätzen.
Daß der Nachlaß des Reverend nun so nach und nach
veräußert wurde, stimmte Roger wehmütig. Irgendwie kam es ihm so
vor, als würde er damit seine Kindheit fortgeben. Und als er sich
nach dem
Abendessen im Studierzimmer endlich vor das Tagebuch setzte, hätte
er nicht sagen können, was ihn mehr dazu trieb: Neugier, was die
Familie Randall anging, oder das Verlangen, zu dem Mann, der ihm so
lange Vater gewesen war, wieder irgendeine Verbindung
herzustellen.
In seiner sauberen Schrift hatte der Reverend
unzählige Seiten mit der Chronik der Ereignisse in seinem
Pfarrbezirk gefüllt. Der Anblick des schlichten grauen Buches rief
in Roger das Bild wach, wie sich der Reverend weltvergessen über
den Schreibtisch beugte und sich das Lampenlicht auf seinem kahlen
Haupt spiegelte.
»Es geht mir um die Disziplin«, hatte er Roger
einmal erklärt. »Regelmäßig etwas zu tun, was die Gedanken ordnet,
bringt großen Nutzen. Die katholischen Mönche haben einen festen
Tagesablauf mit Gottesdiensten und die katholischen Priester das
Brevier. Leider fehlt mir für eine derart organisierte Andacht die
Begabung. Aber wenn ich aufschreibe, was tagsüber passiert ist,
bekomme ich einen klaren Kopf, und ich kann ruhigen Herzens das
Abendgebet sprechen.«
»Ruhigen Herzens!« Roger wünschte, er könnte das
auch von sich behaupten; doch seit er die Zeitungsausschnitte im
Schreibtisch des Reverends gefunden hatte, war er innerlich nicht
mehr zur Ruhe gekommen.
Er schlug das Buch an einer x-beliebigen Stelle auf
und blätterte auf der Suche nach dem Namen »Randall« die Seiten um.
Auf dem Umschlag stand »Januar-Juni 1948«. Obwohl es stimmte, daß
sich die Historische Gesellschaft für die Tagebücher des Reverends
interessierte, hatte er Brianna das Tagebuch aus einem anderen
Grund abgenommen. Im Mai 1948 war Claire Randall von ihrem
rätselhaften Ausflug zurückgekehrt. Der Reverend hatte die Randalls
gut gekannt; er hatte dieses Ereignis sicher erwähnt.
Der Eintrag vom 7. Mai lautete:
»War heute abend bei Frank Randall wegen dieser
Sache mit seiner Frau. Wie traurig! Gestern bin ich ihr begegnet -
sie sah so zerbrechlich aus, aber der starre Blick! - und fühlte
mich unwohl in Gesellschaft der armen Frau, obwohl sie recht
vernünftig redete.
Was sie durchgemacht hat, würde jeden verstören
- was es auch war. Schreckliche Gerüchte im Umlauf. Ziemlich
gedankenlos von Dr. Bartholomew, herumzuerzählen, daß sie ein Kind
erwartet.
Macht es noch schwerer für Frank - und für sie natürlich auch. Die
beiden tun mir furchtbar leid.
Mrs. Graham ist diese Woche krank. Hätte sich
wirklich einen passenderen Zeitpunkt aussuchen können, wo wir
nächste Woche den Flohmarkt haben und sich die alten Kleider auf
unserer Veranda türmen...«
Rasch blätterte Roger weiter, bis er bei einem
Eintrag aus derselben Woche wieder auf den Namen Randall
stieß.
»10. Mai - Frank Randall hier zum
Abendessen. Bemühe mich nach Kräften, öffentlich zu ihnen zu
halten. Um den Klatsch einzudämmen, besuche ich seine Frau fast
jeden Tag für eine Stunde. Es ist schon fast erbärmlich: Jetzt
heißt es, sie sei verrückt geworden. Wie ich Claire Randall kenne,
beleidigt sie das Urteil, sie sei geisteskrank, wahrscheinlich mehr
als der Vorwurf, unmoralisch zu seinaber eins von beiden muß es
doch gewesen sein!
Habe wiederholt versucht, etwas über die
Ereignisse zu erfahren, doch sie spricht nicht darüber. Über
normale Dinge kann man mit ihr reden, obwohl sie dabei den Eindruck
erweckt, sie sei mit den Gedanken woanders.
Darf nicht vergessen, diesen Sonntag über die
Sünde übler Nachrede zu predigen - obwohl ich fürchte, daß dadurch
die Aufmerksamkeit erst richtig auf den Vorfall gelenkt
wird.«
»12. Mai - Kann mich des Eindrucks nicht
erwehren, daß Claire Randall geistig gesund ist. Habe natürlich den
Klatsch gehört, doch wenn man sie so sieht, wirkt sie überhaupt
nicht labil.
Ich glaube eher, daß sie ein schreckliches
Geheimnis mit sich herumträgt und fest entschlossen ist, es zu
wahren. Sprach - in aller Vorsicht - mit Frank darüber. Der
schweigt sich zwar aus, doch ich bin überzeugt, daß sie ihn in
gewisse Dinge eingeweiht hat. Wollte ihm zu verstehen geben, daß
ich ihm auf jede nur mögliche Weise helfen will.«
»14. Mai - Besuch von Frank Randall.
Eigenartig - er bat mich um Hilfe, doch ich verstehe den
Sinn seines Anliegens nicht. Schien ihm aber sehr wichtig zu sein.
Er reißt sich sehr zusammen, schon fast zu sehr. Ich fürchte den
Knall - wenn er denn kommen sollte.
Claire geht es wieder so gut, daß sie reisen
kann; er will noch in dieser Woche mit ihr nach London
zurückfahren. Mußte ihm versprechen, die Ergebnisse meiner
Nachforschungen an sein Büro in der Universität zu schicken, damit
Claire nichts davon erfährt.
Habe ein paar interessante Informationen über
Jonathan Randall, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was einer
von Franks Vorfahren mit dieser leidigen Angelegenheit zu tun bat.
Was James Fraser betrifft, wie ich Frank schon sagte -Tabula
rasa, einfach ein Rätsel.
Einfach ein Rätsel, und das nicht nur in einer
Hinsicht, dachte Roger. Worum hatte Frank Randall den Reverend
gebeten? Anscheinend alles über Jonathan Randall und James Fraser
zusammenzutragen, was er finden konnte. Offensichtlich hatte Claire
ihrem Mann von James Fraser erzählt - zumindest einen Teil, wenn
nicht sogar alles.
Doch welcher Zusammenhang bestand zwischen einem
Hauptmann der englischen Armee, der 1746 in Culloden gefallen war,
und jenem Mann, dessen Name untrennbar mit dem Geheimnis von
Claires Verschwinden im Jahre 1945 verbunden zu sein schien - und
dem weiteren Geheimnis um Briannas Vater?
Der Rest des Tagebuchs war mit Berichten über
verschiedene Ereignisse des Pfarrbezirks ausgefüllt: über Derick
Gowans chronische Trunksucht, die darin gipfelte, daß man seinen
Leichnam aus dem River Ness zog; über Maggie Browns überstürzte
Heirat mit William Dundee einen Monat bevor ihre Tochter June
getauft wurde; und über Mrs. Grahams Blinddarmoperation und die
Versuche des Reverend, der daraus resultierenden Flut von
Mahlzeiten der wohlmeinenden Hausfrauen des Pfarrkreises Herr zu
werden. Der größte Nutznießer war wohl letztlich Herbert, der
damalige Hund des Reverend, gewesen.
Roger mußte beim Lesen schmunzeln, denn aus den
Aufzeichnungen wurde deutlich, wie lebhaft der Reverend Anteil am
Leben seiner Schäfchen genommen hatte. Und während Roger die Zeilen
überflog, hätte er ihn fast überblättert - den letzten Eintrag zu
Frank Randalls Bitte.
»18. Juni - Ein kurzes Schreiben von
Frank Randall. Mit der Gesundheit seiner Frau steht es nicht zum
besten, und die Schwangerschaft ist gefährdet. Er bittet
mich zu beten.
Schrieb zurück und versprach ihm, daß ich
für ihn und seine Frau
beten würde. Wünschte ihnen alles Gute und legte auch die
Informationen bei, die ich bis dato hatte finden können. Was er
damit anfangen will, weiß ich nicht, das muß er selbst entscheiden.
Habe ihm von der überraschenden Entdeckung berichtet, daß Jonathan
Randall auf dem Friedhof von St. Kilda begraben ist, und ihn
gefragt, ob ich den Grabstein fotografieren soll.«
Das war alles. Danach wurden weder die Randalls
noch James Fraser erwähnt. Roger ließ das Buch sinken und massierte
sich die Schläfen.
Zwar hatte sich sein Verdacht bestätigt, daß ein
Mann namens James Fraser in die Sache verwickelt war, doch das
Rätsel blieb undurchdringlich. Was hatte beispielsweise Jonathan
Randall damit zu schaffen, und warum war er in St. Kilda begraben?
In dem Offizierspatent war als sein Geburtsort ein Anwesen in
Sussex vermerkt; warum also die letzte Ruhestätte in einem
abgelegenen schottischen Kirchhof? Gewiß, bis Culloden war es nicht
weit - aber warum hatte man ihn nicht nach Sussex überführt?
»Haben Sie für heute abend noch einen Wunsch, Mr.
Wakefield?« Fionas Stimme riß ihn aus seinen fruchtlosen
Grübeleien. Als er blinzelnd aufblickte, sah er sie mit einem Besen
und einem Putzlappen bewaffnet vor sich stehen.
»Wie bitte? Nein, danke, Fiona. Aber was machen Sie
denn da? Sie wollen doch nicht etwa so spät am Abend noch
putzen?«
»Morgen kommt hier der Frauenkreis der Gemeinde
zusammen«, erklärte Fiona. »Sie haben doch gesagt, daß sie sich
hier bei uns treffen dürfen. Und deshalb wollte ich noch ein wenig
Ordnung schaffen.«
Die Gemeindefrauen? Bei dem Gedanken an vierzig
Hausfrauen, die sich in einer endlosen Reihe von Tweedröcken,
Twinsets und Zuchtperlen in das Haus ergossen, erbleichte
Roger.
»Leisten Sie den Damen zum Tee Gesellschaft?«
fragte Fiona derweilen. »Der Reverend hat das immer getan.«
Die Vorstellung, Brianna Randall und gleichzeitig
den Gemeindefrauen gerecht zu werden, war mehr, als Roger ertragen
konnte.
»Nein«, erklärte er entschlossen. »Ich... ich habe
für morgen schon eine Verabredung.« Er legte die Hand auf das
Telefon, das im Durcheinander auf dem Schreibtisch des Reverend
kaum noch zu
finden war. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Fiona. Ich habe
noch einen Anruf zu erledigen.«
Als Brianna in unser Zimmer zurückkehrte, lag ein
Lächeln auf ihrem Gesicht. Fragend blickte ich von meinem Buch
auf.
»Ein Anruf von Roger?« riet ich.
»Woher weißt du das?« Sie sah mich überrascht an,
doch dann grinste sie. »Ach so, weil er der einzige Mann ist, den
ich in Inverness kenne.«
»Daß deine Freunde aus Boston telefonieren, hätte
ich auch nicht vermutet«, entgegnete ich und sah auf die Uhr.
»Jedenfalls nicht um diese Tageszeit. Da sind sie wohl alle beim
Football-Training.«
Brianna, die nicht weiter darauf einging, steckte
die Füße unter die Decke. »Roger hat uns eingeladen, morgen mit ihm
in einen Ort namens St. Kilda zu fahren. Er sagt, es gäbe dort eine
sehenswerte Kirche.«
»Hab’ schon davon gehört«, erwiderte ich unter
Gähnen. »Gut, warum nicht? Ich nehme meine Pflanzenpresse mit;
vielleicht finde ich ja ein paar Kronwicken - die habe ich nämlich
Dr. Abernathy für seine Untersuchungen versprochen. Aber wenn wir
den ganzen Tag nur durch die Gegend laufen und alte Grabinschriften
lesen, dann gehe ich jetzt schlafen. Es ist anstrengend, in der
Vergangenheit herumzustochern.«
Ein Zucken lief über Briannas Gesicht, als wollte
sie etwas sagen. Doch sie nickte lediglich und schaltete mit einem
rätselhaften Lächeln das Licht aus.
Ich starrte in die Dunkelheit. Bald lag Brianna
ruhig da, und ich hörte nur noch ihre regelmäßigen Atemzüge. Sie
schlief tief und fest. St. Kilda also. Ich war zwar noch nie dort
gewesen, doch der Name war mir vertraut. Eine alte Kirche, wie
Brianna gesagt hatte, schon lange aufgegeben und fernab jeder
Touristenroute - nur ein Forscher verirrte sich gelegentlich
dorthin. Vielleicht war dies die Gelegenheit, auf die ich gewartet
hatte?
Dort wäre ich mit Brianna und Roger allein,
bräuchte also keine Störung zu befürchten. Und vielleicht wäre der
Ort auch gar nicht so schlecht - unter all den längst verstorbenen
Gemeindemitgliedern von St. Kilda. Roger hatte noch nicht
feststellen können, was aus den Männern von Lallybroch geworden
war, doch es schien, als hätten sie das Schlachtfeld von Culloden
lebend verlassen. Und
mehr brauchte ich nicht zu wissen, um Brianna den Ausgang der
Geschichte zu erzählen.
Beim Gedanken an das bevorstehende Gespräch wurde
mein Mund trocken. Wie sollte ich die passenden Worte finden? Ich
versuchte, mir auszumalen, wie ich vorgehen, was ich sagen und wie
sie reagieren würden, doch meine Phantasie reichte nicht aus.
Wieder einmal bedauerte ich das Versprechen, das ich Frank gegeben
und das mich davon abgehalten hatte, dem Reverend zu schreiben.
Denn in diesem Fall wüßte wenigstens schon Roger Bescheid. Aber
vielleicht auch nicht, denn es hätte ja sein können, daß der
Reverend mir keinen Glauben schenkte.
Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die
andere. Ich wartete auf eine Inspiration, doch meine Erschöpfung
war stärker. Schließlich gab ich es auf, drehte mich auf den Rücken
und schloß die Augen. Als hätte ich durch meine Grübeleien den
Geist des Reverend heraufbeschworen, kam mir ein Satz aus der Bibel
in den Sinn. Es ist genug, schien mir die Stimme des
Reverend zuzuraunen, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage
hat. Und damit schlief ich ein.
Als ich im Dämmerlicht des Morgens erwachte, hatte
ich die Hände um die Bettdecke geklammert, und das Herz schlug mir
mit der Kraft eines Dampfhammers bis zum Halse. »Herr im Himmel!«
stöhnte ich.
Das seidene Nachthemd klebte schweißnaß an meiner
Haut; als ich an mir hinunterblickte, sah ich, daß sich meine
Brustwarzen aufgerichtet hatten. Wellen der Erregung durchzuckten
meinen Körper wie die Nachwehen eines Erdbebens. Hoffentlich hatte
ich nicht geschrien. Doch Briannas gleichmäßigem Atem nach zu
urteilen, schien diese Sorge unbegründet.
Ich ließ mich aufs Kissen zurücksinken. Meine Hände
zitterten kraftlos, und erneut brach mir der Schweiß aus.
»Jesus H. Roosevelt Christ!« murmelte ich
und bemühte mich, tief durchzuatmen, damit mein Herzschlag
allmählich wieder ruhig und gleichmäßig wurde.
Sonst umschmeichelten mich diese Art von Träumen
wie sanfte Seide, und wenn ich durch sie erwachte, schlief ich
gewöhnlich rasch wieder ein. Von dem Traum blieb nichts als ein
sanftes Nachglühen, das ich am Morgen schon wieder vergessen
hatte.
Doch diesmal war es anders. Nicht, daß mir noch
viele Einzelheiten vor Augen standen, nein, was blieb, war der
Eindruck, daß rauhe und drängende Hände nach mir griffen. Und eine
Stimme, die so laut rief, daß sie mir in den Ohren gellte.
Ich legte die Hand auf mein wild pochendes Herz.
Brianna war in ein leises Schnarchen verfallen, bevor sie wieder zu
ihrem gleichmäϐigen Rhythmus zurückkehrte. Wie oft hatte ich diesen
Atemzügen in der abgedunkelten Kinderstube gelauscht und gewußt,
daß ich mir keine Sorgen zu machen brauchte!
Babys sind weich, und ihre zarte Haut fühlt sich an
wie die samtigen Blätter einer Rose. Wenn man eine enge Beziehung
zu ihnen hat, spürt man, daß diese Weichheit bis ins Innere reicht
- unverkennbar an den runden Backen, die weich sind wie Sahnecreme,
und an den Händchen, die sich bewegen, als hätten sie keine
Knochen.
Doch von Anfang an schlummert in jedem Kind ein
stählerner Wille, der zu sagen scheint: »Ich bin!«, und der den
Kern der Persönlichkeit bildet.
Im zweiten Jahr verfestigt sich der Knochenbau, das
Kind kann jetzt aufrecht stehen, und der große, feste Schädel
schützt das weiche Innere wie ein Helm. Gleichzeitig wird auch das
»Ich bin!« lauter. Beim Anblick dieser Kinder kann man diesen
Willen, massiv wie Wurzelholz, beinahe durch das schimmernde
Fleisch scheinen sehen.
Die Gesichtszüge bilden sich mit sechs heraus, das
innere Wesen mit sieben. Die Einkapselung schreitet fort, bis sie
im glänzenden Panzer der Pubertät ihren Höhepunkt erreicht. Dann
ist alle Weichheit verborgen unter der Vielzahl neuer
Persönlichkeiten, die Teenager zur Tarnung ausprobieren.
In den darauffolgenden Jahren kommt es vom Kern her
zusehends zur Verhärtung, während sich die Facetten der
Persönlichkeit herausbilden. Schließlich ist das »Ich bin!«
festgelegt, klar und unverrückbar wie ein Insekt in
Bernstein.
Ich hatte geglaubt, dieses Stadium und damit alles
Weiche längst abgelegt und mich in den mittleren Jahren rostfreien
Stahls häuslich eingerichtet zu haben. Doch jetzt gewann ich den
Eindruck, als wäre durch Franks Tod etwas in mir gesprungen. Die
Spalten öffneten sich, und ich konnte sie nicht länger durch
Leugnen überdecken. Ich hatte meine Tochter, die stark war wie die
Bergketten
des Hochlands, nach Schottland gebracht, weil ich hoffte, daß der
innerste Kern ihres Wesens noch erreichbar und ihr äußerer Panzer
gleichzeitig so stabil war, daß er die Belastung ertrug.
Doch plötzlich war mein eigener Kern nicht mehr in
der Lage, mein einsames »Ich bin!« zu ertragen, ich fühlte mich
meinem weichen Inneren ausgeliefert. Ich wußte nicht mehr, wer ich
war und was aus ihr werden würde; ich wußte nur noch, was ich zu
tun hatte.
Denn ich war zurückgekommen und hatte wieder in der
kühlen Luft der Highlands geträumt. Und die Stimme des Traumes
hallte in meinen Ohren und meinem Herzen wider.
»Du gehörst zu mir«, hatte sie gesagt. »Zu mir. Und
ich lasse dich nicht gehen.«