32
Das Feld der Träume
Das Feld war in der üblichen Art und Weise angelegt - lange Dämme hoch aufgehäufter Erde mit tiefen Furchen dazwischen. Die Ackerzeilen waren kniehoch, so daß man, wenn man die Furchen entlangging, leicht von Hand säen konnte. Eigentlich waren sie für den Anbau von Gerste und Hafer gedacht, aber man sah keine Notwendigkeit, sie für den Kartoffelanbau zu ändern.
»Es hieß ›anhäufeln‹«, sagte Ian und ließ den Blick über den von dichtem grünen Kraut überwuchterten Acker schweifen, »aber ich dachte, die Ackerzeilen erfüllen den gleichen Zweck. Die Häufel sollen scheinbar dafür sorgen, daß das Wasser abläuft und die Dinger nicht verfaulen. Unser Feld mit den Ackerzeilen tut das meiner Meinung nach genauso.«
»Das leuchtet mir ein«, nickte Jamie. »Oberirdisch haben sich die Pflanzen jedenfalls gut entwickelt. Steht in deinem Buch auch, wann die Dinger ausgebuddelt werden können?«
Ian, betreut mit dem Anbau der Kartoffeln in einem Land, in dem diese Feldfrucht noch nie gesichtet worden war, war systematisch und methodisch zu Werke gegangen. Er hatte sich aus Edinburgh nicht nur das Saatgut, sondern auch ein Buch über die Feldbestellung schicken lassen. Es trug den Titel Eine wissenschaftliche Abhandlung über die Anbaumethoden in der Landwirtschaft und war verfaßt von Sir Walter O’Bannion Reilly. Das Buch enthielt auch einen Abschnitt über den in Irland praktizierten Kartoffelanbau.
Ian hielt den gewichtigen Band unter dem einen Arm - Jenny hatte mir verraten, daß er sich niemals ohne das Buch zum Kartoffelacker begab, denn es konnte ja plötzlich ein schwieriges Problem auftauchen. Er schlug das Buch auf und stützte es auf seinen Unterarm, während er in seiner Felltasche nach der Brille suchte, die er zum Lesen aufsetzte. Die Brille, ein Drahtgestell mit kleinen runden Gläsern, hatte bereits sein Vater getragen. Mit der Brille auf der Nasenspitze sah Ian aus wie ein überaus ernsthafter junger Storch.
»Die Kartoffeln werden geerntet, wenn die erste Wintergans auftaucht«, las er vor, dann hob er den Kopf und blickte forschend auf den Kartoffelacker, als erwartete er, daß eine Gans ihren Kopf zwischen den Furchen hervorstreckte.
»Wintergans?« Jamie sah über Ians Schultern hinweg ins Buch. »Was für eine Gänseart meint er denn? Graugänse? Aber die sind doch das ganze Jahr über da. Das kann nicht stimmen.«
Ian zuckte die Achseln. »Vielleicht gibt es sie in Irland nur im Winter. Oder er meint eine irische Gänseart und keine Graugänse.«
Jamie schnaubte verächtlich. »Das ist aber eine große Hilfe. Sagt er denn sonst irgend etwas Brauchbares?«
Ian fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang und bewegte lautlos die Lippen, während er las. Inzwischen hatten sich um uns einige Kätner versammelt, die unsere ungewöhnliche Art, ein Feld zu bestellen, gebannt beobachteten.
»Man erntet keine Kartoffeln, wenn es naß ist«, ließ uns Ian wissen und erntete ein noch deutlicheres Schnauben von Jamie.
»Hmm«, murmelte Ian vor sich hin. »Krautfäule, Kartoffelkäfer - wir hatten keine, das scheint ein Glücksfall zu sein -, Kartoffelstrauch... hmm, da steht nur, was man macht, wenn das Kartoffelkraut welk wird. Knollenfäule-ob unsere Kartoffeln davon betroffen sind, wissen wir erst, wenn wir sie ernten. Saatkartoffeln, Lagerung der Kartoffeln...«
Ungeduldig wandte sich Jamie ab. »Wissenschaftlicher Landbau, hm?« murmelte er. Er starrte auf das Feld mit dem dichten dunkelgrünen Kraut. »Scheinbar ist es viel zu wissenschaftlich, um uns zu verraten, wann diese verdammten Dinger reif sind!«
Fergus, der wie gewöhnlich hinter Jamie hergetrottet war, blickte von seinem Zeigefinger auf, auf dem sich gemächlich eine Raupe entlangschlängelte.
»Weshalb grabt ihr denn nicht einfach einen Strauch aus und seht nach?« fragte er.
Jamie starrte Fergus einen Augenblick lang an. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Dann tätschelte er Fergus sanft den Kopf und ging eine Heugabel holen.
Die Kätner, alles Männer, die unter Ians Anleitung - mit Sir Walters Beistand - die Kartoffeln gesteckt, das Feld bestellt und das Unkraut gejätet hatten, traten näher heran, um das Ergebnis ihrer Mühen in Augenschein zu nehmen.
Jamie wählte einen großen Strauch am Ende des Ackers aus und setzte die Heugabel vorsichtig in die Wurzeln. Er hielt sichtlich den Atem an, setzte einen Fuß auf den oberen Teil der Gabel und drückte sie hinunter. Die Zinken sanken langsam in das feuchte braune Erdreich.
Auch ich hielt den Atem an. Von diesem Experiment hing weitaus mehr ab als Sir Walter O’Bannion Reillys guter Ruf. Oder meiner.
Jamie und Ian hatten zugegeben, daß die Gerstenernte dieses Jahr zwar kleiner ausgefallen war als sonst, für die Pächter von Lallybroch aber vorerst ausreichte. Ein weiteres schlechtes Jahr jedoch würde die bescheidenen Getreidereserven aufzehren. Verglichen mit anderen Gutshöfen im Hochland war Lallybroch geradezu wohlhabend, doch das hieß nicht viel. Der Kartoffelanbau war durchaus von Bedeutung für die Leute von Lallybroch. Hatte das Experiment Erfolg, so war in den beiden folgenden Jahren die Gefahr einer Hungersnot gebannt.
Jamie drückte die Heugabel noch etwas tiefer ins Erdreich, dann stemmte er sich gegen den Griff. Der Kartoffelstrauch wankte, das Erdreich tat sich auf, und mit einem ruckartigen »Plopp« war die Pflanze entwurzelt, und die Erde enthüllte ihre Schätze.
Die Umstehenden stießen ein erstauntes »Ah«, aus, als sie die vielen braunen Knollen sahen, die an den Wurzeln des Kartoffelstocks hingen. Ian und ich knieten nieder und scharrten im lockeren Erdreich nach den Kartoffeln, die vom Stock abgerissen waren.
»Es hat geklappt!« rief Ian immer wieder, während er eine Kartoffel nach der anderen hervorscharrte. »Seht euch das an! Wie groß sie sind!«
»Ja, sieh dir die hier an!« rief ich entzückt und schwenkte die Kartoffel in der Luft, die doppelt so groß war wie meine Faust.
Schließlich lag das Ergebnis unserer Probegrabung in einem Korb: an die zehn besonders schöne Kartoffeln, dazu etwa fünfundzwanzig faustgroße und zahlreiche golfballgroße Exemplare.
»Was meint ihr?« fragte Jamie und betrachtete prüfend unsere Kartoffeln. »Ob wir den Rest noch etwas drinlassen sollen, damit die kleinen noch größer werden? Oder sollen wir sie lieber jetzt ernten, bevor der Frost kommt?«
Ian tastete geistesabwesend nach seiner Brille, dann erinnerte er sich, daß der gute Sir Walter drüben an der Einzäunung lag, und verzichtete darauf, ihn zu Rate zu ziehen. Er schüttelte den Kopf.
»Nein, ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt«, antwortete er. »Im Buch steht, die kleinen soll man als Saatkartoffeln für das nächste Jahr aufheben. Und davon werden wir eine Menge benötigen.« Er lächelte mir erleichtert zu. Eine dicke Strähne seines glatten braunen Haares fiel ihm über die Stirn, und seine eine Wange war schmutzverschmiert.
Eine Kätnerin beugte sich neugierig über den Korb, dann nahm sie eine Kartoffel in die Hand.
»Die kann man essen, sagt ihr?« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß man sie zu Schrot mahlen und daraus Brot und Brei machen kann.«
»Tja, ich glaube kaum, daß man sie mahlt wie Getreide, Mistress Murray«, erwiderte Jamie höflich.
»Ach so?« Die Frau schielte skeptisch in den Korb. »Was macht man denn dann damit?«
»Tja, man...«, begann Jamie und stutzte dann. Mir fiel ein, daß er zwar in Frankreich Kartoffeln gegessen, jedoch nie gesehen hatte, wie sie zubereitet wurden. Ich verkniff mir ein Grinsen, als er hilflos auf die schmutzverkrustete Kartoffel in seiner Hand blickte. Ian schaute ebenfalls verlegen drein; offenbar äußerte sich Sir Walter nicht zum Thema Kartoffelzubereitung.
»Man röstet sie.« Wieder war es Fergus, der das rettende Wort sprach; sein Kopf spitzte hinter Jamies Ellbogen hervor. Er leckte sich die Lippen beim Anblick der Kartoffeln. »Man legt sie ins Feuer. Sie werden mit Salz bestreut gegessen. Auch Butter paßt gut dazu, wenn man welche hat.«
»Die haben wir«, erwiderte Jamie erleichtert. Er reichte Mrs. Murray die Kartoffel, als ob er sie so schnell wie möglich loswerden wollte. »Sie haben es gehört, sie werden geröstet«, sagte er.
»Man kann sie aber auch kochen«, fügte ich hinzu. »Oder zu Brei zerdrücken und mit Milch verrühren. Oder braten. Oder reiben und als Suppeneinlage verwenden. Ein äußerst vielseitiges Gemüse, die Kartoffel.«
»Das steht auch im Buch«, murmelte Ian zufrieden.
Jamie sah mich an und verzog die Mundwinkel zu einem leichten Grinsen.
»Du hast mir nie gesagt, daß du kochen kannst, Sassenach.«
»Kochen ist zuviel gesagt«, erwiderte ich, »aber Kartoffeln kann ich schon zubereiten.«
»Gut.« Jamie blickte in die Runde der Pächter und ihrer Frauen, die die Kartoffeln von Hand zu Hand weiterreichten und skeptisch beäugten. Dann klatschte er laut in die Hände, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
»Holt Holz für ein Feuer, Tom und Willie. Und Mrs. Willie, wenn Sie so freundlich wären, Ihren großen Kessel zu holen? Aye, das ist gut, einer der Männer soll Ihnen dabei helfen. Und du, Kincaid«, - er wandte sich an einen der jüngeren Männer und deutete zu den Katen unter den Bäumen, »geh und sag es allen: es gibt Kartoffeln zum Abendessen!«
Und so bereitete ich - mit Jennys tatkräftiger Hilfe und unter Zuhilfenahme von zehn Eimern Milch aus der Molkerei, drei frisch geschlachteten Hühnern und vier Dutzend Lauchstangen aus dem Gemüsegarten - eine Hühnersuppe mit Lauch und geröstete Kartoffeln für den Gutsherrn von Lallybroch und seine Pächter.
Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, als das Essen fertig war, doch der Himmel war noch hell. Durch die dunklen Zweige des Kiefernwäldchens auf dem Hügel blitzten rote und goldene Lichtstreifen. Die Pächter waren noch etwas unschlüssig angesichts der bevorstehenden Bereicherung ihres Speiseplans, aber die gesellige Stimmung-sowie ein Fäßchen mit selbstgebranntem Whisky - half, die Zweifel zu überwinden. Bald waren überall auf dem freien Feld neben dem Kartoffelacker Grüppchen versammelt, die sich über die gefüllten Teller auf ihren Knien beugten und aßen.
»Was meinst du, Dorcas?« hörte ich eine Frau zu ihrer Nachbarin sagen. »Schmeckt ein klein bißchen seltsam, was?«
Die Angesprochene nickte und schluckte einen Bissen hinunter, bevor sie antwortete.
»Aye, finde ich auch. Aber der Gutsherr hat schon sechs oder sieben von den Dingern gegessen, und es hat ihn noch nicht umgebracht.«
Die Männer und die Kinder hingegen reagierten begeistert, wohl nicht zuletzt wegen der großzügig bemessenen Butterrationen.
»Männer würden sogar Pferdeäpfel essen, wenn man sie mit Butter serviert«, bemerkte Jenny. »So sind sie eben! Ein voller Bauch und ein Platz zum Schlafen, wenn sie betrunken sind, mehr verlangen sie gar nicht vom Leben.«
»Ein Wunder, daß du dich mit Jamie und mir überhaupt abgibst«, feixte Ian, als er das hörte, »wenn ich sehe, was du für eine Meinung von Männern hast.«
Jenny winkte ihrem Mann und ihrem Bruder, die nebeneinander beim Kessel saßen, geringschätzig mit der Suppenkelle zu.
»Ach, ihr beiden seid doch keine Männer.«
Ian und Jamie zogen die Augenbrauen hoch.
»Ach? Was sind wir denn dann?« fragte Ian.
Jenny wandte sich ihm mit einem Lächeln zu; ihre Zähne blitzten im Schein des Feuers. Sie tätschelte Jamies Kopf und drückte Ian einen Kuß auf die Stirn.
»Ihr seid meine beiden«, erwiderte sie.
 
Nach dem Essen begann einer der Männer zu singen. Ein anderer holte eine Holzflöte hervor und begleitete ihn mit einer Melodie, die dünn und schrill die kalte Herbstnacht durchdrang. Es war kühl, aber windstill; eingewickelt in Tücher und Decken, saßen die Familien in kleinen Gruppen behaglich um das Feuer. Nachdem das Essen gekocht war, hatte man mehr Holz aufs Feuer geworfen, und die Flammen loderten hell in der Nacht.
Auch in unserer Gruppe war es warm, wenn auch ein wenig unruhig. Ian war Holz holen gegangen; die kleine Maggie kuschelte sich an ihre Mutter und beanspruchte sie ganz für sich allein, so daß ihr größerer Bruder sich anderswo Schutz und Wärme suchen mußte.
»Ich stecke dich gleich kopfüber in den Kessel dort, wenn du nicht aufhörst, mich in die Eier zu treten«, sagte Jamie zu seinem Neffen, der sich im Schoß seines Onkels heftig hin und her warf. »Was ist denn los mit dir - hast du Ameisen im Hintern?«
Auf diese Frage erntete Jamie nur ein entzücktes Kichern von seinem Neffen, der sich nun noch nachdrücklicher im Schoß seines Onkels vergrub. Jamie tastete umher und zwickte seinen Namensvetter immer wieder in Arme und Beine; dann packte er ihn und wirbelte ihn mit einem Ruck herum. Mit einer Hand hielt er den Kleinen fest, mit der anderen tastete er am Boden umher. Schließlich riß er mit zufriedenem Brummen eine Handvoll feuchtes Gras aus und stopfte es dem kleinen Jamie, der vor Freude quietschte, in den Hemdkragen.
»Jetzt ist es aber genug«, meinte Jamie und setzte den Kleinen vor sich auf den Boden. »Geh und traktier deine Tante ein bißchen.«
Der kleine Junge folgte willig, krabbelte auf allen vieren zu mir herüber und schmiegte sich in meinen Schoß. Er saß so ruhig, wie es einem vierjährigen Jungen möglich war - das heißt, er hielt nicht besonders still -, während ich die Grasbüschel aus seinem Hemd fischte.
»Du riechst gut, Tante«, sagte er und stieß mit seinem schwarzen Lockenkopf gegen mein Kinn. »Nach Essen.«
»Danke«, sagte ich. »Soll ich dem entnehmen, daß du Hunger hast?«
»Aye. Gibt es noch Milch?«
»Ja.« Wenn ich die Hand ausstreckte, konnte ich gerade eben den Milchkrug erreichen. Ich schüttelte ihn, und da es sich nicht lohnte, für den Rest eigens eine Tasse zu holen, neigte ich den Krug und ließ den Kleinen daraus trinken.
Nachdem er auch den letzten Tropfen Milch getrunken hatte, entspannte sich der kleine Jamie und gab einen leisen Rülpser von sich. Ich spürte die Wärme, die von ihm ausging; gleich würde er einschlafen. Ich schlang meinen Umhang fest um ihn, schaukelte ihn sanft hin und her und summte leise die Melodie des Liedes, das drüben auf der anderen Seite des Feuers gesungen wurde.
»Ist er eingeschlafen?« erkundigte sich der große Jamie neben mir. Im Schein des Feuers leuchtete sein Haar kupferrot, und der Schaft seines Dolches glitzerte.
»Ja«, erwiderte ich. »Jedenfalls windet er sich nicht mehr. Es ist beinahe so, als hielte man einen großen Schinken im Arm.«
Jamie lachte, dann verstummte auch er. Sein Arm streifte den meinen, und durch das Plaid hindurch spürte ich die Wärme seines Körpers.
Ein Windstoß wirbelte mir eine Haarsträhne ins Gesicht. Ich strich sie zurück, dann entdeckte ich, daß der kleine Jamie recht hatte. Meine Hände rochen nach Lauch, Butter und Kartoffeln. Der Kleine war bleischwer und behinderte die Blutzirkulation in meinem linken Bein. Ich drehte mich ein wenig zur Seite, um ihn auf meinen Schoß gleiten zu lassen.
»Beweg dich nicht, Sassenach«, flüsterte Jamie. »Nur noch einen Augenblick, mo duinne.«
Ich erstarrte gehorsam, bis er mich an der Schulter berührte.
»Ist gut, Sassenach«, flüsterte er zärtlich. »Du bist so schön, wenn das Feuer auf dein Gesicht scheint und dein Haar im Wind weht. Dieses Bild will ich in meiner Erinnerung festhalten.«
Ich drehte mich zu ihm hin und lächelte ihn über das schlafende Kind hinweg an. Die Nacht war dunkel und kalt; viele Menschen tummelten sich am Feuer, aber an dem Platz, wo wir saßen, gab es nur Licht und Wärme - und uns beide.
Die Geliehene Zeit
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