40
Der Fuchsbau
»Kennst du ihn gut, deinen Großvater?« fragte ich und schlug nach einer in dieser Jahreszeit eher seltenen Pferdebremse, die sich zwischen mir und dem Pferd nicht entscheiden konnte.
Jamie schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich habe gehört, daß er sich wie ein altes Ungeheuer aufführt, aber du brauchst keine Angst vor ihm zu haben.« Er lächelte mich an, als ich die Pferdebremse mit einem Zipfel meines Umhängetuchs verscheuchte. »Ich bin ja bei dir.«
»Ach, gegen ruppige Alte habe ich nichts«, versicherte ich ihm. »Ich habe viele solcher Männer gekannt, zu meiner Zeit. Rauhe Schale, weicher Kern, die meisten. So stelle ich mir auch deinen Großvater vor.«
»Hm, nein«, erwiderte er nachdenklich. »So ist er nicht. Er ist wirklich ein altes Ungeheuer. Und wenn er merkt, daß man Angst vor ihm hat, führt er sich nur noch schlimmer auf. Als hätte er Blut gerochen, weißt du?«
Ich ließ den Blick in die Ferne schweifen, wo die Berge, hinter denen sich Burg Beaufort verbarg, unheimlich, beinahe bedrohlich aufragten. In diesem Augenblick der Unachtsamkeit steuerte die Pferdebremse mein linkes Ohr an. Ich stieß einen Schrei aus und duckte mich. Durch diese überraschende Bewegung irritiert, scheute mein Pferd.
»He! Cuir stad!« Blitzschnell beugte sich Jamie herüber, packte die Zügel meines Pferds und ließ die seinen los. Sein Tier war besser dressiert als meins und schnaubte nur.
Jamie stieß seinem Pferd die Knie in die Flanken und brachte meins mit einem Ruck zur Ruhe.
»Und jetzt«, sagte er und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen den kreisenden Flug der Pferdebremse. »Laß sie landen, Sassenach, ich krieg’ sie schon.« Er saß ganz still und beobachtete die Bremse, die Hände erhoben, die Augen zusammengekniffen.
Steif und ziemlich nervös saß ich da und hörte nichts anderes als das bedrohliche Summen. Träge flog das Insekt zwischen dem Ohr des Pferdes und dem meinen hin und her. Die Ohren des Pferdes zuckten heftig, was ich gut nachvollziehen konnte.
»Wenn dieses Biest in meinem Ohr landet, Jamie, dann...«, begann ich.
»Pst!« Er beugte sich nach vorn, die linke Hand erhoben wie die Pfote eines Panthers vor dem tödlichen Schlag. »Noch eine Sekunde, und ich hab’ sie.«
Da erblickte ich hinter seiner Schulter einen dunklen Schatten, der sich auf Jamie zubewegte. Noch eine Bremse, ebenfalls auf der Suche nach einem geruhsamen Plätzchen.
»Jamie...«
»Psst!« Triumphierend erschlug er meinen Plagegeist, und im nächsten Moment ließ sich die Pferdebremse auf seinem Hemdkragen nieder und bohrte ihren Stachel in seinen Hals.
Die Angehörigen der schottischen Clans kämpften gemäß ihren alten Traditionen. Sie verachteten jede Form von Strategie, Taktik oder Kriegslist. Ihre Art des Angriffs war simpel. Sobald der Feind in Sicht war, ließen sie ihr Plaid fallen, zogen ihr Schwert und gingen, aus Leibeskräften brüllend, zum Angriff über. Aufgrund der markerschütternden Wirkung gälischer Kriegsrufe führte diese Methode häufig zum Erfolg. Wenn sich solche behaarten, halbnackten Todesfeen auf feindliche Soldaten stürzten, verloren diese häufig die Nerven und ergriffen Hals über Kopf die Flucht.
Jamies Pferd war zwar gut dressiert, doch es war in keinster Weise auf den gälischen Kriegsschrei vorbereitet, der direkt hinter seinem Kopf ertönte. Es verlor die Nerven, legte die Ohren an und raste los, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Wie angewurzelt standen mein Pferd und ich mitten auf der Straße und verfolgten gebannt eine außergewöhnliche Darbietung schottischer Reitkunst. Jamie, den es halb aus dem Sattel gehoben hatte, als das Pferd losstürmte, warf sich nach vorne und klammerte sich an der Mähne fest. Sein Plaid flatterte im Wind, und das Pferd, das ganz außer sich geraten war, nahm dies als ein Zeichen, noch schneller zu galoppieren.
Eine Hand in die Mähne gekrallt, versuchte Jamie, sich aufzurichten. Er stemmte seine langen Beine in die Flanken des Tieres, ungeachtet der Steigbügel, die dem Pferd um den Bauch baumelten. Fetzen deftiger gälischer Flüche drangen an mein Ohr - daß es Flüche sein mußten, war mir klar, obwohl ich die Sprache kaum verstand.
Da hörte ich hinter mir das Getrappel von Pferdehufen. Es war Murtagh, der, das Packpferd neben sich herführend, gemächlich den Abhang hinunterritt. Er kam in aller Ruhe auf mich zu, brachte sein Pferd zum Stehen und sah Jamie nach, der mit seinem von panischem Schrecken ergriffenen Pferd eben hinter dem nächsten Hügel verschwand.
»Eine Pferdebremse«, erklärte ich.
»Ungewöhnlich für die Jahreszeit. Ich habe aber auch nicht angenommen, daß er es so eilig hat, seinen Großvater zu sehen, daß er dich einfach hier stehenläßt«, bemerkte Murtagh trocken. »Obwohl eine Frau mehr oder weniger keinen Unterschied macht, was den Empfang betrifft.«
Er nahm die Zügel wieder in die Hand und gab seinem Pony die Sporen, das sich, gefolgt von dem Packpferd, gemächlich in Bewegung setzte. Angespornt von der angenehmen Gesellschaft, setzte sich mein Pferd ebenfalls in Gang.
»Auch nicht, wenn es sich um eine englische Ehefrau handelt?« fragte ich neugierig. In Anbetracht dessen, was ich über ihn wußte, glaubte ich nicht, daß Lord Lovats Beziehung zu meinen Landsleuten Grund zur Zuversicht gab.
»Englisch, französisch, niederländisch oder deutsch. Das macht nicht viel Unterschied; der alte Fuchs wird Jamies Leber zum Frühstück verspeisen, nicht deine.«
»Was meinst du damit?« Neugierig sah ich Murtagh an, der wie immer ein wenig verdrießlich dreinschaute und in seinem Plaid und Hemd einem Lumpenbündel gleichsah. Egal, wie neu und gut geschnitten Murtaghs Sachen waren, er sah immer aus, als hätte er sich auf einem Müllhaufen eingekleidet.
»Wie versteht sich denn Jamie mit Lord Lovat?«
Murtagh sah mich aus seinen schmalen, klugen Augen von der Seite her an. Dann zuckte er die Schultern.
»Überhaupt nicht, bisher. Er hat mit seinem Großvater in seinem ganzen Leben noch nie geredet.«
»Aber woher weißt du dann soviel von ihm, wenn du ihn nie gesehen hast?«
Allmählich begriff ich Jamies Widerwillen, sich an seinen Großvater zu wenden. Als wir Jamie und sein Pferd - ersterer äußerst gereizt, letzteres ziemlich kleinlaut - eingeholt hatten, bot Murtagh an, mit dem Packtier nach Beaufort vorauszureiten und mich mit Jamie zurückzulassen, damit wir Rast machen und etwas essen konnten.
Bei einem erfrischenden Ale und einem stärkenden Haferkuchen erzählte er mir, daß sein Großvater Lord Lovat die Braut seines Sohnes nicht gebilligt hatte und nicht bereit gewesen war, der Ehe seinen Segen zu geben oder in der Folge auch nur ein Wort mit seinem Sohn - oder dessen Kindern - zu wechseln. Die Heirat von Brian Fraser mit Ellen MacKenzie lag nun schon dreißig Jahre zurück.
»Ich habe trotzdem immer wieder von ihm gehört«, erwiderte Jamie und kaute seinen Käse. »Er beeindruckt die Leute, weißt du.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Tullibardine, einer der Pariser Jakobiten, hatte mich mit zahlreichen Schwänken über den Anführer des Fraser-Clans ergötzt, und ich dachte, daß Brian Fraser vielleicht gar nicht so traurig darüber gewesen war, als sein Vater nichts mehr von ihm hatte wissen wollen. Jamie nickte, als ich ihm das sagte.
»Aye. Ich erinnere mich nicht, daß mein Vater jemals etwas Gutes über ihn gesagt hätte, obwohl er auch niemals respektlos über ihn gesprochen hat. Er hat einfach nicht viel über ihn geredet.« Er rieb sich den Nacken, wo sich allmählich die rote Schwellung des Bremsenstichs zeigte. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, und Jamie hatte sein Plaid auf der Erde ausgebreitet, damit ich mich darauf setzen konnte. Der Besuch beim Oberhaupt des Fraser-Clans war trotz alledem ein Ereignis, das würdig begangen werden mußte, und Jamie trug zu diesem Anlaß einen neuen Kilt im militärischen Stil und ein separates Plaid dazu. Es schützte zwar nicht so gut vor schlechtem Wetter wie das alte Plaid mit Gürtel, aber man konnte es sich weitaus schneller über die Schulter werfen.
»Ich habe mir oft überlegt«, sagte Jamie nachdenklich, »ob das Verhalten meines Vaters damit zu tun hatte, wie ihn der alte Simon behandelte. Damals ist es mir natürlich nicht aufgefallen, aber für einen Mann istes durchaus nicht üblich, daß er die Gefühle für seinen Sohn so offen zeigt.«
»Du hast viel darüber nachgedacht«, stellte ich fest. Ich reichte ihm noch eine Flasche Ale, die er mit einem Lächeln entgegennahm, das wärmender war als die Nachmittagssonne.
»Aye, das stimmt. Ich habe mir überlegt, was ich meinen eigenen Kindern für ein Vater wäre, und ich erinnerte mich und stellte fest, daß mein Vater das beste Beispiel war. Aber ich wußte von ihm und von Murtagh, daß sein Vater sich ihm gegenüber ganz anders verhalten hatte, und ich überlegte mir, daß er sich wohl ganz bewußt entschlossen haben mußte, es selbst anders zu machen.«
Ich seufzte leise und legte den Käse beiseite.
»Jamie«, sagte ich. »Glaubst du wirklich, daß wir jemals...«
»Ja«, erwiderte er bestimmt, ohne mich ausreden zu lassen. Er beugte sich vor und küßte mich auf die Stirn. »Ich weiß es, Sassenach, und du weißt es auch. Du bist dazu bestimmt, Mutter zu werden, und ich habe nicht die Absicht, jemand anders deine Kinder zeugen zu lassen.«
»Na, das ist fein«, sagte ich. »Ich auch nicht.«
Er lachte, hob mein Kinn an und küßte mich auf den Mund. Ich wischte ihm einen Brotbrösel weg, der sich in seinen Bartstoppeln verfangen hatte.
»Solltest du dich nicht rasieren?« fragte ich. »Anläßlich der ersten Begegnung mit deinem Großvater?«
»Ach, ich habe ihn schon einmal gesehen«, sagte er beiläufig. »Und er mich auch. Er soll mich so nehmen, wie ich bin.«
»Aber Murtagh sagt, du hast ihn nie kennengelernt!«
»Mmmpf.« Er wischte sich die restlichen Brotkrumen vom Hemd und runzelte die Stirn, als überlegte er, wieviel er mir erzählen sollte. Schließlich zuckte er die Achseln und legte sich zurück. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, blickte er hinauf in die Wolken.
»Also, getroffen haben wir uns nie, das stimmt. Nicht ganz. Es war nämlich so...«
Im Alter von siebzehn Jahren bestieg der junge Jamie Fraser ein Schiff nach Frankreich, um in Paris seine Bildung zu vervollkommnen und Dinge zu lernen, die nicht in den Büchern stehen.
»Ich stach vom Hafen von Beauly aus in See«, erzählte er und machte eine Kopfbewegung zum nächsten Hügel, wo ein grauer Streifen am Horizont die Bucht von Moray anzeigte. »Ich hätte auch von anderen Häfen aus fahren können - der nächstgelegene wäre Inverness gewesen -, aber mein Vater hatte meine Überfahrt gebucht, und deshalb fuhr ich von Beauly aus. Er begleitete mich, um mich in die weite Welt hinauszuschicken.«
Brian Fraser hatte Lallybroch seit seiner Heirat kaum verlassen, und er genoß es, seinem Sohn die Stellen zu zeigen, wo er als Kind und als junger Mann gejagt und Streifzüge unternommen hatte.
»Aber als wir uns Burg Beaufort näherten, wurde er immer schweigsamer. Er hatte während der ganzen Reise nicht von meinem Großvater gesprochen, und ich hütete mich, selbst davon anzufangen. Aber ich wußte, daß er seine Gründe dafür hatte, mich von Beauly aus loszuschicken.«
Spatzen schossen aus den Büschen, hüpften vorsichtig heran und verschwanden rasch wieder. Als Jamie das sah, griff er nach einem Stück Brot und warf es in den auseinanderstiebenden Spatzenschwarm.
»Sie kommen wieder«, sagte er und legte sich einen Arm übers Gesicht, als wollte er sich vor der Sonne schützen. Dann fuhr er mit seiner Geschichte fort.
»Von der Straße, die zur Burg führte, ertönte Pferdegetrappel, und als wir uns umwandten, sahen wir einen kleinen Zug, der langsam näher kam - sechs Reiter mit einem Wagen, und einer von ihnen trug Lovats Banner. So wußte ich, daß mein Großvater unter ihnen war. Ich warf einen Blick auf meinen Vater, um zu sehen, ob er irgend etwas zu tun gedachte, aber er lächelte nur, faßte mich am Arm und sagte: >Gehen wir also an Bord, mein Junge.<
Ich spürte den Blick meines Großvaters auf mir, als wir zum Ufer hinuntergingen, wo doch mein ganzes Äußeres lautstark verkündete, daß ich von den MacKenzies abstammte. Ich war froh, daß ich meine besten Kleider angezogen hatte und nicht wie ein Bettler daherkam. Zwar blickte ich mich nicht um, aber ich stand so aufrecht ich konnte, und ich war stolz, daß ich den größten Mann am Hafen um einen halben Kopf überragte. Mein Vater ging neben mir, schweigsam wie immer. Auch er blickte sich nicht um, aber ich spürte seinen Vaterstolz.«
Er lächelte mich an.
»Das war das letztemal, daß ich sicher war, ihm Ehre gemacht zu haben, Sassenach. Später war ich oft nicht so sicher, aber über diesen einen Tag war ich froh.«
Er schlang die Arme um seine Knie und starrte vor sich hin, als sähe er die Szene am Kai noch genau vor sich.
»Wir gingen an Bord des Schiffes und begrüßten den Kapitän, dann stellten wir uns ans Schanzkleid und unterhielten uns noch ein wenig. Wir achteten darauf, die Männer aus Beaufort nicht anzusehen. Dann gab der Kapitän Befehl, die Leinen loszuwerfen. Ich küßte meinen Vater, und er sprang über das Schanzkleid hinunter zum Kai und ging zu seinem Pferd. Er sah sich erst um, als er auf seinem Pferd saß, doch da hatte das Schiff bereits abgelegt.
Ich winkte, und er winkte zurück, dann wandte er sich um und ritt nach Lallybroch heim. Und auch die Männer von Beaufort machten sich auf den Heimweg. Und dann ritten mein Vater und mein Großvater im Abstand von zwanzig Metern den Hügel hinauf, bis sie meinem Blick entschwunden waren. Beide vermieden es, sich anzusehen, und taten so, als wäre der andere nicht vorhanden.«
Er blickte die Straße entlang, als ob er ein Lebenszeichen aus der Richtung von Beaufort erwartete.
»Ich sah ihm in die Augen«, sagte er leise. »Einmal. Ich wartete, bis mein Vater bei seinem Pferd war, dann drehte ich mich um und sah Lord Lovat an, so kühn und trotzig ich konnte. Ich wollte, daß er wußte, daß wir nichts von ihm erbaten, daß wir aber auch keine Angst vor ihm hatten.« Jamie verzog den Mund zu einem Lächeln. »Angst hatte ich aber schon.«
Ich legte meine Hand auf seine und streichelte die Vertiefungen zwischen seinen Knöcheln.
»Hat er dich auch angesehen?«
Er schnaubte verächtlich.
»Aye. Ich vermute, er hat von dem Augenblick an, als ich den Hügel hinunterkam, bis zu dem Moment, wo mein Schiff abfuhr, den Blick nicht von mir gewandt. Ich habe gespürt, wie sich seine Augen in meinen Rücken bohrten. Und als ich ihn ansah, da erwiderte er meinen Blick, und seine schwarzen Augen blitzten.«
Er schwieg, den Blick starr auf die Burg gerichtet, bis ich weiterfragte.
»Wie hat er dich denn angesehen?«
Da wandte er sich mir zu, ernst, wie ich es von ihm nicht gewohnt war.
»Sein Blick war kalt wie Stein, Sassenach«, antwortete er. »Kalt wie Stein.«
 
Wir hatten Glück mit dem Wetter. Seit unserem Aufbruch von Edinburgh war es warm gewesen.
»Das wird sich bald ändern«, prophezeite Jamie mit einem forschenden Blick aufs Meer. »Siehst du die Wolkenbank dort? Bis heute abend ist sie landeinwärts gezogen.« Er schnupperte und zog sich das Plaid enger um die Schultern. »Riechst du es? Man kann riechen, welches Wetter kommt.«
Ich hatte zwar wenig Erfahrung als Wetterfrosch, schnupperte aber gehorsam. Die Luftfeuchtigkeit verstärkte den Duft nach trokkenem Heidekraut und Kiefernharz, in den sich ein schwacher Geruch nach Meerestang mischte.
»Ob die Männer schon in Lallybroch sind?« fragte ich.
»Das möchte ich bezweifeln.« Jamie schüttelte den Kopf. »Sie haben zwar einen kürzeren Weg als wir, aber sie sind zu Fuß unterwegs, und in der Gruppe geht es noch langsamer.« Er erhob sich in seinen Steigbügeln und beschattete die Augen mit der Hand. »Hoffentlich ist es nur Regen; das ist nicht so schlimm. Vielleicht zieht das Unwetteer auch nicht so weit nach Süden.«
Ich vergrub mich tiefer in meinen warmen Tartanschal, denn plötzlich kam ein frischer Wind auf. Ich hatte den Sonnenschein der letzten beiden Tage als gutes Vorzeichen gewertet. Hoffentlich trog es nicht.
Jamie hatte eine ganze Nacht in Holyrood am Fenster gesessen, nachdem er den Befehl des Prinzen erhalten hatte. Am nächsten Morgen war er zu Charles gegangen, um ihm zu sagen, daß er nur mit mir und Murtagh nach Beauly reiten wolle, um Lord Lovat die Grüße Seiner Hoheit zu übermitteln und ihn zu bitten, Männer und Hilfsgüter zur Verfügung zu stellen.
Dann hatte Jamie Ross, den Schmied, in unser Gemach gebeten und ihm seine Befehle erteilt - er sprach so leise, daß nicht einmal ich von meinem Platz neben dem Feuer aus es verstehen konnte.
Die Hochlandarmee marschierte ziemlich undiszipliniert, in einem bunten Haufen, der die Bezeichnung »Kolonne« kaum verdiente. Im Laufe des ersten Marschtages sollten sich die Männer von Lallybroch heimlich davonstehlen. Einer nach dem anderen sollte in den Büschen verschwinden, vorgeblich, um einen Augenblick zu rasten oder sich zu erleichtern, doch sie sollten nicht zur Truppe zurückkehren, sondern das Weite suchen. Dann sollten sie sich an einem verabredeten Treffpunkt zu den anderen Männern von Lallybroch gesellen und unter der Führung von Ross, dem Schmied, nach Hause zurückkehren.
»Ich bezweifle, daß es überhaupt auffällt«, hatte Jamie gesagt, als er den Plan mit mir besprach. »Desertieren ist gang und gäbe, in der ganzen Armee. Ewan Cameron sagte mir, daß sich in der letzten Woche zwanzig seiner Männer aus dem Staub gemacht haben. Es ist Winter, und die Männer wollen nach Hause und die Vorbereitungen für die Frühjahrssaat treffen. Auf jeden Fall bin ich sicher, daß sie niemanden entbehren können, der Deserteure sucht. Auch wenn sie merken sollten, daß sie nicht mehr da sind.«
»Dann gibst du also auf, Jamie?« hatte ich ihn gefragt und meine Hand auf seinen Arm gelegt. Er hatte sich müde und erschöpft übers Gesicht gestrichen, ehe er antwortete.
»Ich weiß nicht, Sassenach. Es mag zu spät sein; oder auch nicht. Ich weiß nicht. Es war eine Dummheit, so kurz vor dem Winter so weit nach Süden zu ziehen; und es war eine noch größere Dummheit, Zeit mit der Belagerung von Stirling zu verschwenden. Aber Charles hat noch keine Niederlage einstecken müssen, und die Clanführer - einige von ihnen - kommen seinem Aufruf nach. Jetzr die MacKenzies und nach ihnen andere. Charles hat zur Zeit doppelt so viele Männer hinter sich wie in Prestonpans. Worauf wird das hinauslaufen?« Er hob hilflos die Arme.
»Ich weiß nicht. Es gibt keinen Widerstand. Die Engländer haben furchtbar Angst, du hast die Flugblätter ja gesehen.« Er verzog den Mund. »Wir spießen kleine Kinder auf und rösten sie über dem Feuer. Und wir schänden die Frauen und Töchter ehrbarer Männer.« Er schnaubte verächtlich. Diebstahl und Gehorsamsverweigerung waren zwar in der Hochlandarmee an der Tagesordnung, Vergewaltigung jedoch war praktisch unbekannt.
Er seufzte. »Cameron hat gehört, daß König George seine Flucht aus London vorbereitet, da er befürchtet, die Armee des Prinzen werde die Stadt bald einnehmen.« Das Gerücht hatte Cameron von mir und ich von Jack Randall. »Und dann Kilmarnock und Cameron. Lochiel und Balmerino und Dougal mit seinen MacKenzies. Allesamt ausgezeichnete Kämpfer. Und falls Lovat die Männer schickt, die er versprochen hat - Gott, dann würde es vielleicht reichen. Mein Gott, wenn es so weit kommen sollte, daß wir in London einmarschieren...« Er zuckte die Schultern.
»Aber ich kann es nicht riskieren«, sagte er kurz und bündig. »Ich kann nicht nach Beauly gehen und meine Männer hier allein zurücklassen - weiß Gott, wohin man sie schickt. Wenn ich da wäre, um sie zu führen - das wäre etwas anderes. Aber ich will verdammt sein, wenn ich sie Charles oder Dougal überlasse, damit sie sie im Kampf gegen die Engländer verheizen, während ich weit weg bin.«
Also wurde folgender Plan gefaßt: Die Männer von Lallybroch - einschließlich Fergus, der lauthals dagegen protestierte - sollten desertieren und unauffällig nach Hause zurückkehren. Und wenn wir unsere Aufgabe in Beauly erledigt hatten und zu Charles zurückgekehrt waren - dann blieb immer noch genügend Zeit, um weiterzusehen.
»Deshalb nehme ich auch Murtagh mit«, hatte Jamie erklärt. »Wenn alles gutgeht, werde ich ihn nach Lallybroch schicken, um sie zurückzuholen.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Er sieht vielleicht nicht sehr beeindruckend aus, aber Murtagh ist ein tüchtiger Reiter. Schnell wie der Blitz.«
Er sah in der Tat nicht so aus, aber es war im Augenblick auch nicht nötig, daß er sein Können unter Beweis stellte. Murtagh ritt vielmehr noch langsamer als gewöhnlich. Schließlich blieb er ganz stehen. Als wir ihn eingeholt hatten, war er abgestiegen und inspizierte den Sattel des Packpferds.
»Stimmt etwas nicht?« Jamie machte Anstalten, aus dem Sattel zu springen, aber Murtagh wehrte ab.
»Nein, nein, gar nichts. Ein Seil ist gerissen. Reitet ihr beide schon mal weiter.«
Mit einem Kopfnicken gab Jamie seinem Pferd die Sporen, und ich folgte ihm.
»Er ist heute aber nicht sehr gesprächig«, bemerkte ich. Er war in der Tat immer mürrischer und reizbarer geworden, je mehr wir uns Beauly näherten. »Ich nehme an, er ist nicht entzückt von der Aussicht, Lord Lovat einen Besuch abzustatten.«
»Nein, Murtagh ist kein Freund des alten Simon. Er hat meinen Vater sehr geliebt«, Jamie verzog den Mund, »und auch meine Mutter. Die Art, wie Lord Lovat sie behandelte, billigte er ganz und gar nicht. Ebensowenig die Art und Weise, wie Lovat sich seine Frauen aussuchte. Murtagh hat eine irische Großmutter, aber er ist mütterlicherseits mit Primrose Campbell verwandt«, erklärte er, als ob damit alles gesagt sei.
»Wer ist Primrose Campbell?« fragte ich verblüfft.
»Oh.« Jamie kratzte sich nachdenklich die Nase. Der Wind vom Meer frischte auf und ließ Jamies Haar flattern.
»Primrose Campbell war - und ist vermutlich immer noch - Lovats dritte Frau«, erklärte er, »obwohl sie ihn vor einigen Jahren verlassen hat und in ihr Elternhaus zurückgekehrt ist.«
»Er scheint bei Frauen sehr beliebt zu sein«, murmelte ich.
Jamie schnaubte verächtlich. »So kann man es auch nennen. Seine erste Frau zwang er zur Ehe. Er riß die verwitwete Lady Lovat mitten in der Nacht aus dem Bett, heiratete sie auf der Stelle und ging sofort mit ihr ins Bett. Allerdings«, fuhr er fort, »hat sie sich später entschlossen, ihn zu lieben, also war er vielleicht doch nicht so schlecht.«
»Vielleicht war er wenigstens im Bett etwas Besonderes«, sagte ich leichthin. »Das liegt dann wohl in der Familie.«
Er warf mir einen etwas schockierten Blick zu, grinste dann aber.
»Aye«, sagte er. »Wenn, dann hat ihm das nicht viel genutzt. Die Dienstmägde der Witwe haben gegen ihn ausgesagt, und Simon wurde geächtet und mußte nach Frankreich fliehen.«
Erzwungene Heirat und Ächtung? Ich hielt mich mit weiteren Bemerkungen über die Familienähnlichkeit zurück, hoffte aber insgeheim, daß Jamie nicht in die Fußstapfen seines Großvaters treten würde, was weitere Ehefrauen betraf. Eine hatte Simon offensichtlich nicht gereicht.
»Er ging zu König James nach Rom und schwor den Stuarts die Treue«, fuhr Jamie fort, »daraufhin begab er sich umgehend zu Wilhelm von Oranien, dem König von England, der eben zu einem Besuch in Frankreich weilte. James versprach, ihm seinen Titel und seine Besitzungen zurückzugeben, wenn er wieder auf den Thron käme, und dann - weiß Gott, wie er das fertiggekriegt hat - wurde er von Wilhelm begnadigt und konnte nach Schottland zurückkehren.«
Jetzt war ich es, die ungläubig die Stirn runzelte. Offensichtlich wirkte Lord Lovat nicht nur auf das andere Geschlecht.
Später ging er wieder nach Frankreich, diesmal, um die Jakobiten zu bespitzeln. Als er enttarnt wurde, warf man ihn ins Gefängnis, doch es gelang ihm zu fliehen. Er kehrte nach Schottland zurück, organisierte 1715 unter dem Deckmantel einer Jagdgesellschaft in den Braes of Mar eine Versammlung der Clans - und dann ließ er sich von den Engländern dafür loben, den daraus resultierenden Aufstand niedergeschlagen zu haben.
»Ein alter Gauner, nicht wahr?« sagte ich anerkennend. »Obwohl ich annehme, daß er damals gar nicht so alt war; um die Vierzig vielleicht.« Als ich gehört hatte, daß Lord Lovat jetzt Mitte Siebzig war, hatte ich erwartet, einen alten Tattergreis vorzufinden, aber ich änderte meine Meinung, als ich diese Geschichten hörte.
»Der Charakter meines Großvaters«, bemerkte Jamie gelassen, »würde es ihm ermöglichen, sich hinter einer Wendeltreppe zu verstecken. Wie auch immer, später heiratete er Margaret Grant, die Tochter des Grant o’Grant. Erst nach deren Tod heiratete er Primrose Campbell. Sie war damals kaum älter als achtzehn.«
»War der gute Simon denn ein so guter Fang, daß man sie zu dieser Ehe gezwungen hat?« fragte ich anteilnehmend.
»Keineswegs, Sassenach.« Er machte eine Pause und wischte sich das Haar aus der Stirn. »Er wußte sehr gut, daß sie ihn nicht haben wollte, auch wenn er ein Krösus gewesen wäre - was er nicht war -, und so ließ er ihr einen Brief schicken, in dem stand, ihre Mutter sei in Edinburgh erkrankt, und er nannte auch die Adresse, die sie aufsuchen sollte.«
Die junge und schöne Miß Campbell eilte nach Edinburgh, wo sie nicht ihre Mutter, sondern den alten, durchtriebenen Simon Fraser vorfand. Er sagte ihr, daß sie sich in einem stadtbekannten Freudenhaus befände, und ihre einzige Chance, ihren guten Namen zu retten, bestünde darin, ihn auf der Stelle zu heiraten.
»Sie muß ganz schön einfältig gewesen sein, um auf diesen Trick hereinzufallen«, bemerkte ich zynisch.
»Na ja, sie war damals sehr jung«, verteidigte Jamie sie, »und es war keineswegs eine leere Drohung. Wenn sie sich geweigert hätte, hätte der alte Simon ihren guten Ruf ruiniert, ohne mit der Wimper zu zucken. Jedenfalls heiratete sie ihn - und hat es natürlich bereut.«
»Hmmm.« Ich rechnete. Die erste Begegnung Lord Lovats mit Primrose Campbell lag nur ein paar Jahre zurück, hatte Jamie gesagt. Dann... »War die verwitwete Lady Lovat oder Margaret Grant deine Großmutter?« fragte ich neugierig.
Seine Wangen wurden tiefrot.
»Keine von beiden«, sagte er schließlich. Er sah mich nicht an, sondern hielt den Blick starr auf Burg Beaufort gerichtet und preßte die Lippen fest zusammen.
»Mein Vater war ein uneheliches Kind«, sagte er. Er saß kerzengerade im Sattel und hieltdie Zügel so fest umklammert, daß seine Knöchel ganz weiß waren. »Von seinem Vater anerkannt, aber trotzdem ein uneheliches Kind. Der Sohn einer Magd von Burg Downie.«
»Ach so«, sagte ich bloß.
Er schluckte.
»Ich hätte es dir schon früher sagen sollen«, sagte er steif. »Tut mir leid.«
Ich streckte meine Hand aus, um seinen Arm zu berühren.
»Das spielt doch überhaupt keine Rolle, Jamie«, erwiderte ich, obwohl ich wußte, daß ihm das nicht viel half. »Das ist doch vollkommen nebensächlich.«
»Aye?« sagte er dann und blickte starr geradeaus. »Tja... für mich nicht.«
 
Die frische Brise aus der Bucht von Moray strich durch die dunklen Kiefern auf dem Hügel. Die Landschaft hier war eine seltsame Mischung aus Bergen und Küste. Dichte Erlen-, Lärchen- und Birkenwäldchen säumten den schmalen Pfad, auf dem wir ritten, doch als wir uns Burg Beaufort näherten, lag der modrige Geruch von Seetang in der Luft.
Wir wurden in der Tat erwartet; die mit Äxten bewaffneten Wachen am Tor ließen uns passieren. Sie sahen uns zwar neugierig, jedoch nicht feindselig an. Jamie saß aufrecht wie ein König im Sattel. Er nickte der Wache zu, die den Gruß erwiderte. Ich hatte das Gefühl, als beträten wir die Burg mit einer weißen Fahne in der Hand; wie lange der Frieden halten würde, wußte niemand.
So ritten wir unbehelligt in den Hof von Burg Beaufort, einer aus dem Naturstein der Region erbauten Burg von bescheidenen Ausmaßen, dennoch aber eindrucksvoll; nicht so stark befestigt wie einige der Burgen, die ich im Süden gesehen hatte, aber eine trutzige Festung mit Schießscharten entlang der äußeren Festungsmauer, mit einem Bergfried und Stallungen zum Hof hin.
Einige kleine Hochlandponys waren darin untergebracht, und sie streckten die Köpfe über das hölzerne Gatter wie zum Willkommensgruß. Nahe der Mauer lagen zahlreiche Bündel, offenbar Lasten, die man den Ponys im Stall abgenommen hatte.
»Lovat hat ein paar Leute zu unserer Begrüßung kommen lassen«, meinte Jamie, als er die Bündel sah. »Verwandte, wie ich vermute.« Er zuckte die Schultern.«Jedenfalls werden sie uns erst einmal freundlich aufnehmen.«
»Woher weißt du das?«
Er stieg vom Pferd und reichte mir die Hand, damit auch ich absteigen konnte.
»Sie haben die Breitschwerter bei ihrem Gepäck gelassen.«
Jamie reichte die Zügel seines Pferds einem Knecht, der uns aus dem Stall entgegenkam und sich die Hände an der Hose abwischte.
»Was nun?« murmelte ich Jamie zu. Ein Kastellan oder ein Majordomus war nirgends in Sicht und auch keine fröhliche, respektgebietende Gestalt wie Mrs. Fitz Gibbons, die uns zwei Jahre zuvor auf Burg Leoch willkommen geheißen hatte.
Die Stallburschen und Pferdeknechte warfen uns ab und zu einen flüchtigen Blick zu, doch sie fuhren mit ihrer Arbeit fort, ebenso die Dienstboten, die über den Hof kamen, Körbe mit Wäsche trugen, Torfballen und anderes, was zum Leben auf einer Burg benötigt wurde. Ich sah einem stämmigen Diener nach, der unter der Last zweier schwerer, wassergefüllter Kupferkannen stöhnte. Obwohl die Gastfreundschaft hier einiges zu wünschen übrigließ, besaß Burg Beaufort doch immerhin irgendwo eine Badewanne.
Jamie stand mitten im Hof, die Arme verschränkt, und blickte sich um wie ein potentieller Grundstückskäufer.
»Wir warten einfach, Sassenach«, sagte Jamie. »Die Wachen werden schon Bescheid sagen, daß wir da sind. Entweder kommt jemand runter zu uns... oder nicht.«
»Hm«, sagte ich. »Na ja, ich hoffe, sie entschließen sich bald; ich bin hungrig, und waschen würde ich mich auch gerne.«
»Aye, das hättest du nötig.« Jamie nickte und lächelte, als er mich ansah. »Deine Nase ist schmutzig, und in deinem Haar sind Kletten. Nein, laß nur«, fügte er hinzu, als ich mir bestürzt ins Haar griff. »Es sieht hübsch aus, als ob du es absichtlich gemacht hättest.«
Natürlich war es keine Absicht, aber ich ließ sie im Haar. Ich ging zu einem Wassertrog in der Nähe, um mein Äußeres zu begutachten und in Ordnung zu bringen, soweit das mit kaltem Wasser möglich war.
Es war schon eine prekäre Situation, dachte ich, während ich mich über den Trog beugte und die Schmutzflecken in meinem Spiegelbild im Wasser zu erkennen suchte.
Einerseits war Jamie der offizielle Abgesandte der Stuarts. Egal, ob Lovats Versprechen, deren Sache zu unterstützen, ernst gemeint oder ein bloßes Lippenbekenntnis war - er würde sich wahrscheinlich verpflichtet fühlen, den Abgesandten des Prinzen höflich zu empfangen.
Andererseits war dieser Gesandte sein Enkel, der Sohn seines unehelichen Sohnes. Und wenn Jamie auch nicht direkt verleugnet wurde, so zählte er doch gewiß nicht zum engsten Familienkreis. Ich wußte inzwischen genug über die Fehden im Hochland, um mir darüber im klaren zu sein, daß Verstimmungen dieser Art nicht einfach verschwanden.
Ich wischte mir mit der feuchten Hand über die Augen, über die Schläfen und durchs Haar. Lord Lovat würde uns wohl nicht einfach im Hof stehenlassen. Doch konnte es sehr wohl sein, daß er uns so lange warten ließ, bis wir uns der Zwiespältigkeit unseres Besuchs bewußt wurden.
Und dann - ja, wer konnte das wissen? Wahrscheinlich würde uns Lady Frances, eine von Jamies Tanten, willkommen heißen, eine Witwe, die nach allem, was wir von Tullibardine gehört hatten, ihrem Vater den Haushalt führte. Oder, falls er uns als diplomatische Abordnung und nicht als Verwandte empfangen wollte, würde uns wohl Lord Lovat selbst begrüßen, mit seiner ganzen Entourage aus Sekretären, Wachen und Dienstboten.
Da wir nun schon so lange warten mußten, rechnete ich eher mit letzterem. Denn das Gefolge steht ja nicht jederzeit in hochoffizieller Aufmachung bereit - es würde einige Zeit dauern, bis alle versammelt waren. Angesichts der Vorstellung, einem Grafen mit seinem Gefolge gegenübertreten zu müssen, erschienen mir Kletten im Haar nicht sehr passend, und ich beugte mich erneut über den Trog.
In diesem Augenblick hörte ich Schritte hinter der Futterkrippe. Ein untersetzter älterer Mann mit offenem Hemd und Kniehose betrat den Burghof und stieß eine braune Stute mit dem Ellbogen beiseite. Trotz seines Alters ging er aufrecht; seine Schultern waren beinahe so breit wie die Jamies.
Er blieb am Pferdetrog stehen und sah sich im Hof um, als suchte er jemanden. Als sein Blick auf mich fiel, stutzte er. Er tat einen Schritt auf mich zu und streckte den Kopf vor, wobei sein grauer Stoppelbart zur Geltung kam, der wie die Borsten eines Stachelschweins nach allen Seiten abstand.
»Wer zum Teufel sind Sie?« rief er unwirsch.
»Claire Fräser... ich meine, Herrin von Broch Tuarach«, erwiderte ich irritiert. Erst allmählich gewann ich die Fassung wieder und wischte mir einen Tropfen Wasser vom Kinn. »Und wer zum Teufel sind Sie?«
Eine Hand faßte mich am Ellbogen, und ich hörte eine ergebene Stimme sagen: »Das, Sassenach, ist mein Großvater. Mylord, darf ich Ihnen meine Gemahlin vorstellen?«
 
»Ach?« sagte Lord Lovat und musterte mich aus kalten blauen Augen. »Ich habe gehört, daß du eine Engländerin geheiratet hast.« Der Tonfall machte deutlich, daß dies seine schlimmsten Vermutungen über seinen Enkel bestätigte.
Er runzelte die Stirn und sah Jamie dann mit bohrendem Blick an. »Du scheinst auch nicht mehr Verstand zu besitzen als dein Vater.«
Jamies Hand zuckte, er hätte sie am liebsten zur Faust geballt.
»Ich hatte es jedenfalls nicht nötig, mir durch Vergewaltigung oder andere üble Tricks eine Frau zu beschaffen«, erwiderte er gelassen.
Jamies Großvater murmelte etwas, doch die Beleidigung ließ ihn offenbar kalt. Fast kam es mir so vor, als zuckten seine Mundwinkel.
»Aye, und du hast dabei kein gutes Geschäft gemacht«, gab er zurück. »Wenigstens scheint die hier so teuer wie die MacKenzie-Hure, auf die Brian hereingefallen ist. Wenn dir diese sassenach schon nichts einbringt, so sieht sie wenigstens so aus, als ob sie dich wenig kostet.« Seine schräggestellten blauen Augen, Jamies Augen, glitten über mein schmutziges Reisekleid mit dem herabhängenden Saum und den Schlammspritzern.
Jamie zitterte leicht, aber ich war nicht sicher, ob aus Wut oder weil ihm nach Lachen zumute war.
»Danke«, sagte ich und lächelte Seine Lordschaft freundlich an. »Ich esse auch nicht viel. Aber ich würde mich jetzt gerne waschen. Wasser genügt; Seife ist gar nicht nötig, wenn es zu teuer kommt.«
Diesmal war ich mir sicher, daß Lord Lovat in sich hineingrinste.
»Aye, ich verstehe«, nickte er. »Ich schicke gleich eine Magd, die euch eure Zimmer zeigt. Und selbstverständlich bekommen Sie Seife. Wir sehen dich dann vor dem Abendessen in der Bibliothek... Enkel«, fügte er zu Jamie gewandt hinzu. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand.
»Wer ist wir?« fragte ich.
»Der junge Simon vermutlich«, erwiderte Jamie. »Der Erbe Seiner Lordschaft. Dazu noch ein paar weitläufige Verwandte und Clansmänner, nach den Pferden zu urteilen, die im Hof stehen. Falls Lovat sich entschließen sollte, Truppen zu den Stuarts zu schicken, dann haben seine Leute auch ein Wörtchen mitzureden.«
 
»Hast du jemals einen Wurm im Hühnerhof gesehen?« murmelte er, während wir eine Stunde später einem Dienstboten durch den Korridor folgten. »Das bin ich - oder wir, würde ich sagen. Weiche nicht von meiner Seite.«
In der Tat, die ganze Verwandtschaft des Fraser-Clans war versammelt; als wir die Bibliothek betraten, saßen über zwanzig Männer darin und warteten.
Jamie wurde offiziell vorgestellt, und er gab eine offizielle Erklärung im Namen der Stuarts ab. Er übermittelte Lord Lovat die Grüße von Prinz Charles und König James und bat um Lovats Hilfe. Daraufhin hielt der Alte eine kurze, rhetorisch gewandte, jedoch unverbindliche Ansprache. Nachdem dies erledigt war, mußte ich vortreten und wurde vorgestellt, dann entspannte sich die steife Atmosphäre.
Ich wurde von Edelleuten aus dem Hochland umringt, die mich begrüßten, während Jamie mit einem Mann namens Graham sprach, der anscheinend Lovats Cousin war. Die Clansmänner betrachteten mich mit Zurückhaltung, aber sie waren alle liebenswürdig - mit einer Ausnahme.
Der junge Simon, eine fünfzig Jahre jüngere Ausgabe seines Vaters, trat vor und beugte sich über meine Hand. Dann richtete er sich auf und betrachtete mich mit einem Ausdruck, den man kaum als höflich bezeichnen konnte.
»Jamies Frau, hm?« fragte er. Er hatte die gleichen schrägstehenden Augen wie sein Vater und sein Neffe, doch sie waren nicht blau, sondern braun wie morastiges Wasser. »Dann darf ich Sie wohl Nichte nennen, nicht wahr?« Er war etwa in Jamies Alter, ein paar Jahre jünger als ich.
»Haha«, machte ich höflich, als er über seine Bemerkung lachte. Ich versuchte, meine Hand zurückzuziehen, aber er ließ sie nicht los. Statt dessen grinste er spöttisch und musterte mich erneut von Kopf bis Fuß.
»Ich habe schon von Ihnen gehört, wissen Sie«, sagte er. »Sie sind in den Highlands berühmt, Mistress.«
»Ach, wirklich? Wie schön.« Mit einem kräftigen Ruck versuchte ich ihm meine Hand zu entziehen, aber er hielt sie so fest, daß es weh tat.
»Oh, aye. Ich habe gehört, Sie sind sehr beliebt bei den Männern, die Ihr Gemahl befehligt«, grinste er. »Man nennt Sie neo-geimnidh meala, habe ich gehört. Das heißt >Mistress Honiglippen‹«, übersetzte er, als er sah, daß ich mit dem gälischen Wort nichts anfangen konnte.
»Tja, danke...«, begann ich, doch da hatte Jamie dem jungen Simon schon einen Kinnhaken verpaßt, daß dieser gegen einen Chippendaletisch fiel. Leckereien und Servierlöffel krachten laut scheppernd auf den polierten Boden.
Er war gekleidet wie ein feiner Herr, besaß aber den Instinkt eines Raufbolds. Der junge Simon kam auf die Knie, die Fäuste geballt, und erstarrte in der Bewegung. Jamie stand über ihm, die Hände ebenfalls zur Faust geballt.
»Nein«, sagte er ruhig, »sie kann nicht allzugut Gälisch. Und jetzt, da du das zur allgemeinen Zufriedenheit bewiesen hast, wirst du dich höflich bei meiner Frau entschuldigen, bevor ich dir die Zähne einschlage.« Der junge Simon sah Jamie mit finsterem Blick an, dann wanderte sein Blick zu seinem Vater, der, ungehalten über die Störung, kaum merklich mit dem Kopf nickte. Das im Nacken zusammengebundene struppige schwarze Haar des jungen Fraser hatte sich gelöst und hing ihm zottelig ins Gesicht. Er musterte Jamie argwöhnisch, doch in seinem Blick lagen auch Belustigung und Respekt. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund und verbeugte sich, immer noch auf den Knien, bedächtig in meine Richtung.
»Verzeihung, Mistress Fraser, ich bitte Sie um Entschuldigung, falls Sie sich durch meine Äußerung verletzt fühlen sollten.«
Ich konnte als Antwort nur huldvoll nicken, bevor Jamie mich hinaus in den Korridor schob. Wir hatten die Tür am Ende des Korridors fast schon erreicht, bevor ich zu sprechen begann. Ich sah mich um, um sicherzugehen, daß wir nicht belauscht wurden.
»Was um Himmels willen bedeutet neo-geimnidh meala?« fragte ich dann und zog ihn am Ärmel, um ihn zu bremsen. Er sah mich an, als fiele ihm erst jetzt auf, daß ich neben ihm herging.
»Hm? Ach, es heißt schon Honiglippen, das stimmt. Mehr oder weniger.«
»Aber...«
»Es bezieht sich nicht auf deinen Mund, Sassenach«, sagte Jamie trocken.
»Wie, es...« Ich hielt inne, um zur Bibliothek zurückzukehren, aber Jamie packte mich fester am Arm.
»Gack, gack, gack«, murmelte er mir ins Ohr. »Mach dir nichts draus, Sassenach. Sie wollten mich nur auf die Probe stellen. Es ist schon gut.«
Ich wurde Lady Frances anvertraut, der Schwester des jungen Simon, während Jamie kampfesmutig in die Bibliothek zurückkehrte. Ich hoffte, daß er nicht noch mehr Verwandte zusammenschlagen würde. Die Frasers waren körperlich nicht so gut gebaut wie die MacKenzies, aber sie waren zäh und wachsam.
Lady Frances war jung, vielleicht zweiundzwanzig, und sie betrachtete mich mit einer Art ängstlicher Faszination, als glaubte sie, mich unablässig mit Tee und Leckereien besänftigen zu müssen, damit ich mich nicht auf sie stürzte. Ich wiederum bemühte mich, so harmlos wie möglich zu erscheinen. Nach einer Weile hatte sich die Lage so weit entspannt, daß Frances zugeben konnte, noch nie eine Engländerin gesehen zu haben. »Engländerinnen«, das entnahm ich ihren Worten, waren eine exotische und gefährliche Spezies.
Ich achtete darauf, keine abrupten Bewegungen zu machen, und allmählich faßte sie so viel Zutrauen, daß sie es wagte, mir ihren Sohn vorzustellen, einen stämmigen dreijährigen Jungen, der sich aufgrund der unablässigen Wachsamkeit eines gestrengen Dienstmädchens in einem Zustand unnatürlicher Reinlichkeit befand.
Ich erzählte Frances und ihrer jüngeren Schwester Aline gerade von Jenny und ihrer Familie, die sie nie gesehen hatten, als plötzlich draußen auf dem Korridor ein Krach und ein Schrei zu hören waren. Ich sprang auf, und als ich die Tür des Salons erreicht hatte, erblickte ich draußen auf den Steinfliesen ein zusammengekauertes Wesen, das versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Die schwere Tür zur Bibliothek stand offen, und der gedrungene alte Simon Fraser stand davor, bösartig wie ein Giftzwerg.
»Es wird dir noch schlimmer ergehen, Mädel, wenn du deine Arbeit nicht besser machst«, sagte er. Seine Stimme klang nicht sonderlich bedrohlich; es war lediglich eine Feststellung. Die am Boden kauernde Gestalt hob den Kopf, und ich blickte in ein seltsam eckiges, hübsches Gesicht mit großen dunklen Augen und einem roten Fleck auf der Wange. Sie sah mich an, verzog aber keine Miene, sondern stand auf und ging, ohne ein Wort zu sagen. Sie war groß und äußerst dünn, und sie bewegte sich mit der seltsam plumpen Anmut eines Kranichs.
Ich starrte den alten Simon an, der sich düster vor dem Kaminfeuer in der Bibliothek abhob. Er spürte meinen Blick und wandte sich zu mir um. Seine blauen Augen ruhten auf mir kalt wie Saphire.
»Guten Abend, meine Liebe«, sagte er, schloß die Tür und ließ mich stehen.
»Was war denn das?« fragte ich Frances, die jetzt hinter mir stand.
»Ach, nichts«, erwiderte sie und fuhr sich mit der Zunge nervös über die Lippen. »Kommen Sie, meine Liebe.« Ich folgte ihr, beschloß jedoch, Jamie später zu fragen, was in der Bibliothek geschehen war.
 
Wir waren in unserem Schlafzimmer angelangt, und Jamie entließ unseren kleinen Führer mit einem Klaps auf den Kopf.
Ich sank aufs Bett und sah mich hilflos um.
»So, und was machen wir nun?« fragte ich. Wir hatten das Abendessen ohne Zwischenfälle hinter uns gebracht, aber ich hatte Lovats forschenden Blick auf mir gespürt.
Jamie zuckte die Schultern und zog sich das Hemd über den Kopf.
»Wenn ich das bloß wüßte, Sassenach«, sagte er. »Sie haben mich nach der Stärke der Hochlandarmee gefragt, nach dem Zustand der Truppen, was ich von den Plänen Seiner Hoheit wüßte. Ich habe ihnen Auskunft erteilt. Und dann begann alles noch einmal von vorne. Mein Großvater kann sich nicht vorstellen, daß ihm jemand eine ehrliche Antwort gibt«, fügte er trocken hinzu. »Er glaubt, die anderen sind genauso unredlich wie er und haben tausend Gründe, etwas zu verheimlichen.«
Er schüttelte den Kopf und warf das Hemd neben mich auf das Bett.
»Er weiß nicht, ob das, was ich ihm über die Hochlandarmee erzähle, auch stimmt. Denn wenn ich will, daß er sich den Stuarts anschließt, so meint er, würde ich die Dinge in einem besseren Licht erscheinen lassen. Andererseits, wenn mir egal ist, ob er die Stuarts unterstützt, dann könnte ich gut die Wahrheit sprechen. Er ist nicht bereit, sich in irgendeinerWeise festzulegen, ehe er nicht herausgefunden hat, wo ich stehe.«
»Und wie will er das feststellen?« fragte ich skeptisch.
»Er hat eine Wahrsagerin«, erwiderte er beiläufig, als ob dies zum selbstverständlichen Inventar einer Hochlandburg gehörte. Und das konnte durchaus sein.
»Tatsächlich?« Ich setzte mich neugierig im Bett auf. »Die seltsame Frau, die er hinausgeworfen hat?«
»Aye. Sie heißt Maisri, und sie hat von Geburt an das Zweite Gesicht. Aber sie konnte - oder wollte - ihm nichts sagen«, fügte er hinzu. »Es war allzu deutlich, daß sie etwas weiß, aber sie schüttelte nur den Kopf und sagte, sie sehe nichts. Da hat mein Großvater die Geduld verloren und sie geschlagen.«
»Der abscheuliche alte Kerl«, sagte ich empört.
»Na ja, er ist nicht gerade ein Muster an Höflichkeit«, nickte Jamie.
Er schenkte Wasser aus dem Krug in die Schüssel und spritzte sich das Gesicht naß. Als ich einen Schrei ausstieß, sah er - mit triefendem Gesicht - erstaunt auf.
»Hm?«
»Dein Bauch...«, sagte ich und deutete auf ihn. Auf der Haut zwischen Brustbein und Kilt war ein großer blauer Fleck.
Jamie sah an sich hinab. »Ach, das«, meinte er abwehrend und fuhr fort, sich zu waschen.
»Ja, das«, beharrte ich, stand auf und trat näher. »Was ist passiert?«
»Nichts von Bedeutung«, winkte er ab und trocknete sich das Gesicht. »Ich bin heute nachmittag ein wenig hitzig geworden, und da hat mir mein Großvater vom jungen Simon eine Lektion erteilen lassen.«
»Dann haben dich also zwei Frasers festgehalten, während er dich in den Bauch geschlagen hat?« Mir wurde übel bei dem Gedanken.
Jamie warf das Handtuch beiseite und griff nach dem Nachthemd.
»Sehr schmeichelhaft von dir, anzunehmen, daß mich zwei festhalten müßten«, sagte er und grinste, während er es überzog. »Eigentlich waren es drei; einer stand hinter mir und hat mich gewürgt.«
»Jamie!«
Er lachte und schüttelte den Kopf, während er die Bettdecke zurückschlug.
»Ich weiß nicht, was du an dir hast, Sassenach, daß ich vor dir immer angeben will. Irgendwann werde ich mich noch umbringen lassen, nur um dich zu beeindrucken.« Er seufzte und strich das wollene Nachthemd über seinem Bauch glatt. »Es ist alles nur Spielerei, Sassenach, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Spielerei! Guter Gott, Jamie!«
»Hast du noch nie gesehen, was passiert, wenn ein fremder Hund sich einem Rudel anschließt, Sassenach? Die anderen beschnüffeln ihn und knurren, um zu sehen, ob er den Schwanz einzieht oder zurückknurrt. Manchmal kommt es zu einer Beißerei, doch am Ende kennt jeder Hund seinen Platz und weiß, wer der Anführer ist. Der alte Simon will sichergehen, daß ich weiß, wer sein Rudel anführt, das ist alles.«
»Ach. Und weißt du es jetzt?« Ich legte mich wieder hin und wartete, daß auch er ins Bett kam. Er nahm die Kerze und grinste mich an. Im flackernden Licht blitzten seine blauen Augen.
»Wau, wau«, bellte er und blies die Kerze aus.
 
In den folgenden beiden Wochen sah ich Jamie fast nur nachts. Tagsüber leistete er seinem Großvater auf der Jagd und beim Ausreiten Gesellschaft - denn Lovat war, ungeachtet seiner Jahre, ein rüstiger Mann - oder auch in der Bibliothek, während der alte Fuchs mit Bedacht seine Entscheidungen traf und seine Pläne schmiedete.
Die meiste Zeit verbrachte ich mit Frances und den anderen Frauen. Wenn Frances aus dem übermächtigen Schatten ihres Vaters herausgetreten war, fand sie den Mut, ihre Meinung zu sagen, und erwies sich als kluge und interessante Gefährtin. Sie war verantwortlich für den reibungslosen Ablauf des Lebens auf der Burg, aber sobald ihr Vater auftauchte, hielt sie sich zurück, senkte den Blick und sprach nur im Flüsterton. Und dafür konnte ich ihr nicht einmal Vorwürfe machen.
Zwei Wochen nach unserer Ankunft kam Jamie in den Salon, wo ich mit Frances und Aline saß, um mir zu sagen, daß Lord Lovat mich zu sehen wünschte.
Der alte Simon deutete auf die Karaffen, die auf dem Tisch an der Wand standen, dann setzte er sich auf einen riesigen, aus Walnußholz geschnitzten Stuhl, dessen blaues Samtpolster schon ganz abgewetzt war. Der Stuhl paßte so gut zu seiner kurzen, kräftigen Figur, daß ich mich fragte, ob er nach Maß gefertigt worden war oder ob der alte Simon im Laufe der Zeit in den Stuhl hineingewachsen war.
Ich setzte mich still in eine Ecke, ein Glas Portwein vor mir, und schwieg, während Simon Jamie erneut über Charles Stuarts Erfolgsaussichten befragte. Jamie und sein Großvater waren inzwischen zum verwandtschaftlichen Du übergegangen.
Zum zwanzigstenmal zählte Jamie die Anzahl der bereitstehenden Truppen auf; er erläuterte die Kommandohierarchie - soweit es überhaupt eine gab -, die Art und Qualität der Bewaffnung - sie war nicht anders als kläglich zu nennen -, er berichtete, was Glengarry nach Prestonpans gesagt hatte, was Cameron über die englischen Truppenbewegungen wußte, weshalb Charles beschlossen hatte, Richtung Süden zu marschieren, und so weiter und so fort. Ich wäre über dem Glas in meiner Hand fast eingenickt, und ich riß mich gerade noch rechtzeitig zusammen, um zu vermeiden, daß sich der Wein über mein Kleid ergoß.
»... und Lord George Murray und Kilmarnock sind der Meinung, daß Seine Hoheit am besten beraten wäre, sich im Winter in die Highlands zurückzuziehen«, schloß Jamie seine Ausführungen und gähnte hemmungslos. Er stand von dem unbequemen Stuhl, dem man ihm zugewiesen hatte, auf und streckte sich.
»Und was meinst du, du persönlich?« Die Augen des alten Simon blitzten unter halbgeschlossenen Lidern hervor, als er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Die Flammen flackerten hell, und das Harz des brennenden Kiefernholzes verbreitete einen durchdringenden Geruch, der sich mit dem dicken Rauch vermischte.
Der Feuerschein warf Jamies Schatten an die Wand, während er nervös auf und ab ging. In der Bibliothek war es stickig und düster, die Vorhänge waren bereits zugezogen - ein völlig anderer Schauplatz als der sonnige, offene Kirchhof, auf dem Colum Jamie die gleichen Fragen gestellt hatte. Und auch die Umstände hatten sich verändert: Charles war nun nicht mehr der von allen geliebte Prinz, dem man sich freiwillig anschloß, sondern er sandte nach den Clanoberhäuptern und rief sie in aller Strenge auf, ihm zu folgen. Doch es ging immer noch um dasselbe - und das Problem hing düster, ungreifbar und wie ein Schatten über uns.
»Ich habe dir gesagt, was ich denke - mehr als ein dutzendmal.« Jamie sprach abgehackt und zuckte ungeduldig mit den Schultern, als wäre ihm sein Hemd zu eng.
»Oh, aye. Das ist richtig. Aber diesmal, glaube ich, werden wir die Wahrheit hören.«
Der Alte lehnte sich bequem in seinem gepolsterten Stuhl zurück und verschränkte die Hände über dem Bauch.
»Tatsächlich?« Jamie lachte und sah sich seinen Großvater an. Er stellte sich neben den Tisch und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Trotz der Unterschiede in Haltung und Statur war eine knisternde Spannung zwischen den beiden Männern spürbar, die ihre Ähnlichkeit unterstrich. Der eine groß, der andere untersetzt, beide aber stark, starrköpfig und entschlossen, aus der Auseinandersetzung als Sieger hervorzutreten.
»Bin ich denn nicht dein Blutsverwandter? Und dein Oberhaupt? Ich verlange nichts von dir als Loyalität.«
Das also war der Punkt. Colum, bestens vertraut mit körperlicher Schwäche, hatte gewußt, wie man die Schwächen der anderen für eigene Zwecke einsetzt. Simon Fraser, auch im hohen Alter noch stark und tatkräftig, war es gewohnt, auf direktem Weg ans Ziel zu gelangen. Als ich Jamies säuerliches Grinsen sah, wußte ich, daß auch er in Gedanken Colums eindringlichen Appell mit der barschen Forderung seines Großvaters verglich.
»Ach, tatsächlich? Ich erinnere mich nicht, dir einen Eid geleistet zu haben.«
Aus Simons Augenbrauen sprossen borstig einige lange Härchen, wie oft bei älteren Männern. Sie erzitterten im Schein des Feuers, ob aus Wut oder Erheiterung über Jamies Frechheit, war nicht zu sagen.
»Einen Eid also? Und das Fraser-Blut - fließt etwa kein Fraser-Blut in deinen Adern?«
Jamies Mund verzog sich schmerzlich, als er antwortete: »Es heißt, daß ein kluges Kind seinen Vater kennt, nicht wahr? Meine Mutter war eine MacKenzie; soviel steht fest.«
Simons Gesicht wurde dunkelrot, und seine Stirn legte sich in Falten. Dann öffnete er den Mund und fing an, schallend zu lachen. Er lachte so sehr, daß er sich schließlich im Stuhl hochziehen mußte und nach Luft rang. Außer sich vor Heiterkeit schlug er mit einer Hand auf die Stuhllehne, griff mit der anderen in seinen Mund und holte seine falschen Zähne heraus.
»Pff«, spuckte er, keuchend und schnaufend. Tränen standen ihm in den Augen, und aus seinem Mund tropfte Speichel; er tastete mit der Hand nach dem Tischchen neben sich und ließ das Gebiß auf die Kuchenplatte fallen. Seine knorrigen Hände ergriffen eine Leinenserviette, die er sich aufs Gesicht preßte, immer noch grunzende Laute der Erheiterung ausstoßend.
»Herr im Himmel, Junge«, lispelte er zahnlos. »Reich mir den Whisky.«
Jamie nahm mit hochgezogenen Brauen die Karaffe vom Tisch und reichte sie seinem Großvater, der den Stöpsel herauszog und einen herzhaften Schluck nahm, ohne sich die Mühe zu machen, ein Glas vollzuschenken.
»Du glaubst also, du bist kein Fraser?« sagte er und ließ die Karaffe sinken. »Ha!« Er lehnte sich wieder im Stuhl zurück, und sein Bauch bewegte sich schwer, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Mit seinem langen, knochigen Finger zeigte er auf Jamie.
»Dein Vater stand genau da, wo du jetzt stehst, mein Junge, und er sagte haargenau dasselbe, an dem Tag, an dem er Burg Beaufort für immer verließ.« Der Alte beruhigte sich allmählich. Er hustete mehrmals und wischte sich erneut übers Gesicht.
»Wußtest du, daß ich versucht habe, die Heirat deiner Eltern zu verhindern, indem ich behauptete, Ellen MacKenzies Kind sei nicht von Brian?«
»Aye, das weiß ich.« Jamie beobachtete seinen Großvater aus zusammengekniffenen Augen.
Lord Lovat schnaubte verächtlich. »Nicht, daß ich behaupten möchte, es habe zwischen mir und den Meinen immer nur eitel Sonnenschein gegeben, aber ich kenne meine Söhne. Und meine Enkel«, fügte er spitz hinzu. »Keiner von ihnen wird sich zum Hahnrei machen lassen, ebensowenig wie ich.«
Jamie sah den Alten unverwandt an, aber ich mußte die Augen abwenden. Mein Blick schweifte zu den abgelegten Zähnen; das Buchenholz schimmerte feucht inmitten der Kuchenkrümel.
Er wurde wieder ernst. »Also gut. Dougal MacKenzie von Leoch hat sich für Charles entschieden. Ist er etwa dein Oberhaupt? Willst du mir etwa sagen, daß du ihm einen Treueid geleistet hast?«
»Nein, ich habe niemandem geschworen.«
»Auch nicht Charles?« Der Alte war blitzschnell mit seinen Fragen - wie eine Katze, die sich auf die Maus stürzt. Er beobachtete Jamie aus seinen tiefliegenden schmalen Augen.
Jamies Blick war starr auf das Feuer gerichtet, sein Schatten an der Wand hinter ihm bewegte sich nicht.
»Er hat mich nicht darum gebeten.« Das war richtig. Charles hatte keine Notwendigkeit gesehen, Jamie einen Eid schwören zu lassen - er war dem zuvorgekommen, indem er Jamies Namen unter den Bündnisvertrag gesetzt hatte. Dennoch, die Tatsache, daß er Charles nicht sein Wort gegeben hatte, war für Jamie sehr wichtig. Wenn er ihn verraten mußte, dann wenigstens nicht als den Mann, den er als Anführer anerkannt hatte. Daß alle Welt glaubte, er hätte einen solchen Eid geschworen, war für ihn nur von zweitrangiger Bedeutung.
Simon brummte. Ohne Zähne rückte seine Nase näher an das Kinn, und die untere Hälfte seines Gesichts erschien seltsam verkürzt.
»Dann hindert dich also nichts daran, mir einen Eid zu leisten«, sagte er ruhig. Ich konnte beinahe hören, was in seinem Kopf vorging, seine Gedanken erraten, die sich auf leisen Sohlen heranpirschten. Wenn Jamie nicht Charles, sondern ihm den Treueid schwor, würde Lovats Macht beträchtlich wachsen. Und sein Reichtum, denn als Clanoberhaupt konnte er einen Teil der Erträge von Lallybroch einfordern. Die Aussicht auf einen Herzogtitel rückte damit verlockend näher.
»Nichts außer meinem Willen«, nickte Jamie freundlich. »Aber der stellt durchaus ein kleines Hindernis dar, würde ich sagen.«
»Mmmpf.« Lovats Augen waren jetzt fast geschlossen, und bedächtig schüttelte er den Kopf. »Oh, aye, mein Junge, du bist wirklich der Sohn deines Vaters. Stur wie ein Klotz und doppelt so dumm. Ich hätte wissen müssen, daß Brian mit dieser Hure nichts als Narren zustande bringt.«
Jamie griff nach den falschen Zähnen.
»Die tust du lieber wieder rein, du alter Narr«, meinte er grob. »Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst.«
Der Mund seines Großvaters verzog sich zu einem lustlosen Grinsen, das einen einsamen gelben Zahnstumpf in seinem Unterkiefer entblößte.
»Nein?« sagte er. »Wie wäre es mit einem Handel?« Er warf mir einen Blick zu, und mir war klar, daß er mich lediglich als weitere Figur in seinem Spiel betrachtete. »Dein Eid gegen die Ehre deiner Frau, wie wäre das?«
Jamie lachte laut auf, das Gebiß immer noch in der Hand.
»Oh, aye? Beabsichtigst du, ihr vor meinen Augen Gewalt anzutun, Großvater?« Er lehnte sich verächtlich zurück. »Dann mal los, und wenn Claire dich fertiggemacht hat, dann hole ich Tante Frances, damit sie die Scherben aufsammelt.«
Der Alte sah Jamie gelassen an. »Nicht ich, mein Junge.« Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen, als er mich ansah. »Obwohl ich schon Schlechtere gehabt habe.« Der bösartige Ausdruck in seinen dunklen Augen ließ mich frösteln.
»Wie viele Männer gibt es in Beaufort, Jamie? Wie viele, die bereit sind, mit deiner sassenach-Dirne das einzige zu tun, wozu sie taugt? Du kannst sie nicht Tag und Nacht bewachen.«
Jamie straffte die Schultern, und sein Schatten an der Wand schwankte leicht. Er sah seinen Großvater ausdruckslos an.
»Oh, ich glaube, darum muß ich mir keine Sorgen machen, Großvater«, sagte er leise. »Denn meine Frau ist eine besondere Frau. Eine Wahrsagerin, weißt du. Eine Weiße Frau, wie die Dame Aliset.«
Ich hatte noch nie etwas von der Dame Aliset gehört, Lord Lovat scheinbar schon; er warf den Kopf herum und starrte mich mit entsetzt aufgerissenen Augen an. Bevor er etwas sagen konnte, fuhr Jamie fort, in gemessener Rede, jedoch mit einem boshaften Unterton.
»Wer sie in unehrenhafter Umarmung umfängt, dem vertrocknen die Geschlechtsteile wie vom Frost befallene Äpfel«, sagte er genüßlich, »und seine Seele wird auf ewig in der Hölle schmoren.« Er entblößte seine Zähne und holte aus. »Und zwar so.« Das Buchenholzgebiß landete mit einem Knall im Kamin und fing sofort Feuer.
Die Geliehene Zeit
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