12
L’Hôpital des Anges
»Na schön«, meinte Jamie beim Frühstück und richtete drohend seinen Löffel auf mich. »Dann geh meinetwegen. Aber du nimmst Murtagh zum Geleit mit, und einen Lakaien; die Gegend um die Kathedrale ist ziemlich ärmlich.«
»Geleit?« Kerzengerade saß ich da und schob die Schüssel Haferbrei weg, die ich lustlos beäugt hatte. »Jamie! Heißt das, es macht dir nichts aus, daß ich das Hôpital des Anges besuche?«
»Ob es genau das heißt, weiß ich nicht«, antwortete er, während er geschäftig seinen Haferbrei in sich hineinlöffelte. »Aber wahrscheinlich würde es mir mehr ausmachen, wenn du nicht hingehen würdest. Und wenn du im Hôpital arbeitest, gibst du dich zumindest nicht ständig mit Louise de Rohan ab. Ich fürchte, es gibt Schlimmeres als den Umgang mit Bettlern und Verbrechern«, sagte er düster. »Jedenfalls rechne ich nicht damit, daß du mit ausgezupften Schamhaaren aus dem Spital heimkommst.«
»Ich werde es zu vermeiden versuchen«, versicherte ich ihm.
 
Ich hatte eine Menge guter Oberschwestern kennengelernt; für die Besten unter ihnen war die Arbeit zu einer echten Berufung geworden. Bei Mutter Hildegarde war dieser Vorgang genau umgekehrt verlaufen, und zwar mit beeindruckendem Ergebnis.
Für eine Institution wie das Höpital des Anges war Hildegarde de Gascogne die beste Lehrerin, die man sich denken konnte. Gehüllt in ein langes, schwarzes Wollgewand, wachte die fast einsachtzig große, hagere Frau über ihre Pflegerinnen wie eine finstere Vogelscheuche über ein Kürbisfeld. Ihre imposante Erscheinung ließ Pförtner, Patienten, Schwestern, Pfleger, Novizinnen, Besucher und Apotheker durcheinanderschwirren, um sich nach Hildegardes Gutdünken zu ordentlichen Grüppchen zusammenzufinden.
Bei dieser Größe und einem Gesicht von solcher Häßlichkeit, daß es auf groteske Weise schon wieder schön wirkte, war es nicht verwunderlich, daß sie sich dem religiösen Leben verschrieben hatte - Christus war wohl der einzige Mann, der sie je erwählen würde.
Ihre tiefe, volltönende Stimme mit dem nasalen Gascogner Akzent hallte durch die Spitalflure wie das Echo der Kirchenglocken von nebenan. Ich konnte sie schon hören, bevor ich sie sah; die kräftige Stimme nahm an Lautstärke zu, als sie auf das Schreibzimmer zustrebte, wo sechs Hofdamen und ich uns hinter Herrn Gerstmann zusammenscharten wie Inselbewohner, die hinter einem dürftigen Schutzwall vor einem hereinbrechenden Wirbelsturm Zuflucht suchten.
Mit wehenden Fledermausärmeln erschien sie in der schmalen Tür, dann stürzte sie sich mit einem entzückten Aufschrei auf Herrn Gerstmann und drückte ihm schmatzende Küsse auf beide Wangen.
»Mon cher ami! Welch unverhofftes Vergnügen - und deshalb um so erfreulicher. Was führt Sie zu mir?«
Während Herr Gerstmann unsere Mission erläuterte, bedachte sie uns andere mit einem breiten Lächeln. Doch auch einem schlechteren Beobachter als mir wäre aufgefallen, daß ihr Lächeln zusehends verkrampfter wirkte.
»Wir wissen Ihre hochherzige Gesinnung und Ihren Edelmut zu schätzen, mesdames.« Die tiefe, glockenartige Stimme fuhr mit ihrer schönen Dankesrede fort. Unterdessen blickte sie mit ihren klugen, tiefliegenden Augen von einer zur anderen und überlegte, wie sie die Störenfriede möglichst rasch loswerden konnte - allerdings erst, nachdem sie die frommen Damen zu einer Geldspende zum Wohle ihres Seelenheils animiert hatte.
Als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, klatschte sie kurz in die Hände. Wie ein Schachtelteufelchen tauchte eine kleine Nonne an der Tür auf.
»Schwester Angelique, seien Sie so gut und bringen Sie die Damen zur Hausapotheke«, befahl Mutter Hildegarde. »Geben Sie ihnen passende Kleidung, dann führen Sie sie durch die Krankensäle. Sie können bei der Essensausgabe helfen - wenn sie es wünschen.« Wie ein leichtes Zucken um ihre dünnen Lippen verriet, ging sie davon aus, daß die frommen Absichten der Damen den Rundgang durch die Krankensäle nicht überleben würden.
Mutter Hildegarde war eine gute Menschenkennerin. Drei der Damen verabschiedeten sich bereits nach dem ersten Saal; unter dem Eindruck von Skrofulose, Krätze, Ekzemen, Ausfluß und stinkender Pyämie gelangten sie zu der Überzeugung, daß ihrer mildtätigen Gesinnung mit einer finanziellen Zuwendung an das Spital vollauf Genüge getan wäre. Fluchtartig kehrten sie in die Apotheke zurück und entledigten sich der groben Sackleinengewänder, mit denen man uns ausgestattet hatte.
Mitten im nächsten Saal führte ein großer, schlaksiger Mann in einem dunklen Gehrock eine Beinamputation durch - was besonderes Geschick erforderte, da der Patient offensichtlich nicht betäubt war. Zwei stämmige Pfleger hielten ihn fest, und auf seiner Brust saß eine kräftige Nonne.
Eine der Damen hinter mir gab einen würgenden Laut von sich; als ich mich umdrehte, sah ich nur noch die wallenden Gewänder zweier Möchtegern-Samariterinnen, die sich gleichzeitig durch die enge Tür in den Flur zu zwängen versuchten. Nach einem verzweifelten Zerren kamen sie endlich frei und flohen Hals über Kopf in Richtung Apotheke und Freiheit. Dabei rannten sie beinahe einen Pfleger um, der ein Tablett mit Leintüchern und Operationsinstrumenten trug.
Amüsiert bemerkte ich, daß Mary Hawkins noch immer neben mir stand. Ihr Gesicht war etwas weißer als die Operationstücher - die, um ehrlich zu sein, eher schäbig grau waren. Aber immerhin war sie noch da.
»Vite! Dépêchez-vous!« rief der Wundarzt gebieterisch und meinte damit wohl den gestrauchelten Pfleger, der hastig sein Tablett aufnahm und im Laufschritt zu dem großen, dunklen Arzt eilte. Dieser wartete mit der Knochensäge in der Hand, um mit der Abtrennung eines bloßliegenden Oberschenkelknochens zu beginnen. Als der Pfleger eine zweite Aderpresse angelegt hatte und die Säge mit einem unbeschreiblich gräßlichen Geräusch in den Knochen fuhr, erbarmte ich mich meiner Begleiterin. Ich nahm Mary Hawkins’ zitternden Arm und drehte sie weg. Ihre pfingstrosenfarbenen Lippen waren bleich wie eine erfrorene Blume.
»Möchten Sie gehen?« fragte ich höflich. »Mutter Hildegarde ruft Ihnen bestimmt eine Kutsche.« Nach einem flüchtigen Blick auf den dunklen, menschenleeren Flur fügte ich hinzu: »Ich fürchte, die Comtesse und Madame Lambert sind bereits fort.«
Mary schluckte hörbar, reckte jedoch entschlossen das Kinn vor.
»N-nein«, sagte sie. »Wenn Sie bleiben, bleibe ich auch.«
Ich wollte auf jeden Fall bleiben. Meine Neugier und das Interesse an den Behandlungsmethoden im Höpital des Anges waren stärker als mein Mitgefühl für Mary.
Schwester Angelique, die schon weitergegangen war, ohne unsere Abwesenheit zu bemerken, kam zurück. Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen wartete sie geduldig, als rechnete sie damit, daß auch wir davonlaufen würden. Ich beugte mich über eine Pritsche in der Ecke, wo eine sehr magere Frau unter einer dünnen Decke lag und mit trübem, mattem Blick an die Decke starrte. Es war weniger die Frau, die mein Interesse geweckt hatte, als das merkwürdig geformte Glasgefäß neben ihr auf dem Boden.
Das Gefäß war randvoll mit Urin. Das überraschte mich ein wenig. Was konnte man schon ohne chemische Untersuchungen oder zumindest Lackmuspapier mit einer Urinprobe anfangen? Doch als ich überlegte, auf welche Krankheiten man Urin untersuchte, kam mir eine Idee.
Ungeachtet Schwester Angeliques Protestes, nahm ich behutsam das Gefäß und roch daran. Unverkennbar: Überlagert von dem saueren Ammoniak hatte die Flüssigkeit einen unangenehm süßlichen Geruch - so ähnlich wie gesäuerter Honig. Ich zögerte, doch es gab nur eine Methode, um sicherzugehen. Mit leichtem Ekel steckte ich die Fingerspitze in das Glas und leckte vorsichtig daran.
Mary starrte mich mit hervorquellenden Augen an und würgte, doch Schwester Angelique beobachtete mich interessiert. Ich befühlte die Stirn der Frau - kein Fieber, das die Auszehrung erklären könnte.
»Sind Sie sehr durstig, Madame?« fragte ich die Patientin. Allerdings kannte ich die Antwort schon, als ich die leere Karaffe neben ihrem Bett sah.
»Ja, ständig«, antwortete sie. »Und ich habe auch immer Hunger. Aber soviel ich auch esse, ich bekomme kein Fleisch auf die Rippen.« Sie hob einen spindeldürren Arm hoch, dann ließ sie ihn fallen, als hätte sie sich überanstrengt.
Ich tätschelte ihre knochige Hand und murmelte ein paar Abschiedsworte. Die Freude über meine richtige Diagnose wurde erheblich gedämpft durch den Umstand, daß es in dieser Zeit keine Heilung für Diabetes mellitus gab; die Frau war todgeweiht.
Bekümmert erhob ich mich und folgte Schwester Angelique, die ihren raschen Schritt verlangsamte, um neben mir zu gehen.
»Können Sie denn feststellen, was ihr fehlt, Madame?« fragte die Nonne neugierig. »Allein am Urin?«
»Nicht nur daran«, erwiderte ich. »Aber ich weiß, was sie hat. Sie ist...« Verdammt. Wie hätte man das in dieser Zeit genannt? »Sie ist... zuckerkrank. Sie kann die Nahrung, die sie zu sich nimmt, nicht verwerten, und trinkt ungeheuer viel. Folglich scheidet sie auch große Mengen Urin aus.«
Schwester Angelique nickte, und auf ihrem rundlichen Gesicht lag ein Ausdruck gespannter Neugierde.
»Und meinen Sie, daß sie wieder gesund wird, Madame?«
»Nein«, antwortete ich ohne Umschweife. »Die Krankheit ist schon ziemlich weit fortgeschritten; sie wird den Monat wohl nicht überleben.«
»Ah.« Sie musterte mich mit respektvoll hochgezogenen Augenbrauen. »Dasselbe hat auch Monsieur Parnelle gesagt.«
»Und was ist das für einer?« fragte ich schnoddrig.
Verblüfft runzelte die dickliche Nonne die Stirn. »Nun, ich glaube, beruflich stellt er Bruchbänder her und ist Juwelier. Aber hier bei uns arbeitet er als Harnbeschauer.«
Jetzt war ich selbst verblüfft. »Ein Harnbeschauer?« fragte ich ungläubig. »So etwas gibt es wirklich?«
»Oui, Madame. Und er hat über die arme magere Dame dasselbe wie Sie gesagt. Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die in der Wissenschaft der Harnuntersuchung bewandert ist.«
Schwester Angelique starrte mich mit unverhohlener Bewunderung an.
»Tja, Schwester, es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt«, meinte ich gnädig. Doch als sie mit ernster Miene nickte, schämte ich mich meiner Spöttelei.
»Da haben Sie recht, Madame. Wollen Sie sich vielleicht den Herrn im hinteren Bett ansehen? Wir vermuten, daß er leberkrank ist.«
So wanderten wir von einem Bett zum anderen, bis wir den Rundgang durch den riesigen Saal hinter uns gebracht hatten. Ich sah Krankheiten, die ich nur aus medizinischen Handbüchern kannte, und traumatische Verletzungen aller Art, von Kopfwunden, die von einer Wirtshausschlägerei herrührten, bis zu einem Fuhrmann, dem ein rollendes Weinfaß den Brustkorb eingedrückt hatte.
An manchen Betten verweilte ich und befragte diejenigen Patienten, die zu einer Antwort fähig schienen. Ich hörte, wie Mary hinter mir durch den Mund atmete, vergewisserte mich aber nicht, ob sie sich tatsächlich die Nase zuhielt.
Am Ende des Rundgangs sah mich Schwester Angelique mit einem ironischen Lächeln an.
»Nun, Madame? Wollen Sie immer noch dem Herrn dienen, indem Sie seinen bedauernswerten Geschöpfen helfen?«
Ich krempelte bereits die Ärmel hoch.
»Bringen Sie mir eine Schüssel heißes Wasser, Schwester«, antwortete ich, »und Seife.«
 
»Wie war’s, Sassenach?« fragte Jamie, als er mich auf der Chaiselongue liegend vorfand.
»Entsetzlich!« erwiderte ich mit einem strahlenden Lächeln.
Er zog eine Augenbraue hoch, dann lächelte er zu mir herab.
»Dann hat es dir also Spaß gemacht, ja?«
»Ach, Jamie, es ist so wunderbar, endlich wieder zu etwas nütze zu sein! Ich habe Böden gewischt, Patienten mit Haferschleim gefüttert, und als Schwester Angelique nicht hersah, konnte ich ein paar Leuten frische Sachen anziehen und ein Geschwür öffnen.«
»Schön«, meinte er. »Hast du inmitten all dieses Vergnügens wenigstens daran gedacht, etwas zu essen?«
»Äh... nein, habe ich nicht«, gestand ich. »Andererseits habe ich aber auch meine Übelkeit vergessen.« Wie zur Erinnerung an mein Versäumnis begann sich mein Magen plötzlich zusammenzukrampfen. Ich preßte die Hand unter den Brustkorb. »Vielleicht sollte ich einen Happen zu mir nehmen.«
»Ja, das solltest du vielleicht«, pflichtete er mir etwas vorwurfsvoll bei und griff nach der Glocke.
Unter seinem gestrengen Blick vertilgte ich brav Fleischpasteten und Käse, während ich überschwenglich und in allen Einzelheiten das Hôpital des Anges und seine Patienten schilderte.
»In manchen Krankensälen geht es sehr eng zu - zwei, drei Leute in einem Bett, es ist schrecklich, aber... willst du nichts davon?« unterbrach ich mich. »Es ist sehr gut.«
Er betrachtete das Kuchenstück, das ich ihm hinhielt.
»Doch, wenn du warten kannst, bis der Bissen im Magen angekommen ist, bevor du wieder von brandigen Zehennägeln erzählst...«
Erst jetzt bemerkte ich seine leichte Blässe und die zusammengekniffenen Nasenflügel. Ich schenkte ihm einen Becher Wein ein, ehe ich mich wieder meinem Teller widmete.
»Und wie war dein Tag, Schatz?« erkundigte ich mich höflich.
 
Das Hôpital des Anges wurde ein Zufluchtsort für mich. Die offene, ungekünstelte Art der Nonnen und Patienten stand in einem erfrischenden Gegensatz zu der ständig brodelnden Gerüchteküche der Höflinge. Außerdem war ich überzeugt, daß sich mein Gesicht in kürzester Zeit in eine hohle, affektierte Maske verwandeln würde, wenn ich nicht wenigstens im Spital Gelegenheit gehabt hätte, normal und unverkrampft dreinzuschauen.
Da ich sachverständig wirkte und nichts verlangte außer etwas Verbandsstoff und Leintücher, wurde ich von den Nonnen bald akzeptiert. Und auch von den Patienten, nachdem sie ihren ersten Schrecken über meinen Akzent und meinen Namen überwunden hatten. Gesellschaftliche Vorurteile sind nicht zu unterschätzen, werden aber rasch abgelegt, wenn ein dringender Bedarf an Fachkräften herrscht.
Die geschäftige Mutter Hildegarde ließ sich etwas mehr Zeit, bis sie sich ein Bild von mir gemacht hatte. Anfangs redete sie gar nicht mit mir, abgesehen von einem »Bonjour, Madame« im Vorübergehen. Doch ich spürte oft, wie sich ihr stechender Blick in meinen Rücken bohrte, wenn ich mich beispielswiese über einen Mann mit Gürtelrose beugte oder einem Kind, das bei einem der zahlreichen Hausbrände in den ärmeren Stadtvierteln Verbrennungen erlitten hatte, Aloesalbe auf die Blasen auftrug.
Mutter Hildegarde schien zwar nie in Eile zu sein, legte aber jeden Tag eine beachtliche Strecke zurück. Mit Schritten von beinahe einem Meter Länge bewegte sie sich über die glatten grauen Fliesen der Krankensäle, gefolgt von ihrem kleinen weißen Hund Bouton, der bei diesem Tempo kaum mithalten konnte.
Mit den flauschigen Schoßhündchen, die bei den Hofdamen so beliebt waren, hatte Bouton nichts gemein. Er erinnerte entfernt an eine Mischung aus einem Pudel und einem Dackel, hatte rauhes, krauses Fell und kurze, krumme Beine. Seine Pfoten mit den schwarzen Nägeln klickten auf dem Steinboden, wenn er hinter Mutter Hildegarde hertrottete und mit seiner spitzen Schnauze beinahe die Enden ihres langen schwarzen Habits berührte.
»Ist das ein Hund?« hatte ich erstaunt einen Pfleger gefragt, als ich Bouton das erstemal sah.
Der Mann, der gerade den Boden wischte, hielt inne und sah dem Ringelschwanz hinterher, der soeben in einem Krankensaal verschwand.
»Nun«, meinte er zweifelnd, »wenn Mutter Hildegarde sagt, es ist ein Hund, möchte ich nichts Gegenteiliges behaupten.«
Als ich mich mit den Nonnen, Pflegern und Ärzten des Spitals etwas angefreundet hatte, bekam ich eine Vielzahl anderer Meinungen über Bouton zu hören, die von Toleranz bis zu Aberglauben reichten. Niemand wußte genau, wie Mutter Hildegarde zu dem Tier gekommen war. Es gehörte schon seit einigen Jahren zum festen Personal des Spitals und stand in der Hierarchie deutlich über den Krankenschwestern und auf gleicher Stufe wie die meisten Ärzte und Apotheker - zumindest nach Mutter Hildegardes Ansicht, die ausschlaggebend war.
Manche Ärzte reagierten auf Bouton mit mißtrauischer Abneigung, andere mit jovialer Freundlichkeit. Ein Wundarzt pflegte ihn als »widerliche Ratte« zu bezeichnen, sobald Mutter Hildegard außer Hörweite war. Ein anderer nannte ihn einen »stinkenden Hasen«, und ein kleiner, rundlicher Bruchbandhersteller begrüßte ihn ganz unverhohlen als »Monsieur Spüllappen«. Für die Nonnen war er so etwas wie ein Maskottchen. Der Priester von der Kathedrale nebenan, der den Patienten die Sakramente erteilte und von Bouton einmal gebissen worden war, vertraute mir an, das Tier sei ein Dämon in Hundegestalt.
Obwohl das Urteil des Priesters wenig schmeichelhaft war, schien es mir doch der Wahrheit am nächsten zu kommen. Denn nachdem ich die beiden ein paar Wochen lang beobachter hatte, gelangte ich zu der Überzeugung, daß Bouton tatsächlich Mutter Hildegardes Hausgeist war.
Sie redete oft mit ihm, und zwar nicht in der Art und Weise, wie man gewöhnlich mit Hunden spricht, sondern als würde sie eine wichtige Angelegenheit mit einer ebenbürtigen Person besprechen. Wenn sie an diesem oder jenem Bett verweilte, sprang Bouton oft auf die Matratze und beschnüffelte den erstaunten Patienten. Dann setzte er sich - meist auf die Beine des Kranken -, bellte einmal und wedelte mit dem Schwanz. Dabei sah er Mutter Hildegarde auffordernd an, als wollte er ihre Meinung zu seiner Diagnose hören - die sie ihm auch prompt sagte.
Obwohl ich begierig war, das ungleiche Paar einmal aus nächster Nähe bei der Arbeit zu beobachten, ergab sich erst an einem düsteren, verregneten Vormittag im März die Gelegenheit dazu. Ich stand am Bett eines Fuhrmanns mittleren Alters und unterhielt mich beiläufig mit ihm, während ich mir den Kopf zerbrach, was mit ihm nicht stimmte.
Man hatte ihn vorige Woche hergebracht. Er war mit dem Unterschenkel in die Speichen seines Wagens geraten, als er abstieg, bevor das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war. Der Bruch war kompliziert, aber nicht bedenklich. Ich hatte den Knochen eingerichtet, und die Wunde schien schön zu verheilen. Das Gewebe hatte eine gesunde rosa Färbung und eine gute Granulation; es roch nicht unangenehm, wies keine verräterischen roten Streifen auf und war nicht sonderlich empfindlich. Es war mir ein Rätsel, warum dieser Mann immer noch vor Fieber glühte und einen dunklen, übelriechenden Urin ausschied, der auf eine verschleppte Infektion hinwies.
»Bonjour, Madame«, hörte ich hinter mir eine tiefe, kräftige Stimme und blickte zu Mutter Hildegarde hoch. Im selben Moment sprang Bouton mit einem Plumps auf die Matratze, so daß der Patient aufstöhnte.
»Was meinen Sie?« sagte Mutter Hildegarde. Ich erläuterte ihr meine Beobachtungen.
»Also gibt es wohl einen zweiten Infektionsherd«, schloß ich. »Aber ich finde ihn nicht. Ich frage mich, ob er vielleicht eine innere Entzündung hat, die nichts mit dem verletzten Bein zu tun hat. Vielleicht eine Blinddarmreizung oder eine Blasenentzündung, aber ich kann auch keine erhöhte Druckempfindlichkeit des Unterleibs feststellen.«
Mutter Hildegarde nickte. »Das wäre jedenfalls möglich. Bouton!« Der Hund schaute mit schräggelegtem Kopf zu seinem Frauchen auf, das eine Kinnbewegung in Richtung Patient machte. »A la bouche, Bouton«, befahl sie. Trippelnd näherte sich der Hund dem Gesicht des Mannes und stupste es mit seiner schwarzen Knopfnase - der er vermutlich seinen Namen verdankte - an. Der Mann riß entsetzt die fiebrigen Augen auf, doch die dräuende Gestalt von Mutter Hildegarde verbot jede Widerrede.
»Mund auf!« ordnete die befehlsgewohnte Stimme an, und der Mann gehorchte, wenngleich seine Lippen angesichts der unangenehmen Nähe des Hundes zitterten. Offenkundig stand ihm der Sinn nicht nach Hundeküssen.
»Nein.« Mutter Hildegarde beobachtete Bouton nachdenklich. »Das ist es nicht. Schau woanders, Bouton, aber vorsichtig. Denk daran, der Mann hat ein gebrochenes Bein.«
Als hätte der Hund tatsächlich jedes Wort verstanden, begann er neugierig an dem Patienten herumzuschnüffeln, steckte die Nase in die Achselhöhlen, dann stellte er sich auf die Brust und forschte dort weiter, ehe er sich der Leistenbeuge zuwandte. Als er zu dem verletzten Bein gelangte, stieg er vorsichtig darüber hinweg und schnupperte an der verbundenen Stelle.
Schließlich kehrte er zur Leistengegend zurück - na klar, dachte ich ungeduldig, er ist schließlich ein Hund - und stupste mit der Nase an den Oberschenkelansatz. Nach einem kurzen Bellen setzte er sich und wedelte triumphierend mit dem Schwanz.
»Das ist es«, sagte Mutter Hildegarde und deutete auf einen kleinen braunen Schorf knapp unterhalb der Leistenbeuge.
»Aber das ist doch schon fast verheilt«, wandte ich ein. »Es ist nicht entzündet.«
»Nein?« Die große Nonne legte eine Hand auf die Stelle und drückte kräftig darauf - der Fuhrmann brüllte wie am Spieß.
»Aha«, meinte sie zufrieden, als sie die tiefen Abdrücke ihrer Finger betrachtete. »Ein Fäulnisherd.«
Tatsächlich. Der Schorf hatte sich an einer Stelle gelöst, und darunter trat dicker, gelber Eiter hervor. Eine nähere Untersuchung - bei der Mutter Hildegarde den Mann festhalten mußte - löste das Rätsel. Als das Wagenrad zerbrochen war, hatte sich ein langer Holzsplitter tief in den Oberschenkel des Mannes gebohrt. Die Eintrittswunde sah so harmlos aus, daß niemand den Splitter bemerkt hatte, auch nicht der Patient, dem ohnehin das ganze Bein wehtat. Während die Wunde oberflächlich verheilt war, hatte sich in dem Muskelgewebe darunter ein Eiterherd gebildet, der äußerlich nicht zu erkennen war - zumindest nicht mit menschlichen Sinnen.
Nachdem ich die Eintrittsstelle etwas aufgeschnitten hatte, förderte ich mit einer langen Pinzette einen acht Zentimeter langen, von Blut und Eiter überzogenen Holzsplitter zutage.
»Nicht schlecht, Bouton.« Ich nickte ihm respektvoll zu. Er hechelte glücklich und schnupperte in meine Richtung.
»Ja, sie ist recht gut«, sagte Mutter Hildegarde, und da Bouton ein Männchen war, bestand kein Zweifel, wen sie meinte. Bouton leckte meine Finger zum Zeichen kollegialer Anerkennung. Ich unterdrückte das Bedürfnis, mir die Hand an meinem Gewand abzuwischen.
»Erstaunlich«, sagte ich und meinte es auch so.
»Ja«, erwiderte Mutter Hildegarde beiläufig, aber mit unüberhörbarem Stolz. »Er ist auch sehr gut beim Aufspüren von Geschwülsten unter der Haut. Zwar weiß ich oft nicht, was er am Atem oder am Geruch des Urins feststellt, aber er hat eine unmißverständliche Art zu bellen, wenn eine Verdauungstörung vorliegt.«
Unter den gegebenen Umständen sah ich keinen Grund, dies in Zweifel zu ziehen. Ich verbeugte mich vor Bouton, dann griff ich zu einem Fläschchen pulverisierten Johanniskrauts, mit dem ich die Entzündung behandelte.
»Ich freue mich über deine Hilfe, Bouton. Du kannst jederzeit wieder mit mir zusammenarbeiten.«
»Das ist sehr vernünftig von Ihnen«, Mutter Hildegarde lächelte und entblößte ihre kräftigen Zähne. »Viele der Ärzte und chirurgiens, die hier arbeiten, sind weniger geneigt, sich seine Fähigkeiten zunutze zu machen.«
»Äh, ja...« Ich wollte niemanden in Verruf bringen, doch mein flüchtiger Blick zu Monsieur Voleru am anderen Ende des Saales war vielsagend.
Mutter Hildegarde lachte. »Nun, wir nehmen, wen Gott uns schickt, obwohl ich mich manchmal frage, ob er sie nicht nur deswegen zu uns schickt, damit sie anderswo kein Unheil anrichten können. Immerhin sind die meisten unserer Ärzte besser als nichts - wenn auch nicht viel. Sie jedoch, Madame«, abermals blitzte ihr Pferdegebiß auf, »sind erheblich besser als nichts.«
»Danke.«
»Aber es wundert mich», fuhr Mutter Hildegarde fort, während sie mir beim Verbinden zusah, »warum ich sie nur bei Patienten mit Verletzungen und Brüchen sehe. Diejenigen, die Ausschlag, Husten oder Fieber haben, meiden Sie, obwohl sich doch üblicherweise les maîtresses mehr mit diesen Fällen befassen. Ich glaube, ich habe noch nie einen weiblichen chiruigien gesehen.« Les maîtresses waren die nicht amtlich zugelassenen Heilerinnen, die meist aus der Provinz stammten und sich auf Kräuterheilkunde, Umschläge und Amulette verstanden. Mit les maîtresses sage-femmes bezeichnete man die Hebammen, die gewissermaßen die Elite unter den volkstümlichen Heilkundigen darstellten. Manche rangierten im Ansehen höher als die zugelassenen praktischen Ärzte und waren besonders bei Patienten der unteren Gesellschaftsschichten gefragt, denn sie galten nicht nur als fähiger, sondern waren auch wesentlich billiger.
Es erstaunte mich nicht, daß Mutter Hildegarde meine Neigung bemerkt hatte. Ich hatte schon lange erkannt, daß ihr kaum etwas entging, was in ihrem Spital passierte.
»Es liegt nicht an mangelndem Interesse«, versicherte ich ihr. »Ich bin schwanger. Deshalb halte ich mich von ansteckenden Krankheiten fern, um des Kindes willen. Knochenbrüche sind nun mal nicht ansteckend.«
»Manchmal bin ich mir da nicht so sicher«, meinte Mutter Hildegarde mit Blick auf eine Bahre, die gerade hereingetragen wurde. »Diese Woche scheinen sie eine richtige Seuche zu sein. Nein, gehen Sie nicht hin«, hielt sie mich zurück. »Schwester Cecile wird sich darum kümmern. Wenn nötig, wird sie Sie rufen.«
Die kleinen grauen Augen der Nonne taxierten mich neugierig.
»Dann sind Sie also nicht nur eine Dame, sondern auch schwanger, und Ihr Mann läßt Sie trotzdem hierherkommen? Er muß ein ganz außergewöhnlicher Mensch sein.«
»Nun, er ist Schotte«, antwortete ich ausweichend, da ich nicht über die Vorbehalte meines Mannes reden wollte.
»So, so, ein Schotte.« Mutter Hildegarde nickte verständnisvoll.
Das Bett wackelte, als Bouton herabsprang und zur Tür trottete.
»Er riecht einen Fremden«, bemerkte Mutter Hildegarde. »Bouton ist nicht nur den Ärzten, sondern auch dem Pförtner behilflich - und erntet dafür genausowenig Dank, fürchte ich.«
Ein nachdrückliches Bellen und eine hohe, erschrockene Stimme hallten durch den Eingangsflur.
»Oje, es ist wieder Vater Balmain! Dieser Dummkopf, kann er denn nicht stillstehen, bis Bouton ihn beschnüffelt hat?« Mutter Hildegarde war schon im Begriff, ihrem vierbeinigen Freund zu Hilfe zu eilen, dann wandte sie sich noch einmal mit einem aufmunternden Lächeln zur mir um. »Vielleicht schicke ich Ihnen Bouton zur Unterstützung, Madame, während ich Vater Balmain beruhige. Er ist gewiß ein frommer Mensch, aber er weiß die Arbeit eines Künstlers nicht zu schätzen.«
Mit langen, gemessenen Schritten begab sie sich zur Pforte, und nachdem ich noch ein paar Worte mit dem Fuhrmann gewechselt hatte, wandte ich mich Schwester Cecile und ihrem neuesten Fall zu.
 
Als ich nach Hause kam, lag Jamie auf dem Wohnzimmerteppich, und neben ihm saß ein kleiner Junge im Schneidersitz. Jamie hatte ein Fangbecherspiel in der einen Hand, mit der anderen hielt er sich ein Auge zu.
»Klar kann ich das«, sagte er. »Ist doch kinderleicht. Paß auf.«
Mit dem offenen Auge fixierte er den elfenbeinernen Fangbecher, dann gab er ihm einen Stoß. Der an einer Schnur befestigte Ball sprang heraus und flog in hohem Bogen durch die Luft, ehe er, wie von Radar gelenkt, mit einem »Plopp« wieder im Becher landete.
»Siehst du?« sagte er und nahm die Hand vom Auge. Dann setzte er sich auf und reichte dem Jungen das Spielzeug. »Hier, versuch du es mal.« Er grinste mich an, schob eine Hand unter meinen Rock und tätschelte zur Begrüßung meinen Knöchel.
»Na, vergnügst du dich?« fragte ich.
»Noch nicht«, erwiderte er und zwickte mich leicht durch den Seidenstrumpf hindurch. »Ich habe auf dich gewartet, Sassenach.« Die langen, warmen Finger glitten höher und streichelten spielerisch meine Wade, während ein wasserklares, blaues Augenpaar in aller Unschuld zu mir hochblickte. Ein Schmutzstreifen zog sich über seine eine Gesichtshälfte, und auf seinem Hemd und seinem Kilt waren Dreckspritzer.
»Tatsächlich?« meinte ich und versuchte, ihm mein Bein unauffällig zu entwinden. »Dabei hätte ich gedacht, dein kleiner Spielkamerad genügt dir vollauf.«
Der Junge, der unsere auf englisch geführte Unterhaltung nicht verstand, war völlig in das Fangbecherspiel vertieft, das er mit einem geschlossenen Auge zu meistern versuchte. Nach zwei fehlgeschlagenen Anläufen starrte er das Spielzeug wütend an. Dann schloß er das eine Auge wieder, allerdings nicht ganz: Durch einen kleinen Spalt lugte unter dichten, dunklen Wimpern ein aufmerksames Auge.
Jamie schnalzte mißbilligend mit der Zunge, und hastig kniff der Junge das Auge zu.
»Aber, aber, Fergus, wir wollen doch bitte schön nicht schummeln«, sagte er. Der Knabe kannte zwar die Worte nicht, erfaßte aber offenbar ihren Sinn. Sein betretenes Grinsen enthüllte zwei große, makellos weiße Eichhörnchenzähne.
Jamies Hand übte einen unsichtbaren Druck aus, so daß ich näher zu ihm rücken mußte, wenn ich in meinen hochhackigen Saffianschuhen nicht das Gleichgewicht verlieren wollte.
»Ja«, sagte er, »unser Fergus hier ist ein begabter Kerl und ein lustiger Kumpan für müßige Stunden, wenn ein von seiner Frau vernachlässigter Mann Kurzweil in der lasterhaften Stadt sucht«, seine Finger kraulten meine Kniekehlen, was ein wenig kitzelte, »doch er eignet sich nicht für die Art von Vergnügung, die mir vorschwebt.«
»Fergus?« Während ich das Kribbeln am Bein zu ignorieren versuchte, musterte ich das Kind in den abgetragenen, viel zu großen Kleidern. Es mochte neun oder zehn Jahre alt sein, war klein für sein Alter und feingliedrig wie ein Frettchen. Die Gesichtszüge des Knaben waren typisch französisch, und an der blassen, fahlen Haut und den großen, dunklen Augen erkannte man das Pariser Gassenkind.
»Na ja, eigentlich heißt er Claudel, aber wir sind zu dem Schluß gekommen, daß das nicht sehr männlich klingt, deshalb rufen wir ihn jetzt Fergus. Das ist ein passender Kriegername.« Bei der Erwähnung seines Namens sah uns der Junge mit einem schüchternen Lächeln an.
»Das ist Madame«, erklärte Jamie dem Kind und deutete auf mich. »Du kannst sie Herrin nennen. Ich glaube, ›Broch Tuarach< würde er nicht über die Lippen bringen«, wandte er sich an mich,«nicht mal Fräser.«
»Herrin genügt«, erwiderte ich lächelnd und zappelte etwas heftiger mit dem Bein, um Jamies Hand abzuschütteln. »Äh - warum eigentlich, wenn ich fragen darf?«
»Wie - warum? Ach, du meinst Fergus?«
»Du hast es erfaßt.« Ich wußte nicht, wie weit sein Arm noch reichen würde, aber inzwischen war die Hand an meinem Oberschenkel angelangt. »Jamie, nimm sofort deine Hand da weg!«
Doch da hatte er schon mit einer ruckartigen Bewegung das Strumpfband gelöst, so daß der Strumpf bis zum Knöchel hinunterrutschte.
»He!« Ich trat nach ihm, doch er wich lachend aus.
»Scheusal!« fauchte ich und versuchte den Strumpf hochzuziehen, ohne dabei umzufallen. Der Junge warf einen kurzen, desinteressierten Blick in unsere Richtung, dann vertiefte er sich wieder in das Fangballspiel.
»Was den Jungen betrifft«, fuhr Jamie unbekümmert fort, »er steht jetzt in meinen Diensten.«
»Und was soll er tun? Wir haben doch schon einen Küchenjungen, einen Stiefelknecht und einen Stallburschen.«
Jamie nickte. »Das stimmt. Aber wir haben noch keinen Taschendieb. Besser gesagt: wir hatten keinen - bis jetzt.«
Ich atmete tief durch.
»Aha. Vielleicht bin ich ein bißchen begriffsstutzig, aber könntest du mir mal erklären, wozu wir einen Taschendieb brauchen?«
»Zum Briefe stehlen, Sassenach«, erwiderte Jamie gelassen.
»Ach so.« Jetzt ging mir ein Licht auf.
»Aus Seiner Hoheit ist nichts Vernünftiges herauszubekommen; wenn ich bei ihm bin, tut er nichts anderes, als über Louise de La Tour zu seufzen oder mit den Zähnen zu knirschen und zu fluchen, wenn sie sich wieder einmal gestritten haben. Im einen wie im anderen Fall will er sich nur möglichst rasch betrinken. Mar verliert allmählich die Geduld mit ihm, denn er ist entweder hochnäsig oder mürrisch. Und Sheridan hält sich völlig bedeckt.«
Der Graf von Mar war der angesehenste unter den schottischen Jakobiten im Pariser Exil. Der Mann, der nach einer langen, glanzvollen Blütezeit nunmehr in die reiferen Jahre kam, war König James’ bedeutendster Mitstreiter bei dem fehlgeschlagenen Aufstand von 1715 gewesen; nach der Niederlage bei Sheriffsmuir war er seinem König ins Exil gefolgt. Als ich den Grafen kennenlernte, mochte ich ihn auf Anhieb: ein ältlicher, höflicher Mann, aufrecht in seinem Wesen wie auch in seiner Körperhaltung. Nun tat er sein Bestes für den Sohn seines Königs - was ihm anscheinend kaum gedankt wurde. Ich kannte auch Thomas Sheridan, den Hauslehrer Seiner Hoheit; er war ein älterer Herr, der die Korrespondenz Seiner Hoheit erledigte und dessen ungehaltene und unkultivierte Äußerungen in höfliches Französisch und Englisch übertrug.
Ich setzte mich und zog meinen Strumpf wieder hoch. Anscheinend war Fergus an den Anblick von Frauenbeinen gewöhnt, denn er ignorierte mich völlig und konzentrierte sich auf sein Spielzeug.
»Briefe, Sassenach«, fuhr Jamie fort. »Das ist es, was ich brauche. Briefe aus Rom mit dem Siegel der Stuarts, Briefe aus Frankreich, aus England, aus Spanien. Wir können sie uns entweder im Haus des Prinzen besorgen - Fergus kann mich als Page begleiten - oder vielleicht beim päpstlichen Boten, der sie überbringt. Das wäre sogar noch besser, denn dann wüßten wir im voraus Bescheid.«
»Deshalb sind wir übereingekommen«, erklärte Jamie mit einem Blick auf seinen neuen Diener, »daß Fergus mir in dieser Angelegenheit nach besten Kräften hilft. Dafür hat er Kleider, Kost und Logis frei und erhält von mir dreißig Ecus jährlich. Wenn er erwischt wird, versuche ich nach Möglichkeit, ihn freizukaufen. Wenn das nicht geht und er eine Hand oder ein Ohr verliert, komme ich lebenslang für seinen Unterhalt auf, weil er ja dann seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Und wenn er gehängt wird, verspreche ich, ein Jahr lang Messen für ihn lesen zu lassen. Das ist doch anständig, oder?«
Mir lief es eiskalt über den Rücken.
»Herrgott, Jamie«, war alles, was ich herausbringen konnte.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sassenach. Bete nicht zu Gott, sondern zum heiligen Dismas, dem Schutzpatron der Diebe und Verräter.«
Jamie nahm dem Jungen den Fangbecher weg. Eine ruckartige Drehung des Handgelenks ließ den Elfenbeinball in einer perfekten Parabelform aufsteigen, bevor er erwartungsgemäß in den Becher zurückplumpste.
»Ich verstehe«, meinte ich und beobachtete neugierig unseren frischgebackenen Angestellten, während dieser das Spielzeug entgegennahm und einen neuen Versuch wagte. »Woher hast du ihn?« fragte ich.
»Aus einem Bordell.«
»Ach so, natürlich«, entgegnete ich. »Was für eine Frage.« Mein Blick fiel auf den Schmutz an seinen Kleidern. »Und du hattest selbstverständlich einen ganz ausgezeichneten Grund, dort vorbeizuschauen, nehme ich an?«
»Aye.« Er lehnte sich zurück, schlang die Arme um die Knie und sah grinsend zu, wie ich mein Strumpfband in Ordnung brachte. »Ich dachte, es wäre dir lieber, ich würde ein solches établissement aufsuchen, statt mir in einer finsteren Gasse den Schädel einschlagen zu lassen.«
Ich sah, wie der Junge eine Schale mit glasierten Keksen fixierte, die auf einem Tischchen an der Wand stand, und sich die Lippen leckte.
»Ich glaube, dein Schützling ist hungrig«, sagte ich. »Gib ihm doch was zu essen, und dann erzähl mir, was zum Teufel heute nachmittag passiert ist.«
»Nun, ich war unterwegs zum Hafen«, begann er, während er sich erhob, »und gleich hinter der Rue Eglantine spürte ich ein merkwürdiges Prickeln im Nacken.«
Jamie Fraser hatte zwei Jahre in der französischen Armee gedient, war dann mit einer Bande Schotten ohne Clanbindung herumgezogen und war in den Hochmooren und Bergen seines Heimatlandes als Verbrecher gejagt worden. All das hatte seinen sechsten Sinn geschärft.
Er war sich nicht sicher, ob es das Geräusch allzu naher Schritte, ein verräterischer Schatten oder etwas weniger Konkretes war - vielleicht die Witterung eines Unheils, das in der Luft lag. Doch er hatte gelernt, wachsam zu sein, wann immer es unter seinen Nakkenhaaren zu prickeln begann.
Und so wandte er sich an der nächsten Ecke unverzüglich nach links statt nach rechts, schlüpfte am Stand eines Schneckenverkäufers vorbei und zwängte sich zwischen Fässern mit heißem Brei und frischen Kürbissen zu einem kleinen Fleischerladen durch.
An die Mauer neben der Tür gepreßt, spähte er vorsichtig an den aufgehängten Schlachtenten vorbei. Keine Sekunde später betraten zwei Männer die Straße und blickten von einer Seite zur anderen.
Es gab bei jedem Arbeiter und Handwerker in Paris untrügliche Zeichen dafür, welchen Beruf er ausübte, und man brauchte keine besonders feine Nase, um den Meersalzgeruch der beiden Männer wahrzunehmen. Der kleine Ohrring bei dem einen war schon verräterisch genug, doch die dunkelroten bis bräunlichen Gesichter ließen keinen Zweifel, daß es sich um Matrosen handelte.
Da Seeleute beengte Schiffsräume und berstend volle Hafentavernen gewohnt waren, gingen sie selten in einer geraden Linie. Diese beiden schlängelten sich durch die Gasse wie Aale; ihre rastlosen Blicke streiften Bettler, Dienstmädchen, Hausfrauen und Händler - Seewölfe, die nach Beute Ausschau hielten.
»Ich wartete, bis sie weit genug weg waren«, berichtete Jamie, »und wollte gerade in der anderen Richtung davongehen, als ich einen weiteren Mann am Ende der Gasse sah.«
Dieser war unschwer als Spießgeselle der beiden anderen zu erkennen: er hatte ebenso schmierige Locken, ein Fischmesser an der Seite und einen ellenlangen Marlpfriem, der in seinem Gürtel steckte. Reglos stand der kleine, untersetzte Mann zwischen den vorüberdrängenden Menschen in der engen Gasse. Offensichtlich stand er hier Wache, während seine Kameraden sich weiter vorne umsahen.
»So stand ich da und überlegte, was ich tun sollte«, sagte Jamie, während er sich die Nase rieb. »Hier war ich zwar in Sicherheit, aber der Laden hatte keine Hintertür. Sobald ich hinausging, würde ich entdeckt werden.« Versonnen blickte er auf seinen scharlachroten Kilt hinunter. Ein hünenhafter roter Barbar war immer auffällig, auch wenn noch so dichtes Gedränge herrschte.
»Und was hast du dann gemacht?« fragte ich. Fergus war gerade eifrig dabei, sich die Taschen mit Keksen vollzustopfen, und hielt nur inne, um ab und zu einen im Mund verschwinden zu lassen. Jamie folgte meinem Blick.
»Er ist es wohl nicht gewohnt, daß er regelmäßig zu essen bekommt«, meinte er achselzuckend. »Laß ihn nur.«
»Gut«, sagte ich. »Aber erzähl, wie ging es weiter?«
»Ich habe mir eine Wurst gekauft«, erwiderte er prompt.
Eine Dunedin, um genau zu sein - gefüllt mit gewürztem Entenfleisch, Schinken und Wildbret, gekocht und in der Sonne getrocknet. Eine Dunedin-Wurst war einen knappen halben Meter lang und hart wie abgelagertes Eichenholz.
»Ich konnte schlecht mit gezogenem Schwert hinauslaufen«, erläuterte Jamie, »aber ich wollte nicht mit leeren Händen an dem Kerl in der Gasse vorbeigehen.«
Mit der Dunedin in der Hand und einem wachsamen Blick auf die Passanten war Jamie vor die Tür getreten und hatte sich dem Wachposten genähert.
Der Mann schien ihn kaum zu beachten; sein Blick verriet keinerlei böse Absichten. Jamie dachte fast, seine innere Stimme hätte ihn getrogen, doch da bemerkte er ein kurzes Aufflackern im Blick des Mannes. Seinem lebensrettenden Instinkt folgend, sprang Jamie vor, schlug den Kerl zu Boden und landete mit dem Gesicht auf dem dreckigen Straßenpflaster.
Die Leute stoben unter Entsetzensschreien auseinander, und als Jamie aufsprang, sah er das Wurfmesser, das ihn verfehlt hatte und zitternd in den Brettern einer Bude steckte.
»Bis dahin war ich mir nicht völlig sicher, ob sie es tatsächlich auf mich abgesehen hatten, aber jetzt wußte ich Bescheid«, meinte Jamie gelassen.
Die Wurst, die er noch immer umklammerte, hatte sich dann abermals als nützlich erwiesen, als er sie einem Angreifer ins Gesicht schlug.
»Ich glaube, ich habe ihm die Nase gebrochen«, sagte er nachdenklich. »Jedenfalls taumelte er rückwärts, ich schubste ihn zur Seite und rannte die Rue Pelletier hinunter.«
Beim Anblick eines mit wehendem Kilt dahinstürmenden Schotten spritzte die Menge auf der Straße auseinander wie eine Schar aufgescheuchter Gänse. Jamie drehte sich nicht um; an den empörten Rufen der Passanten erkannte er, daß ihm seine Gegner noch immer auf den Fersen waren.
In diesem Stadtviertel patrouillierte die königliche Wache nur selten, und die Menschenmenge auf der Straße bot - abgesehen von dem Hindernis, das sie für die Verfolger darstellte - kaum Schutz. Niemand wollte sich wegen eines Ausländers in eine gewalttätige Auseinandersetzung einmischen.
»Von der Rue Pelletier zweigen keine Gassen ab. Ich brauchte aber zumindest irgendeine Stelle, wo ich das Schwert ziehen konnte und eine Mauer im Rücken hatte«, erklärte Jamie. »Also drückte ich gegen die Türen, an denen ich vorbeikam, bis ich eine fand, die aufging.«
Er stürzte in den düsteren Eingangsflur, vorbei an einem verdutzten Pförtner und stand plötzlich mitten in einem großen, hellerleuchteten und parfümgeschwängerten Raum - im Salon einer gewissen Madame Elise.
»Aha«, meinte ich spröde. »Ich hoffe, du hast dort nicht dein, äh... Schwert gezogen?«
Jamie sah mich böse an, ließ sich aber nicht zu einer direkten Antwort herab.
»Überleg mal, Sassenach«, erwiderte er kühl, »wie man sich vorkommt, wenn man plötzlich mitten in einem Bordell steht und eine riesige Wurst in der Hand hat.«
Das konnte ich mir allerdings sehr lebhaft vorstellen und brach in schallendes Gelächter aus.
»Himmel, ich hätte dich zu gern gesehen!« verkündete ich.
»Zum Glück hast du das nicht!« entgegnete er hitzig. Seine Wangen glühten.
Ohne auf die Äußerungen der faszinierten Damen einzugehen, hatte Jamie sich verschämt einen Weg durch das - wie er es nannte - »Durcheinander von nackten Armen und Beinen« gebahnt, bis er an einer Wand Fergus erblickte, der den Eindringling mit großen Augen anstarrte.
Jamie stürzte sich auf diesen einzigen Geschlechtsgenossen weit und breit, packte ihn an der Schulter und bat ihn inständig, ihm sofort einen Fluchtweg zu zeigen.
»Ich hörte, wie draußen im Flur ein Tumult losbrach«, erzählte er, »und da wußte ich, daß sie noch hinter mir her waren. Ich wollte nicht einen Kampf auf Leben und Tod ausfechten, wenn mir ein Haufen nackter Frauen im Weg stand.«
»Wirklich eine erschütternde Aussicht.« Ich schürzte die Lippen. »Aber offenbar hat er dich herausgebracht.«
»Aye. Er zögerte keinen Augenblick, der gute Junge. ›Da lang, Monsieur!< sagte er. Dann ging’s die Treppe hoch, in ein Zimmer und durchs Fenster aufs Dach, und schon waren wir draußen, alle beide.« Jamie warf einen liebevollen Blick auf seinen neuen Angestellten.
»Weißt du«, bemerkte ich, »es gibt durchaus Frauen, die kein Wort von so einer Geschichte glauben würden.«
Jamie sah mich erstaunt an. »Was? Warum denn nicht?«
»Vielleicht«, erwiderte ich, »weil sie nicht mit dir verheiratet sind. Ich bin froh, daß du nicht vom Pfad der Tugend abgewichen bist, aber im Moment würde mich mehr interessieren, wer die Kerle waren, die dich verfolgt haben.«
»Ich hatte währenddessen nicht viel Zeit, darüber nachzudenken«, entgegnete Jamie. »Und auch jetzt weiß ich nicht, wer sie waren und warum sie mich gejagt haben.«
»Vielleicht Räuber?« Die Bareinnahmen aus dem Weinhandel wurden stets in einer Geldkassette und unter strenger Bewachung vom Lagerhaus der Frasers oder der Rue Tremoulins zu Jareds Bank gebracht. Doch Jamie war eine auffällige Gestalt und zweifellos bekannt als wohlhabender ausländischer Kaufmann - wohlhabend zumindest im Vergleich zu den Bewohnern jenes Viertels.
Während er getrocknete Schmutzkrumen von seinem Hemd schnippte, schüttelte er den Kopf.
»Das wäre möglich. Aber sie haben mich gar nicht erst angesprochen; sie wollten mich schlichtweg ermorden.«
Sein Ton war völlig sachlich, doch mir wurden die Knie weich, und ich mußte mich setzen. Mein Mund schien plötzlich wie ausgedörrt.
»Wer... wer würde...?«
Stirnrunzelnd kratzte er etwas Zuckerglasur vom Teller und steckte den Finger in den Mund, dann zuckte er die Achseln.
»Soweit ich weiß, ist der einzige, der mich bedroht hat, der Comte de St. Germain. Aber ich verstehe nicht, was er davon hat, wenn er mich umbringen läßt.«
»Du hast doch gesagt, er sei Jareds Konkurrent.«
»Aye, das schon. Aber der Comte interessiert sich nicht für deutsche Weine. Warum sollte er sich die Mühe machen, mich umzubringen? Damit würde er lediglich Jareds neues Unternehmen zum Scheitern bringen, weil Jared dann nach Paris zurückkehren müßte. Das scheint mir doch ein bißchen übertrieben«, meinte er trocken, »selbst bei einem so reizbaren Kerl wie dem Comte.«
»Tja, meinst du...« Bei dem Gedanken bekam ich ein flaues Gefühl im Magen, und erst nach zweimaligem Schlucken konnte ich fortfahren: »Meinst du, es könnte... Rache sein? Für den Verlust der Patagonia?«
Jamie schüttelte verwundert den Kopf.
»Das könnte natürlich sein, aber dann hat er sich ziemlich viel Zeit gelassen. Und überhaupt, warum kommt er dann auf mich?« fügte er hinzu. »Er hat sich doch deinetwegen geärgert, Sassenach. Wenn das der Grund wäre, müßte er dich umbringen.«
Das flaue Gefühl wurde noch etwas stärker.
»Mußt du immer so verdammt logisch denken?« keuchte ich.
Als er meinen Gesichtsausdruck sah, lächelte er plötzlich und legte mir tröstend den Arm um die Schulter.
»Nein, mo duinne. Der Comte ist zwar ziemlich jähzornig, aber ich glaube nicht, daß er dich oder mich nur aus Rachegelüsten umbringen lassen will-das wäre ihm zuviel Mühe und vor allem zu teuer. Wenn er dadurch sein Schiff zurückbekommen würde, wäre das etwas anderes. Aber so wird er sich denken, daß ihn die Angelegenheit bereits genug Geld gekostet hat und er nicht auch noch drei gedungene Mörder bezahlen will.«
Er klopfte mir auf die Schulter und erhob sich.
»Nein, ich denke, daß sie mich wahrscheinlich doch nur ausrauben wollten. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Von jetzt an wird Murtagh mich zum Hafen begleiten.«
Er streckte sich und wischte die letzten Schmutzreste von seinem Kilt. »Kann ich mich so an den Eßtisch setzen?« fragte er mit einem kritischen Blick auf seine Kleider. »Jetzt müßte sie bald fertig sein.«
»Wer?«
Als er die Tür öffnete, drang ein herzhaftes Aroma von unten herauf.
»Na, die Wurst natürlich«, antwortete er grinsend. »Denkst du etwa, ich würde sie verkommen lassen?«
Die Geliehene Zeit
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