23
Wer zuletzt lacht...
Am nächsten Morgen hatte die Blutung aufgehört. Ich stand vorsichtig auf, aber alles ging gut. Dennoch lag auf der Hand, daß ich meine Tätigkeit im Hôpital des Anges nun einstellen mußte, und ich schickte Fergus mit einem kurzen erklärenden Brief zu Mutter Hildegarde. Als er wiederkam, brachte er neben ihren Segenswünschen und Grüßen ein bräunliches Elixier mit, das sich - dem beiliegenden Briefchen zufolge - bei den maitresses sage-femme höchster Wertschätzung erfreute, da es Fehlgeburten verhinderte. Nach der Erfahrung mit Monsieur Forez’ Salbe war ich nicht geneigt, irgendwelche Heilmittel zu nehmen, die ich nicht selbst zubereitet hatte, aber durch vorsichtiges Schnuppern überzeugte ich mich, daß zumindest die Zutaten rein botanischen Ursprungs waren.
Zögernd versuchte ich einen Teelöffel voll. Die Medizin war bitter und hinterließ einen üblen Nachgeschmack, aber allein dadurch, daß ich etwas tat - auch wenn es höchstwahrscheinlich nichts half -, ging es mir besser. Den Großteil des Tages verbrachte ich nun auf der Chaiselongue, wo ich las, döste, nähte oder einfach Löcher in die Luft starrte.
Das heißt, solange ich allein war. Wenn Jamie daheim war, verbrachte er die meiste Zeit mit mir, und wir besprachen die Tagesgeschäfte oder die neuesten Briefe der Jakobiten. König James hatte offenbar von der beabsichtigten Investition seines Sohnes gehört und begrüßte sie als »...sehr vernünftigen Plan, der, wie ich glaube, Beträchtliches dazu beitragen wird, Dich in dem Dir zukommenden Stil zu versorgen«.
»Offenbar denkt James, das Geld sei nur dazu bestimmt, Charles das Leben eines Edelmanns von Rang zu ermöglichen«, bemerkte ich. »Glaubst du, er hat nur das im Sinn? Heute nachmittag war Louise hier. Sie sagt, Charles sei letzte Woche bei ihr gewesen - habe darauf bestanden, sie zu sehen, obwohl sie ihn zunächst nicht empfangen wollte. Sie sagt, er sei wegen irgend etwas sehr erregt gewesen. Er wollte ihr aber nicht sagen, weswegen, sondern machte nur mysteriöse Andeutungen über etwas Großartiges, das er in Angriff nehmen wolle. Von einem ›großen Abenteuer‹ hat er gesprochen. Das klingt nicht nur nach einer Investition in Portwein, oder?«
»Keineswegs.« Jamies Gesicht verdüsterte sich bei dem Gedanken.
»Hm«, sagte ich. »Alles in allem möchte ich wetten, daß Charles nicht vorhat, sich mit dem Gewinn aus seiner Unternehmung als ehrlicher Pariser Kaufmann niederzulassen.«
»Wenn ich eine Spielernatur wäre, würde ich meinen letzten Penny darauf verwetten«, meinte Jamie. »Doch jetzt stellt sich die Frage, wie halten wir ihn auf?«
 
Die Antwort kam ein paar Tage später nach ausgiebigen Diskussionen und zahlreichen nutzlosen Vorschlägen. Murtagh war bei uns im Schlafzimmer, er hatte mir von den Docks mehrere Ballen Stoff mitgebracht.
»Es heißt, daß in Portugal die Pocken ausgebrochen sind«, bemerkte er und ließ den teuren Seidenmoire auf das Bett plumpsen. »Heute früh ist ein Schiff mit Eisen aus Lissabon eingetroffen, und der Hafenmeister hat es mit dem Staubkamm untersucht, er und seine drei Helfer. Haben aber nichts gefunden.« Als er die Weinbrandflasche auf dem Tisch erspähte, schenkte er sich einen Becher halbvoll, und goß es wie Wasser hinunter. Mit offenem Mund beobachtete ich das Schauspiel, bis ich Jamies Ausruf hörte.
»Pocken?«
»Aye«, sagte Murtagh zwischen zwei Schlucken.
»Blattern.« Dann wandte er sich wieder seiner Erfrischung zu.
»Pocken«, murmelte Jamie vor sich hin. »Pocken.«
Allmählich glättete sich seine Stirn, und auch die senkrechten Falten zwischen seinen Brauen verschwanden. Er wirkte auf einmal sehr nachdenklich. Der Anflug eines Lächelns spielte um seinen breiten Mund.
Murtagh beobachtete es mit skeptischer Resignation. Er kauerte stur auf seinem Hocker und leerte seinen Becher, während Jamie aufsprang und ihn, unmelodisch durch die Zähne pfeifend, umkreiste.
»Du hast wohl eine Idee?« fragte ich.
»Aye«, erwiderte er und lachte in sich hinein. »Aye, die habe ich.«
Er sah mich an. In seinen Augen leuchtete der Schalk.
»Hast du etwas in deinem Medizinkasten, das Fieber auslöst? Oder rote Ruhr? Oder Pusteln?«
»Nun ja«, entgegnete ich langsam und dachte nach. »Rosmarin zum Beispiel. Oder Cayenne. Und Faulbaumrinde natürlich, für Durchfall. Warum?«
Mit breitem Grinsen sah er Murtagh an, kicherte und zauste seinem Verwandten die Haare. Murtagh starrte ihn wütend an, wobei er erstaunliche Ähnlichkeit mit Louises Lieblingsäffchen aufwies.
»Hört zu.« Jamie beugte sich verschwörerisch über uns. »Was geschieht, wenn das Schiff des Comte de St. Germain mit Pocken an Bord aus Portugal zurückkehrt?«
»Hast du den Verstand verloren?« erkundigte ich mich höflich. »Was soll dann sein?«
»In dem Fall«, mischte sich Murtagh ein, »würden sie die Fracht verlieren. Man würde das Schiff verbrennen oder im Hafen versenken, wie das Gesetz es befiehlt.« Die schwarzen Äuglein blitzten neugierig auf. »Und wie willst du das anstellen, mein Junge?«
Durch diese Frage wurde Jamies Begeisterung ein wenig gedämpft, aber seine Augen leuchteten unvermindert.
»Nun ja«, gab er zu, »das hab’ ich mir noch nicht so genau überlegt, aber zunächst mal...«
Einige Tage lang diskutierten und forschten wir, bis der Plan ausgereift war, und schließlich hatten wir uns auf eine Vorgehensweise geeinigt. Faulbaumrinde wurde verworfen, weil es den Organismus zu sehr schwächte. In den Kräuterbüchern, die mir Maître Raymond geliehen hatte, fand ich jedoch brauchbaren Ersatz.
Bewaffnet mit einem Beutel, der Rosmarinextrakt, Nesselsaft und Färberwurzel enthielt, würde Murtagh sich am Ende der Woche auf den Weg nach Lissabon machen, wo er in den Tavernen Seeleute aushorchen und das vom Comte de St. Germain angeheuerte Schiff ausfindig machen sollte. Dann wollte er eine Überfahrt auf eben diesem Frachter buchen, während er uns durch einen Boten den Namen des Schiffes und den Tag der Abreise mitteilen würde.
»Nein, das ist üblich«, entgegnete Jamie auf meine Frage, ob dieses Ansinnen dem Kapitän nicht verdächtig vorkommen würde. »Fast alle Frachtschiffe nehmen Passagiere mit, so viele sie im Zwischendeck nur unterbringen können.« Mahnend hob er den Finger.
»Murtagh, du nimmst eine Kajüte, hörst du? Ist mir gleich, was das kostet. Du mußt die Kräuter ungestört einnehmen können. Wir wollen nicht riskieren, daß dich jemand sieht, nur weil du nichts als eine Hängematte im Kielraum hast.« Er musterte seinen Patenonkel kritisch. »Besorg dir einen anständigen Rock. Wenn du wie ein Bettler gekleidet an Bord gehst, landest du wieder im Hafen, bevor sie merken, was du in deiner Felltasche hast.«
»Mmmpf«, brummte Murtagh. Für gewöhnlich trug er nicht viel zum Gespräch bei, doch was er sagte, war brauchbar und überzeugend. »Und wann nehme ich das Zeug?« wollte er wissen.
Ich zog das Blatt Papier heraus, auf dem ich die Instruktionen und die Dosierung notiert hatte.
»Zwei Teelöffel von der Färberwurzel - das ist das hier«, ich tippte das helle Glasfläschchen an, das eine dunkle, rötliche Flüssigkeit enthielt, »und zwar vier Stunden, bevor du deine Symptome zeigen willst. Nach der ersten Dosis nimmst du alle zwei Stunden einen weiteren Teelöffel - wir wissen nicht, wie lange du durchhalten mußt.«
Dann gab ich ihm eine zweite Flasche, die eine schwarzviolette Flüssigkeit enthielt. »Das ist ein Extrakt aus Rosmarinblättern. Er wirkt schneller. Trink etwa ein Viertel der Flasche eine halbe Stunde, bevor du dich zeigen willst. Bis dahin hat sich deine Haut gerötet. Die Wirkung läßt schnell nach, also solltest du später noch etwas einnehmen, wenn es sich unauffällig machen läßt.« Ich nahm ein kleineres Fläschchen aus meinem Medizinkasten. »Und wenn das ›Fieber‹ schon gut zu erkennen ist, reibst du Arme und Gesicht mit dem Nesselsaft ein, damit Pusteln entstehen. Möchtest du die Anweisungen behalten?«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich merke es mir. Wenn man das Papier bei mir findet, wäre das gefährlicher, als wenn ich vergesse, wieviel ich nehmen muß.« Er wandte sich an Jamie.
»Und du stößt in Oviedo zu uns, Junge?«
Jamie nickte. »Aye. Den Hafen läuft das Schiff bestimmt an. Alle Weinfrachter nehmen dort Frischwasser an Bord. Wenn sich der Kapitän zufällig anders entscheidet, dann werde ich ein Boot mieten und versuchen, euch einzuholen. Solange ich an Bord komme, bevor wir Le Havre erreichen, ist alles in Ordnung. Aber am besten wäre es, wenn alles über die Bühne geht, während wir noch vor der spanischen Küste sind. Ich möchte nicht länger auf See bleiben als unbedingt nötig.« Er wies mit dem Kinn auf die Flasche in Murtaghs Hand.
»Das Zeug nimmst du lieber erst ein, wenn du mich an Bord kommen siehst. Ohne Zeugen könnte sich der Kapitän für den einfachsten Ausweg entscheiden und dich nachts über Bord gehen lassen.«
Murtagh grunzte. »Aye, das soll er ruhig versuchen.« Er griff nach dem Schaft seines Dolches.
Jamie runzelte die Stirn. »Verlier nicht die Beherrschung. Du sollst so aussehen, als wärst du an Blattern erkrankt. Wenn du Glück hast, wagen sie es nicht, dich anzurühren. Aber nur für den Fall... wart ab, bis ich in Reichweite bin und wir uns ein gutes Stück von der Küste entfernt haben.«
»Mmmpf.«
Ich sah erst den einen an, dann den anderen. Der Plan war zwar verwegen, konnte aber klappen. Wenn der Kapitän davon überzeugt werden konnte, daß einer seiner Passagiere an Pocken erkrankt war, würde er sein Schiff auf keinen Fall in Le Havre einlaufen lassen, wo die französischen Gesetze seine Zerstörung verlangten. Vor die Wahl gestellt, entweder mit der Fracht nach Lissabon zurückzusegeln und damit jeglichen Gewinn der Fahrt einzubüßen oder zwei Wochen in Oviedo festzusitzen, während die Nachricht an seinen Auftraggeber in Paris ging, würde er sich vielleicht überlegen, die Fracht an den reichen schottischen Kaufmann abzustoßen, der gerade an Bord gekommen war.
Die glaubwürdige Verkörperung des Pockenkranken war der Dreh- und Angelpunkt bei diesem Täuschungsmanöver. Jamie hatte sich als Versuchskaninchen für die Erprobung der Kräuter zur Verfügung gestellt, und sie hatten hervorragend gewirkt. Seine helle Haut hatte sich innerhalb von Minuten dunkelrot verfärbt, und der Nesselsaft rief sofort Pusteln hervor, die in den Augen eines Schiffsarztes oder eines verängstigten Kapitäns leicht als Pockensymptome durchgehen konnten. Wenn dann noch Zweifel bestanden, würde der durch die Färberwurzel gerötete Urin den überzeugenden Eindruck erwecken, daß hier ein an Blattern erkrankter Mann Blut pißte.
»Großer Gott!« rief Jamie, als er verblüfft feststellte, daß die Kräuter tatsächlich ihre Wirkung taten.
»Oh, wunderbar!« Ich spähte über seine Schulter auf den dunkelroten Inhalt des Porzellannachttopfs. »Das ist besser, als ich erwartet hatte.«
»Ach ja? Wie lange dauert es, bis es wieder nachläßt?« fragte Jamie ziemlich nervös.
»Ein paar Stunden, würde ich sagen. Warum? Fühlst du dich komisch?«
»Nicht direkt komisch«, meinte er. »Aber es juckt ein bißchen.«
»Das sind nicht die Kräuter«, warf Murtagh mürrisch ein. »Das entspricht dem Normalzustand bei einem Jungen in deinem Alter.«
Jamie grinste seinen Patenonkel an. »Reicht dein Erinnerungsvermögen so weit zurück?«
»Ich erinnere mich an Zeiten, da warst du noch in Abrahams Wurstkessel, Jungchen«, meinte Murtagh kopfschüttelnd.
Er verstaute die Fläschchen in seiner Felltasche, wobei er jedes einzelne sorgfältig in weiches Leder wickelte, damit sie nicht zu Bruch gingen.
«Ich schicke beizeiten Nachricht über das Schiff und den Abreisetag. Vor Ablauf eines Monats sehen wir uns vor Spaniens Küste. Hast du bis dahin das Geld?«
Jamie nickte. »O ja. Bis nächste Woche, denke ich.« Jareds Weinhandel war unter Jamies Verwaltung gediehen, aber die Geldreserven reichten nicht aus, um ganze Schiffsladungen Portwein aufzukaufen und gleichzeitig den anderen Verpflichtungen des Hauses Fraser nachzukommen. Doch die Schachpartien hatten in mehr als einer Hinsicht Früchte getragen. Monsieur Duverney der Jüngere, ein angesehener Bankier, hatte dem Freund seines Vaters ohne Zögern ein beträchtliches Darlehen bewilligt.
»Schade, daß wir den Wein nicht nach Paris bringen können«, hatte Jamie während der Planung bemerkt, »aber St. Germain würde uns bestimmt auf die Schliche kommen. Ich denke, wir verkaufen ihn am besten über einen spanischen Mittelsmann - ich kenne jemanden, in Bilbao. Dabei fällt zwar weniger Gewinn ab als in Frankreich, und die Steuern sind höher, aber man kann nicht alles haben, oder?«
»Ich handle die Rückzahlung von Duverneys Darlehen aus«, bot ich an. »Und da wir von Darlehen sprechen, was wird Signore Manzetti anstellen, wenn er das Geld verliert, das er Charles Stuart geliehen hat?«
»Es in den Kamin schreiben, schätze ich«, meinte Jamie vergnügt. »Und das wird den Ruf der Stuarts bei sämtlichen Bankiers auf dem Festland ruinieren.«
»Für den armen Manzetti ist das ein bißchen hart«, bemerkte ich.
»Aye. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, sagt meine alte Großmutter immer.«
»Du hast keine alte Großmutter«, wandte ich ein.
»Nein«, gab er zu, »aber wenn ich eine hätte, würde sie genau das sagen.« Plötzlich änderte sich sein Tonfall. »Auch den Stuarts gegenüber ist es nicht gerade fair. Und wenn die jakobitischen Lords herausfinden sollten, was ich getan habe, dann würden sie es Verrat nennen, und recht hätten sie.« Er strich sich über die Stirn und schüttelte den Kopf, und ich sah, wie ernst es ihm ungeachtet seiner spaßhaften Bemerkungen war.
»Es hilft alles nichts, Sassenach. Wenn du recht hast, dann gilt es, zwischen dem Ehrgeiz von Charles Stuart und dem Leben zahlloser Schotten zu wählen. Ich liebe König George nicht - ich, ein Geächteter? -, aber ich sehe keinen anderen Weg.«
Er runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wie immer, wenn er aufgeregt war oder nachdachte. »Wenn die Möglichkeit bestünde, daß Charles Erfolg hat... aye, dann wäre es etwas anderes. Für eine ehrenvolle Sache nimmt man Gefahren in Kauf, aber deine Geschichte sagt, er wird scheitern, und soweit ich den Mann kenne, behältst du wahrscheinlich recht. Es geht um mein Volk und meine Familie, und wenn sich ihr Leben mit dem Gold eines Bankiers erkaufen läßt... nun, dann wiegt dieses Opfer wohl nicht schwerer als der Verlust meiner Ehre.«
Mit halb gespielter Verzweiflung zuckte er die Achseln. »Statt nur die Post Seiner Hoheit zu stehlen, gehe ich jetzt zu Bankraub und Seeräuberei über. Aber anscheinend gibt es keinen anderen Ausweg.«
Er schwieg und betrachtete seine Hände. Dann sah er mich an und lächelte.
»Ich wollte Pirat werden, als ich klein war«, sagte er. »Nur schade, daß ich kein Entermesser tragen kann.«
 
Ich lag im Bett, Kopf und Schultern auf Kissen gebettet, die Hände über dem Bauch verschränkt, und dachte nach. Seit dem ersten Mal hatte ich kaum noch geblutet, und es ging mir gut. Dennoch war selbst eine leichte Blutung in diesem Stadium der Schwangerschaft Anlaß zur Besorgnis. Ich fragte mich, was werden sollte, wenn ein Unglück geschah, während Jamie in Spanien weilte. Doch es war nichts gewonnen, wenn ich mir Sorgen machte. Er mußte gehen. Von dieser einen Schiffsladung hing einfach zuviel ab. Bestimmt würde er längst zurück sein, wenn das Baby zur Welt kam.
Persönliche Belange zählten nicht, ungeachtet aller Gefahren. Charles, der seine Erregung nicht verbergen konnte, hatte Jamie anvertraut, daß er in Kürze zwei Schiffe benötigte - vielleicht auch mehr. Und hatte sich hinsichtlich der Form von Schiffsrümpfen und der Aufstellung von Bordkanonen von Jamie beraten lassen. In den letzten Briefen aus Rom hatten Zweifel angeklungen - mit dem feinen politischen Gespür der Bourbonen hatte James Stuart gemerkt, daß etwas faul war, doch offenbar hatte man ihn nicht darüber aufgeklärt, was sein Sohn vorhatte. Jamie, der bis zum Hals in verschlüsselten Briefen steckte, hielt es für wahrscheinlich, daß Philipp von Spanien bisher weder Charles’ Annäherungsversuche noch die Interessen des Papstes erwähnt hatte. Doch auch James Stuart hatte seine Spione.
Nach einer Weile wurde mir bewußt, daß sich Jamies Haltung etwas verändert hatte. Ein Blick in seine Richtung offenbarte, daß er zwar noch ein offenes Buch auf den Knien hielt, aber nicht mehr hineinschaute. Statt dessen starrte er mich an, oder genauer gesagt den Ausschnitt meines Nachthemds, das etwas weiter aufgeknöpft war, als sittsam war. Allerdings war Sittsamkeit im Ehebett auch nicht unbedingt erforderlich.
Sein Blick war gedankenverloren und sehnsüchtig, und mir wurde klar, daß Sittsamkeit im Ehebett zwar nicht erforderlich, in Anbetracht der Umstände aber aus Gründen der Rücksicht zu erwarten war. Natürlich gab es andere Möglichkeiten.
Als Jamie merkte, daß ich ihn ansah, errötete er ein wenig und wandte sich mit übertriebenem Eifer seinem Buch zu. Ich rollte mich auf die Seite und legte meine Hand auf seinen Schenkel.
»Ist das Buch interessant?« fragte ich und liebkoste ihn sachte.
»Mmmpf. Aye.« Er errötete noch tiefer, blickte aber nicht von seiner Lektüre auf.
Mit leisem Lächeln ließ ich meine Hand unter die Bettdecke gleiten. Er ließ das Buch fallen.
»Sassenach!« rief er. »Du weißt, du kannst doch nicht...«
»Nein«, sagte ich, »aber du kannst. Oder besser gesagt, ich kann für dich.«
Mit festem Griff entfernte er meine Hand.
»Nein, Sassenach. Das wäre nicht recht.«
»Nicht recht?« fragte ich überrascht. »Warum denn nicht?«
Er wand sich vor Unbehagen und vermied es, mich anzusehen.
»Tja, ich... ich käme mir schäbig vor, Sassenach. Wenn ich mich auf deine Kosten mit dir vergnüge und dir dafür nichts geben kann... also, ich würde mich dabei nicht wohl fühlen, das ist alles.«
Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen und bettete meinen Kopf auf seinen Schenkel.
»jamie, du bist einfach lieb!«
»Ich bin nicht lieb«, entgnete er indigniert. »Aber ich bin nicht so ein selbstsüchtiger... Claire, hör auf!«
»Du hattest vor, noch ein paar Monate zu warten?« fragte ich, ohne aufzuhören.
»Das könnte ich«, sagte er mit aller Würde, die er im Moment aufbringen konnte. »Ich habe zw-zweiundzwanzig Jahre gewartet, und ich kann...«
»Nein, das kannst du nicht«, erklärte ich, zog die Bettdecke zurück und bewunderte das, was sich so deutlich unter seinem Nachthemd abzeichnete. Ich berührte es, und begierig bewegte es sich ein wenig auf meine Hand zu. »Ich weiß nicht, was Gott mit dir vorhatte, Jamie Fraser, aber zum Mönch bist du nicht bestimmt.«
Mit sicherer Hand zog ich sein Nachthemd hoch.
»Aber...« fing er an.
»Zwei gegen einen«, sagte ich und beugte mich über ihn. »Du verlierst.«
 
Während der nächsten Tage arbeitete Jamie fieberhaft, um sicherzustellen, daß der Weinhandel während seiner Abwesenheit reibungslos funktionierte. Dennoch nahm er sich fast jeden Tag die Zeit, sich nach dem Mittagessen ein Weilchen zu mir zu setzen. So war er bei mir, als ein Besucher gemeldet wurde. Besuch war nichts Ungewöhnliches. Louise kam ab und zu vorbei, um über die Schwangerschaft zu plaudern oder den Verlust ihres Geliebten zu beklagen - obwohl ich insgeheim dachte, daß sie Charles als Objekt edelmütiger Entsagung weitaus mehr schätzte denn als Liebhaber. Sie hatte versprochen, mir türkische Bonbons mitzubringen, und so erwartete ich, ihr rundes, rosiges Gesicht in der Tür zu sehen.
Zu meiner Überraschung handelte es sich bei dem Besuch jedoch um Monsieur Forez. Magnus persönlich führte ihn in den Salon und nahm dem Gast Hut und Umhang mit fast abergläubischer Ehrfurcht ab.
Nicht minder überrascht, stand Jamie auf, um den Henker zu begrüßen und ihm eine Erfrischung anzubieten.
»Im allgemeinen trinke ich keinen Alkohol«, erklärte Monsieur Forez lächelnd. »Aber ich möchte die Gastfreundschaft meiner geschätzten Kollegin nicht ablehnen.« Er verbeugte sich steif in meine Richtung. »Ich hoffe, Sie befinden sich wohlauf, Madame Fräser?«
»Ja», erwiderte ich vorsichtig. »Vielen Dank.« Ich fragte mich, welchem Umstand wir die Ehre seines Besuchs verdankten. Denn obwohl Monsieur Forez Kraft seines Amtes ein reicher Mann war und über großes Ansehen verfügte, nahm ich nicht an, daß man ihn häufig zum Diner einlud.
Er durchquerte den Raum und legte ein Päckchen neben mich auf die Chaiselongue - die väterliche Geste eines Geiers, der seine Jungen füttert. Ich nahm das Päckchen behutsam hoch und wog es in der Hand. Für seine Größe war es leicht und roch leicht adstringierend.
»Eine kleine Aufmerksamkeit von Mutter Hildegarde«, erklärte er. »Soviel ich weiß, ist es ein bevorzugtes Heilmittel der maitresses sage-femme. Sie hat auch Hinweise zur Anwendung mitgeschickt.« Er nahm ein gefaltetes, versiegeltes Briefchen aus seiner Innentasche und reichte es mir.
Ich schnupperte an dem Päckchen. Himbeerblätter, Steinbrech und etwas, was ich nicht einordnen konnte. Ich hoffte, daß Mutter Hildegarde eine Liste der Zutaten beigelegt hatte.
»Bitte danken Sie Mutter Hildegarde in meinem Namen«, sagte ich. »Wie geht es den anderen Helfern im Spital?« Ich vermißte meine Arbeit dort ebenso wie die Nonnen und das buntgemischte Häuflein der Ärzte. Eine Weile plauderten wir über das Spital und seine Mitarbeiter, während Jamie ab und zu etwas einwarf, ansonsten aber höflich lächelnd zuhörte oder - wenn klinische Details erörtert wurden - seine Nase ins Weinglas steckte.
»Wie schade«, meinte ich bedauernd, als Monsieur Forez seinen Bericht über die Behandlung eines zerschmetterten Schulterblatts abschloß. »Dabei habe ich noch nie zusehen können. Mir fehlt die chirurgische Arbeit.«
»Ja, auch mir wird sie fehlen«, Monsieur Forez nickte und nippte an seinem Wein. Es war immer noch mehr als halb voll. Offenbar war die Bemerkung über seine Abstinenz kein Scherz gewesen.
»Sie verlassen Paris?« fragte Jamie überrascht.
Monsieur Forez zuckte die Achseln; die Falten seines langen Rockes raschelten wie Federn.
»Nur für einige Zeit«, erklärte er. »Doch immerhin werde ich mindestens zwei Monate abwesend sein. Dies ist sogar, Madame«, wieder verbeugte er sich in meine Richtung, »der Hauptgrund für meinen heutigen Besuch.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Ich reise nach England, Sie verstehen, und mir kam der Gedanke, daß es mir keinerlei Umstände bereiten würde, eine Botschaft zu überbringen, wenn Sie es wünschen. Vorausgesetzt, es gibt eine Person, mit der Sie in Verbindung treten möchten«, präzisierte er.
Ich warf Jamie einen Blick zu. Sein freundlich-interessierter Gesichtsausdruck war nun einer lächelnden Maske gewichen, die jeden Gedanken verbarg. Einem Fremden wäre der Unterschied nicht aufgefallen, mir aber schon.
»Nein«, erwiderte ich zögernd. »Ich habe weder Freunde noch Verwandte in England. Ich fürchte, ich habe dort gar keine Bekannten mehr, seit ich - verwitwet bin.« Frank auf diese Weise zu erwähnen versetzte mir wie immer einen Stich, doch ich unterdrückte das Gefühl.
Wenn Monsieur Forez diesen Umstand merkwürdig fand, so ließ er es sich nicht anmerken. Er nickte nur und stellte sein halbleeres Glas ab.
»Ich verstehe. Welch glückliche Fügung, daß Sie wenigstens hier Freunde besitzen.« Ich glaubte, eine Warnung aus seiner Stimme herauszuhören. Aber er sah mich nicht an, sondern beugte sich vor, um seinen Strumpf glattzuziehen, bevor er sich erhob. »Ich werde Sie bei meiner Rückkehr besuchen und hoffe, Sie auch dann wieder bei bester Gesundheit anzutreffen.«
»Welche Geschäfte führen Sie nach England, Monsieur?« fragte Jamie unverblümt.
Mit verhaltenem Lächeln drehte sich Monsieur Forez zu ihm um. Er legte den Kopf schief, seine Augen leuchteten, und wieder verblüffte mich seine Ähnlichkeit mit einem großen Vogel. Doch im Moment glich er nicht einer Rabenkrähe, sondern einem Raubvogel auf Beutezug.
»Welche Geschäfte führen einen Mann meiner Profession ins Ausland, Monsieur Fraser?« fragte er. »Ich wurde beauftragt, meine üblichen Pflichten zu erfüllen, und zwar in Smithfield.«
»Zweifellos ein wichtiger Anlaß«, sagte Jamie, »der es rechtfertigt, einen Mann Ihres Könnens kommen zu lassen.« Jamies Augen waren wachsam, während sein Gesicht nur höfliches Interesse zeigte.
Monsineur Forez’ Augen funkelten. Bedächtig erhob er sich und blickte auf Jamie hinunter, der am Fenster saß.
»Das ist wahr, Monsieur Fraser«, sagte er freundlich. »Denn es ist eine Frage des Könnens, seien Sie versichert. Einen Mann mit einem Seil erwürgen - pah! Das kann jeder. Ihm aber rasch und sauber das Genick zu brechen, dazu müssen Gewicht und Fall berechnet werden, und es bedarf einiger Erfahrung, will man den Strang richtig anlegen. Aber die Gratwanderung zwischen beiden Methoden, die fachgerechte Hinrichtung eines verurteilten Verräters, dazu ist großes Geschick vonnöten.«
Da sich mein Mund plötzlich trocken anfühlte, griff ich nach meinem Glas. »Die Hinrichtung eines Verräters?« sagte ich, obgleich ich das Gefühl hatte, die Antwort lieber nicht hören zu wollen.
»Hängen, Ausnehmen und Vierteilen«, erklärte Jamie kurz. »Das meinen sie doch, Monsieur Forez?«
Der Henker nickte. Als müßte er sich dazu überwinden, stand Jamie auf und trat dem hageren, schwarzgekleideten Besucher entgegen. Da sie fast gleich groß waren, konnten sie sich ohne Schwierigkeiten in die Augen blicken. Monsieur Forez ging einen Schritt auf Jamie zu. Plötzlich wirkte er gedankenverloren, als wollte er ansetzen, einen medizinischen Sachverhalt darzulegen.
»O ja«, sagte er. »Ja, so wird ein Verräter hingerichtet. Zuerst muß der Mann gehängt werden, wie Sie sagen, aber mit Feingefühl, so daß das Genick nicht bricht und auch die Luftröhre keinen Schaden nimmt - der Tod durch Ersticken ist nicht das erwünschte Resultat, Sie verstehen?«
»Oh, ich verstehe«, erwiderte Jamie leise, fast spöttisch. Verwundert sah ich ihn an.
»Tatsächlich, Monsieur?« Monsieur Forez lächelte zurückhaltend, fuhr aber fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Hier gilt es, den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen. Die Augen geben den Ausschlag. Das Gesicht läuft sogleich blutrot an - und infolge des Würgens tritt die Zunge aus dem Mund. Daran ergötzt sich die Menge natürlich ebenso wie an den hervorquellenden Augen. Aber als Scharfrichter muß man auf die Rötung in den Augenwinkeln achten, denn sie zeigt an, daß die kleinen Blutgefäße platzen. Wenn das geschieht, muß man ohne Zögern das Zeichen geben, den Verurteilten abzuschneiden - ein zuverlässiger Helfer ist dabei unverzichtbar, müssen Sie wissen.« Mit einer halben Drehung bezog er mich in das makabre Gespräch ein, und ich nickte unwillkürlich.
»Dann», fuhr er wieder an Jamie gewandt fort, »sollte sofort ein anregendes Mittel verabreicht werden, um den Verurteilten wiederzubeleben, während ihm gleichzeitig das Hemd ausgezogen wird - man muß darauf bestehen, daß ein Hemd mit Knopfleiste bereitgestellt wird. Oft ist es schwierig, es über den Kopf zu ziehen.« Sein langer, schlanker Finger deutete auf den mittleren Knopf von Jamies Hemd, ohne jedoch das frischgestärkte Leinen zu berühren.
»Das erscheint mir einleuchtend«, meinte Jamie.
Monsieur Forez zog den Finger zurück und nickte beifällig.
»Richtig. Der Gehilfe hat inzwischen bereits das Feuer entfacht. Solche Arbeiten sind unter der Würde des Scharfrichters. Und dann ist die Zeit für das Messer gekommen.«
Tödliche Stille herrschte im Raum. Jamies Miene war immer noch undurchdringlich, aber sein Hals glänzte feucht.
»Beim nächsten Schritt ist größtes Geschick erforderlich«, erklärte Monsieur Forez, den Finger mahnend erhoben. »Man muß schnell arbeiten, damit der Verurteilte nicht seinen Geist aushaucht, bevor man fertig ist. Wenn man dem Stimulans ein Mittel beimischt, das die Blutgefäße zusammenzieht, gewinnt man etwas Zeit, aber nicht viel.«
Er trat an den Tisch, auf dem er einen silbernen Brieföffner erblickt hatte, und nahm ihn in die Hand. Er umklammerte den Griff, drückte den Zeigefinger gegen die Klinge und richtete die Waffe gegen die glänzende Walnußplatte.
»Genau da«, sagte er fast verträumt. »Unterhalb des Brustbeins. Und rasch bis hinunter zur Leistengegend. In den meisten Fällen ist das Schambein gut sichtbar. Und noch einmal«, der Brieföffner zuckte zur einen Seite, dann zur anderen, flink und grazil wie der Zickzackflug eines Kolibris, »dem Rippenbogen folgend. Man darf nicht zu tief schneiden, denn man will schließlich nicht den Sack verletzen, der die Eingeweide enthält. Dennoch muß man Haut, Fett und Muskeln durchtrennen, und zwar mit einem Schnitt. Dies«, erklärte er mit einem zufriedenen Blick auf die Tischplatte, die sein Spiegelbild reflektierte, »ist eine Kunst.«
Behutsam legte er das Messer auf den Tisch und wandte sich wieder Jamie zu. Dabei zuckte er vergnügt die Achseln.
»Was dann folgt, ist eine Frage der Schnelligkeit und Geschicklichkeit, aber wenn man bisher exakt gearbeitet hat, entstehen kaum Schwierigkeiten. Die Verdauungsorgane sind von einer Membran umhüllt wie von einem Sack. Wenn diese nicht versehentlich beschädigt wurde, ist die Sache einfach, es erfordert nur ein wenig Kraft, die Hände unter die Muskulatur zu zwängen und die gesamte Masse herauszuziehen. Ein rascher Schnitt am Magen und am Anus, und die gesamten Eingeweide können ins Feuer geworfen werden. Wenn man flink und feinfühlig gearbeitet hat, kann man sich nun etwas ausruhen, denn bisher wurde noch keine Schlagader verletzt.«
Obwohl ich saß, wurde mir schwindelig, und zweifellos war mein Gesicht ebenso bleich wie Jamies. Trotzdem lächelte er, als wollte er sich seinem Gast gegenüber nachsichtig zeigen.
»Also kann der... Verurteilte... noch ein wenig weiterleben?«
»Monsieur.« Die leuchtenden schwarzen Augen des Henkers wanderten über Jamies stattliche Figur, nahmen Maß an den Schultern und den muskulösen Beinen. »Die Auswirkungen eines solchen Schocks sind nicht vorhersehbar, aber ich habe gesehen, wie ein starker Mann in diesem Zustand noch eine gute Viertelstunde gelebt hat.«
»Ich nehme an, dem Verurteilten kommt es wesentlich länger vor«, bemerkte Jamie trocken.
Ohne darauf einzugehen, nahm Monsieur Forez den Brieföffner abermals zur Hand und schwenkte ihn, während er sprach.
»Wenn der Tod naht, muß man in den Brustraum greifen, um das Herz zu packen. Hier gilt es wieder, Geschick zu beweisen. Ohne Halt durch die Eingeweide zieht sich das Herz zurück, und oft liegt es erstaunlich weit oben. Zudem ist es überaus glitschig.« Er tat so, als riebe er sich die Hände an den Rockschößen ab. »Aber die Hauptschwierigkeit besteht darin, die darüberliegenden großen Blutgefäße rasch zu durchtrennen, so daß das Organ herausgezogen werden kann, während es noch schlägt. Schließlich möchte man den Zuschauern etwas bieten«, erklärte er. »Das wirkt sich erheblich auf die Entlohnung aus. Was den Rest betrifft«, bemerkte er mit einem verächtlichen Achselzucken, »das ist reine Schlachterei. Sobald das Leben erlischt, ist kein Geschick mehr vonnöten.«
»Nein, das glaube ich auch nicht«, sagte ich matt.
»Aber Sie sind blaß, Madame! Ich habe Sie viel zu lange in ein ermüdendes Gespräch verwickelt!« rief er. Er griff nach meiner Hand, und ich widerstand dem Impuls, ihn zurückzustoßen. Seine Hand war kühl, aber seine Lippen, die flüchtig meine Haut berührten, waren so warm, daß ich überrascht den Druck meiner Hand verstärkte. Leicht und unauffällig erwiderte er den Druck, um sich dann förmlich vor Jamie zu verbeugen.
»Ich muß gehen, Monsieur Fraser. Ich hoffe, Sie und Ihre reizende Frau wiederzusehen... unter so angenehmen Umständen wie am heutigen Tage.« Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Dann entsann sich Monsieur Forez des Brieföffners, den er nach wie vor in der Hand hielt. Mit einem Ausruf der Verwunderung hielt er ihn auf seiner offenen Handfläche. Jamie runzelte die Stirn und nahm das Messer behutsam entgegen.
»Bon voyage, Monsieur Forez. Und vielen Dank«, Jamie verzog ironisch den Mund, »für Ihren überaus lehrreichen Besuch.«
Er bestand darauf, unseren Gast persönlich zur Tür zu bringen. Sobald ich allein war, stand ich auf und ging ans Fenster, wo ich Atemübungen durchführte, bis die dunkelblaue Kutsche in die Rue Gamboge abgebogen war.
Hinter mir öffnete sich die Tür, und Jamie trat ein. Den Brieföffner hielt er immer noch in der Hand. Er steuerte auf die große chinesische Bodenvase am Kamin zu und ließ das Papiermesser scheppernd hineinfallen. Dann drehte er sich zu mir um und lächelte tapfer.
»Wenn das eine Warnung sein sollte, hat sie ihre Wirkung nicht verfehlt.«
Ich zuckte kurz die Achseln.
»Allerdings.«
»Wer mag ihn geschickt haben?« fragte Jamie. »Mutter Hildegarde?«
»Vermutlich. Sie hat mich gewarnt, als wir die Musik entschlüsselten. Sie sagte, was du tust, sei gefährlich.« Wie gefährlich, war mir aber erst durch den Besuch des Henkers klargeworden. Schon seit einiger Zeit litt ich nicht mehr an morgendlicher Übelkeit, doch jetzt drehte sich mir der Magen um. Wenn die jakobitischen Lords herausfinden sollten, was ich getan habe, dann würden sie es Verrat nennen. Und wenn sie es herausfänden, welche Schritte würden sie dann unternehmen?
Nach außen hin bekannte sich Jamie zu den Zielen der Jakobiten. In dieser Tarnung besuchte er Charles, bewirtete er den Graf von Marischal an seiner Tafel und verkehrte bei Hof. Und bisher hatte er bei seinen Schachpartien, Tavernenbesuchen und Trinkgelagen mit größtem Geschick der Sache der Stuarts geschadet und dabei nach außen hin den Eindruck erweckt, sie zu unterstützen. Außer uns beiden wußte nur Murtagh, daß wir versuchten, einen Aufstand der Stuarts zu vereiteln - und selbst er ahnte nicht warum, sondern glaubte Jamie einfach, daß es nötig war. Diese Verstellung war unumgänglich, solange wir in Frankreich operierten. Aber eben diese Verstellung würde Jamie als Verräter brandmarken, wenn er jemals englischen Boden betreten sollte.
Das hatte ich natürlich gewußt, aber in meiner Naivität hatte ich angenommen, daß zwischen dem Tod durch den Strang, die einen Geächteten erwartete, und der Hinrichtung eines Verräters kein großer Unterschied bestand. Monsieur Forez’ Besuch hatte mich eines Besseren belehrt.
»Du nimmst das verdammt gelassen hin«, sagte ich. Mein Herz hämmerte wie wild, meine Hände waren kalt und verschwitzt. Ich rieb sie mir am Kleid ab und schob sie zwischen die Knie, um sie zu wärmen.
Jamie zuckte die Achseln und lächelte mich schief an.
»Es gibt höllisch viele unangenehme Todesarten, Sassenach. Und wenn mir eine davon blüht, dann würde es mir nicht sonderlich behagen. Aber die Frage ist: Macht mir diese Aussicht so viel Angst, daß ich mich von meinem Vorhaben abbringen lasse?« Er setzte sich neben mich auf die Chaiselongue und nahm meine Hand in die seine. Sie war warm, und seine Nähe tat mir gut.
»Während jener Wochen, in denen ich mich in der Abtei erholte, habe ich es mir gründlich überlegt, Sassenach. Und dann wieder, als wir nach Paris kamen. Und noch einmal, als ich Charles Stuart kennenlernte.« Er schüttelte den Kopf und beugte sich über unsere ineinander verschlungenen Hände.
»Aye, ich sehe mich auf dem Schafott stehen. Ich sah die Galgen in Wentworth - hab’ ich dir das erzählt?«
»Nein, das hast du nicht.«
Er nickte. Mit gedankenverlorenem Blick vertiefte er sich in die Erinnerung.
»Man führte uns auf den Hof, uns, die Insassen der Todeszelle. Wir mußten uns nebeneinander aufstellen, um die Hinrichtung zu beobachten. An diesem Tag wurden sechs Männer gehängt. Männer, die ich kannte. Ich sah jeden einzelnen die Stufen hinaufsteigen - zwölf Stufen waren es - und mit gefesselten Händen dastehen und in den Hof hinunterstarren, während ihnen die Schlinge um den Hals gelegt wurde. Und ich fragte mich, wie ich es schaffen sollte, diese Stufen hinaufzusteigen, wenn ich an die Reihe käme. Würde ich weinen und beten wie John Sutter oder aufrecht stehen wie Willie MacLeod und einem Freund unten im Hof zulächeln?«
Plötzlich schüttelte er heftig den Kopf und lächelte mich bitter an. »Auf jeden Fall hat mir Monsieur Forez nichts erzählt, was ich nicht schon gewußt hatte. Aber es ist zu spät, mo duinne.« Er legte seine Hand auf meine. »Ja, ich habe Angst. Aber wenn mich die Hoffnung auf Heimat und Freiheit nicht zur Umkehr bewegt, dann wird es auch nicht die Furcht tun. Nein, mo duinne. Es ist zu spät.«
Die Geliehene Zeit
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