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Sie sieht ihn schon, als er noch drei Blocks weg ist, eine schwarz gekleidete Gestalt, die durch den Schnee hinkt, den Mantel in der Hand. Er lebt. Sie atmet tief ein, die kalte Luft brennt in der Kehle; sie greift nach dem silbernen Kruzifix an ihrem Hals, aber es ist nicht da; es liegt oben auf dem Nachttisch, auf dem Häufchen silberner Kettenglieder. Eigentlich will sie ihm entgegengehen, bleibt aber nach ein paar Schritten stehen und kneift die Augen gegen das vom Schnee reflektierte Morgenlicht zusammen. Selbst auf diese Entfernung ist zu erkennen, dass etwas nicht stimmt. Als er noch einen Block weg ist, sieht sie, warum er den Kamelhaarmantel nicht anhat. Er will ihn nicht vollbluten.
Blut läuft ihm aus der Nase, aus dem Mund, aus einer tiefen Platzwunde, die ihm eine Augenbraue spaltet. Die ganze linke Hälfte seines Gesicht ist knallrot und grotesk angeschwollen; unter dem Wangenknochen prangt eine daumenlange Strieme. Seine Nase ist übel gebrochen, seine Unterlippe gespalten, an seiner Stirn fehlt ein Stück Haut von der Größe einer Dollarnote. Seine Kehle ist rot und weiß gestreift.
Die Schwellungen haben seine Augen zu Schlitzen verengt; er sieht sie in seinem alten Kapuzenpulli dort auf den Türstufen erst dann stehen, als er schon fast bei ihr ist. Als er sie sieht, lächelt er, und sie muss kurz wegschauen. Seine schönen Zähne sind ruiniert, unten fehlen drei, oben ist ein Schneidezahn abgebrochen. Er versucht etwas zu sagen, muss aber würgen, beugt sich vor, die Hände auf den Knien, und spuckt Blut.
Naturelle nimmt ihn bei der Hand und führt ihn langsam die Türstufen hinauf, durch zwei Türen, die schmale Treppe hinauf und in ihr Apartment. Blasses Sonnenlicht scheint durch die Fenster. Sie setzt ihn auf das Sofa und läuft ins Badezimmer, durchwühlt den Medizinschrank nach den Sachen, die sie braucht, füllt ein Glas mit kaltem Wasser und geht zu ihm zurück, sorgt dafür, dass er etwas trinkt. Er versucht erneut, etwas zu sagen, aber sie schüttelt den Kopf, nimmt ihm das Glas ab und stellt es auf den Couchtisch. Vorsichtig hebt sie ihm die Arme über den Kopf und zieht ihm den schwarzen Pullover aus, knöpft ihm das Hemd auf und schiebt es ihm von den Schultern. Sie fährt kurz mit den Händen seine Rippen entlang und schaut dabei, ob er das Gesicht verzieht.
In der Küche holt sie einen Waschlappen, füllt eine Schüssel mit warmem Wasser und Flüssigseife, eilt zurück ins Wohnzimmer und setzt sich neben ihn. Dann fängt sie vorsichtig an, ihm das Gesicht zu waschen, wartet, als er zurückzuckt, und beugt sich dann wieder vor, um jede Platzwunde, jeden Kratzer abzutupfen. Als sie den Waschlappen über der Schüssel auswringt, fallen Blutstropfen ins Wasser und blühen auf. Nachdem sie jede Wunde zufrieden stellend gereinigt hat, öffnet sie eine Flasche Hamamelis-Extrakt und tränkt einen Wattebausch damit. Sie drückt die Watte leicht gegen seine gespaltene Augenbraue; Monty zuckt zusammen, krallt die Hände um die Kanten der Sofakissen. Als sie fertig ist, liegen acht gebrauchte Wattebäusche auf dem Couchtisch. Sie deckt die Wunde mit Mull ab. Das muss genäht werden, denkt sie. Sie stellt sich vor, wie ein Gefängnisarzt grob ein paar Stiche setzt und dabei mit der Schwester herumwitzelt. Werden sie Monty so lange mit Handschellen an den Tisch fesseln?
Montys Kopf fällt gegen die Sofalehne zurück. Sein zerschlagenes Gesicht ist von Sonnenstrahlen umkränzt. Die Nacht ist vorbei, und er schläft. Sie sieht zu, wie er atmet, wie sich seine Brust hebt und senkt, wie unten an seiner Kehle eine Ader pulsiert. Sie schaut zur Wanduhr. Sie muss ihn wecken, ihn in saubere Sachen stecken, nach unten bringen und ein Taxi auftreiben. Sie sieht zu, wie er träumt, seine Augenlidern flattern, seine Finger krümmen und strecken sich, greifen nach etwas. Noch eine Minute, dann weckt sie ihn. Gib ihm noch eine Minute.