9

Mit zweiundzwanzig hätte Monty beinahe geholfen, den Filmstar Billy Marr zu ermorden. Monty hatte Kostya einen Monat vorher kennen gelernt, beim Abendessen in einem von Uncle Blues Restaurants in Brighton Beach. »Von jetzt an«, hatte Uncle Blue gesagt und sich den Bart mit einer roten Stoffserviette abgewischt, »arbeitet ihr beiden zusammen.« Er hat nie erklärt, warum er eine solche Zusammenarbeit für eine gute Idee hielt oder wie sie sich ihre Arbeit aufteilen sollten. Monty hatte Kostya zunächst nicht leiden können, es hatte ihn genervt, dass dieser Klotz ständig Witze reißen und große Sprüche klopfen musste, dass er sich einen antrank und dann auf der Straße Lieder von Bruce Springsteen zum Besten gab oder vor einer heruntergekommenen Kellnerin auf die Knie fiel und russische Gedichte deklamierte. Aber Kostya hatte Monty noch am ersten Abend »Freund« genannt; er ignorierte Montys schlechte Laune; er klopfte Monty weich mit seiner Gewissheit, dass sie dazu bestimmt waren, Kameraden zu werden. Monty wusste, dass der Ukrainer gefährlich war - im Türkischen Bad hatte er eines Abends die grobe Narbe gesehen, die auf Kostyas Bauch prangte, und Kostya war der Einzige, den er kannte, der tatsächlich mit einer Automatik unterm Kopfkissen schlief —, aber er brauchte jemand Gefährliches an seiner Seite. Monty allein war ein zu leichtes Ziel. Es gab Hunderte von sugar bandits in New York, Leute, die ihr Geld damit verdienten, dass sie Dealer ausraubten, sugar men. Dealer waren beliebte Opfer, sie schleppten kiloweise Geld mit sich herum und riefen nie die Polizei, wenn man sie ausnahm. Mit Kostya hatte Monty einen Leibwächter; allein seine Gegenwart wirkte schon einschüchternd.

Sie waren zu Billy Marrs Wohnung in Chelsea gefahren. Monty lehnte sich im Flur an die Wand und sah Kostya dabei zu, wie er an die Tür klopfte und die Klingel drückte und leise vor sich hin fluchte. Nach fünf Minuten Geklingel und Geklopfe ließ ein Mädchen, das Monty auf achtzehn schätzte, sie schließlich ein in eine Riesen-Fabriketage mit Betonböden und sieben Meter hohen Decken. Die Kleine hatte einen Morgenmantel aus schwarzer Seide an, der hinten mit einem chinesischen Drachen bestickt war; ein grünes Handtuch war um ihren Kopf gewickelt. Sie führte sie zu einer Sitzecke und verschwand, ohne ein Wort zu sagen. Sämtliche Möbel waren weiß. Über dem Kamin hingen drei mit Silberstift gezeichnete Frauenakte. Auf dem einen Sofa hingen drei dünne junge Männer herum, jeder eine große Flasche Bier im Schoß. Sie sahen Monty und Kostya kurz an und wandten sich dann wieder dem Fernseher zu, der einen Videozusammenschnitt von Flugzeugabstürzen zeigte: zwei Propellermaschinen, die über einer Rollbahn kollidierten; ein Kampfflugzeug, das in die Nase einer Transportmaschine krachte; ein Mann, dessen Fallschirm nicht aufgehen wollte, während er fiel und fiel und fiel. Die Kamera sah ihm vom Boden aus zu: Erst war der Mann nur ein kleiner Fleck am Himmel, dann wurde er größer und größer, bis in der Sekunde vor dem Aufschlag ganz groß und deutlich sein aufgerissener Mund zu sehen war. Der Mann schlug so hart auf den Wüstenboden auf, dass er wieder hochprallte.

»Autsch«, sagte Kostya. »Weiß von euch einer, wo Billy Marr ist?«

»Und wer seid ihr?«, fragte der eine Dünne, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

»Er hat uns angerufen«, sagte Monty. »Wir sind Freunde von Uncle Blue.«

Die Kleine in dem Morgenmantel war wieder aufgetaucht, sie schälte eine Mandarine. Der Frotteeturban war verschwunden. Sie hatte kurze, aschblonde Haare. »Hey«, sagte sie, »der sugar man.«

»Klasse«, meinte der Dünne und setzte sich auf. »Billy ist nicht da, Mann. Wir können so lange für ihn darauf aufpassen.«

Monty ignorierte ihn und wandte sich an die Kleine. »Uncle hat gesagt, wir sollen uns mit Billy treffen. Weißt du, wann er wieder da ist?«

»Er ist den ganzen Abend unterwegs«, sagte sie, ließ die Schalen auf den Boden fallen und brach die Mandarine durch. »Um wie viel gehfs denn? Gianni, habt ihr Geld dabei?«

Die drei jungen Männer machten eine halbherzige Anstrengung, in ihren Hosentaschen zu wühlen.

»Zwölftausend Dollar«, sagte Monty. Die drei jungen Männer hörten mit ihrer Suche auf.

Die Kleine zuckte die Schultern. Bei dieser Bewegung ging das V ihres Morgenmantels weiter auf, und Monty bekam ein bisschen weiße Brust zu sehen. Er sah ihr wieder in die gelangweilten blauen Augen. Er wollte, dass die Kleine ihm ein Stück Mandarine anbot, aber das tat sie nicht.

»Warum lasst ihr es nicht einfach für ihn hier?«, sagte sie. »Auf ihn ist Verlass. Ist immerhin Billy Marr.«

Kostya lachte. »Auf gar keinen Fall.«

Sie spuckte einen Kern aus und ging Richtung Nebenzimmer. »Wenn ihr einen Moment wartet, mach ich ein paar Anrufe. Irgendwo wird er ja stecken.«

Es lief darauf hinaus, dass sie eine Stunde warteten. Gianni und seine Freunde zogen sich in ein anderes Zimmer zurück, und sie schnappten sich das Sofa. Kostya legte einen Arm um Montys Schultern und flüsterte dem Jüngeren ins Ohr: »Sehr dumm, was du gemacht hast.«

Monty konnte die Minze von Kostyas Mundwasser riechen und darunter Knoblauch. »Was hab ich denn gemacht?«

»Wir kennen diese Leute nicht, und du sagst ihnen: ›Zwölftausend Dollar. Du sagst ihnen: ›Wir sind Freunde von Uncle.‹ Du hast sie noch nie gesehen, und du sagst ihnen, was wir machen. Sehr dumm. Arsch mich nicht an, hörst du? Du weißt, dass ich schon zwei Mal drin gewesen bin. Ich will nicht den Rest meines Lebens in Gefängniswäscherei arbeiten.«

Sie sahen zu, wie ein Drachenflieger in Mexiko in eine Bergwand krachte, ein Hubschrauber in einen Fluss stürzte, einem Militärtransporter bei der Landung der Vorderreifen platzte und das Ding auf der Nase in einen Hangar rutschte.

»Herr im Himmel«, sagte Kostya. »Wer guckt sich so was an?«

Schließlich erschien die Kleine wieder, in schwarzen Nylon-Sportsachen und Basketballschuhen.

»Er hat gerade angerufen, er ist im Pierre. Habt ihr ein Auto? Ich kann euch die Zimmemummer geben.«

»Wir haben ein Auto«, sagte Kostya und stand auf. »Dann mal auf zu Mister Movie Star.«

Als sie vor Billy Marrs Zimmer im vierten Stock des Pierre Hotels ankamen, wurde die Tür von einem Wagen des Zimmerservice offen gehalten. Ein gänzlich unversehrter Hummer lag auf einem Algenbett, der eine leblose Fühler in eine Schale mit geschmolzener und wieder erstarrter Butter gesackt.

»Arme Sau«, sagte Kostya. »Völlig umsonst gestorben.«

Sie schoben den Wagen in den Flur und machten die Tür hinter sich zu. Drinnen war es dunkel. Billy Marr stand beim Fenster, rauchte eine Zigarette und sah sich den nächtlichen Verkehr auf der Fifth Avenue an. Er trug ein weißes T-Shirt und schwarze Jeans. Er war in Montys Alter, schlank und feingliedrig und berühmt für ein Lächeln, bei dem die Frauen alles vergaßen. Aber in der Dunkelheit sah er nichts sagend aus, ein schmaler Schatten. Er wandte sich um und winkte seine Besucher näher.

»Ihr seid von hier?«

»New York?«, fragte Monty.

Billy Marr lachte. »Dass ihr nicht vom Pierre Hotel seid, hab ich mir schon gedacht.«

»Ich bin aus Ukraine«, sagte Kostya. »Mein Freund, er ist aus New York.«

»Wo ist das Dakota?«, fragte der Schauspieler und zeigte zum Fenster.

Monty zeigte auf eine Reihe Gebäude am anderen Ende des dunklen Central Parks. »Da drüben. Wo genau, weiß ich nicht.«

»Da hat John Lennon gewohnt, zusammen mit Yoko Ono. Da ist er erschossen worden. Ich will da morgen mit meiner Freundin hin. John Lennon war ein Gott.«

Toller Gott, dachte Monty, der sich in seinem eigenen Block über den Haufen schießen lässt.

»Hört zu, Brüder«, sagte Billy Marr. »Ich fall jeden Moment um. Vor zehn Stunden war ich noch in London am Saufen.«

»Wir sind so weit, wenn Sie es sind«, sagte Kostya und lächelte. Seine falschen Vorderzähne leuchteten unnatürlich weiß.

Billy Marr starrte sie für einen Moment an, dann lachte er. »Ach klar, das Geld. Mein Gehirn ist immer noch in England.« Er zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche und holte einen Scheck heraus.

Nun war es an Kostya zu lachen. »Wir nehmen keine Schecks, Mr. Marr.«

»Ihr macht Witze.« Der Schauspieler runzelte die Stirn. »In LA bezahl ich immer mit Scheck.«

Kostya zuckte die Schultern. »Aber uns nicht, bitte.«

»Ihr denkt, er wäre nicht gedeckt? Ich wisch mir den Arsch ab mit Zwölftausend-Dollar-Schecks.«

»Wir nehmen American Express«, sagte Monty.

»Im Emst?«

»Nein, nicht im Emst. Wir haben uns drei Stunden lang den Arsch aufgerissen, um dich aufzutreiben. Was soll das?«

»Ruhig bleiben«, sagte Kostya und legte Monty eine schwere Hand auf die Schulter.

»Weißt du, wer ich bin?«, fragte der Schauspieler und sah Monty aus zusammengekniffenen Augen an. »Weißt du, mit wem du es zu tun hast. Ich bin Billy Marr.«

»Und ich bin Montgomery Brogan.«

»Ja, klasse. Hört zu«, sagte der Schauspieler zu Kostya. »Geld ist kein Thema. Falls es hier ein Problem gibt, vielleicht gibt's ja eins, vielleicht ist das eine Vertrauenssache, aber Geld ist kein Thema.«

»Das Thema«, sagte Kostya, »ist Geld.«

Billy Marr atmete geräuschvoll aus, dann stieß er Monty seinen Zeigefinger in die Brust. »Ich will dir mal was zeigen, Bruder. Komm mit.«

Kostya ließ Montys Schulter los, und die drei gingen zu einer Seitentür, die das Wohnzimmer mit dem Schlafzimmer verband. »Dass ihr mir ja leise seid«, sagte der Schauspieler und schob die Tür auf.

Der Fernseher war an und goss sein blaues Licht über ein Vierpfostenbett: weiße Laken, Chintz-Federbett, schlafende Frau auf der Seite. Billy Marr ging auf Zehenspitzen zu ihr und sah ihr ins Gesicht. Langsam, langsam zog er ihr das Laken vom Körper, entblößte sie in ihrer schlafenden Nacktheit.

Sie war sehr schön, ihr Gesicht sah in dem Licht sehr zart aus. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Monty hatte das Gefühl, es wäre besser wegzuschauen, aber er schaute trotzdem hin: Er betrachtete ihre Schenkel, den Übergang zur Hüfte, ihre Brüste, die halb von einem Arm verborgen waren, ihren Mund, dessen Lippen leicht geöffnet waren, als wollte sie in dem Traum, den sie vielleicht gerade träumte, etwas sagen. Billy Marr lächelte Monty und Kostya an. Monty wandte sich ab und verließ das Schlafzimmer.

Kostya folgte ihm eine Minute später, kopfschüttelnd. Er trat ganz dicht an Monty heran und flüsterte: »Sie sieht aus wie meine Cousine Zoya. Ich hab dir Fotos gezeigt, nicht? Meine erste Liebe, Zoya. Sie hat einen Arm verloren, war schlimmer Unfall, sehr schlimm. In Fabrik. Aber sie ist immer noch schön. Nur ein Arm, aber schön.«

»Das ist Cassie Whitelaw.«

»Wer?«

»Cassie Whitelaw. Aus dem Fernsehen. Sag bloß, du kennst sie nicht! St. James Infirmary?«

»Der Song von Louis Armstrong?«

»Nein, das ist eine Fernsehserie. Sie ist eine Krankenschwester; sie ist in einen der Ärzte verliebt.«

»Hey«, sagte Billy Marr und schloss leise die Schlafzimmertür hinter sich. »Seht ihr, was mich erwartet, Jungs?«

»Deine Freundin?«, fragte Kostya.

»Zwölftausend Dollar sind ein Klacks für mich«, sagte Billy Marr. »Wenn ihr versteht, was ich meine.«

»Nein«, sagte Kostya. »Bis jetzt nicht.«

»Ich meine Folgendes: Nehmt das Zeug nicht einfach wieder mit. Jede Seite hat was, das die andere gern haben möchte. Oder liege ich da falsch?«

Kostya runzelte die Stirn und sah zu der geschlossenen Zwischentür. »Sie ist Nutte? Sie ist schön, ja, aber niemand ist zwölftausend Dollar schön.«

»Nein«, sagte der Schauspieler. »Ich geb euch das Geld morgen. Das ist sozusagen eine Anzahlung. Sie ist eine Freundin von mir. Ich sag ihr, dass ihr alte Kumpels von mir seid; dann ist sie nett zu euch. Sie ist keine Nutte, sie ist eine Scheiß-Schauspielerin. Sie amüsiert sich gern. Na, wie sieht7 s aus? Abgemacht?«

Monty spuckte aus. »Du kleiner Wichser«, sagte er, »hier Cassie Whitelaws Arsch zu verhökern.«

»Hast du sie noch alle? Scheiße, weißt du überhaupt, mit wem du es zu tun hast?«

»Mit einem kleinen Wichser, der kein Geld hat und in schlechten Filmen mitspielt.«

Billy Marr ballte die Fäuste und trat vor Monty hin. Monty stand da, und der Schauspieler blieb plötzlich stehen und lachte. »Das ist doch hirnlos. Du bist ein Nichts, Mann. Du bist ein popeliger kleiner Dealer, der sich irgendeinen russischen Schläger als Leibwächter mitgebracht hat.«

»Ukrainischen«, sagte Kostya.

»Morgen früh flieg ich nach LA und werde am Flughafen mit einer Limousine abgeholt. Morgen Nachmittag werde ich an meinem Pool in der Sonne sitzen und Champagner schlürfen, und du wirst an der Ecke stehen und irgendwelchen Teenagern deinen Dreck verkaufen. Das ist dein Leben. Du bist Geschichte. Den nächsten Film mit mir schaust du dir im Gefängnis an. Irgendein Dreihundert-Pfund-Nigger wird dir sein Ding in den Arsch rammen, und du wirst mein Gesicht im Fernsehen sehen, und ich werde mir einen grinsen, du Sackgesicht; lachen werd ich.«

»Außer ich knall dich ab heute Abend«, sagte Kostya.

Billy Marr sah den großen Mann an und blinzelte. »Hey«, sagte er. »Schon gut, hey. Das ist nicht so gut gelaufen heute Abend, stimmt's? Wir haben's richtig vermasselt, aber jetzt, wo wir Bescheid wissen, wird uns das nicht noch mal passieren. Stimmt's?«

»Mein Freund hier knallt gern Leute ab, mit denen es nicht so gut läuft«, sagte Monty. »Das macht man so in der Ukraine.«

Billy Marr schwieg für einen Moment. Kostya hatte eine Hand in die Manteltasche gesteckt, und der Schauspieler starrte auf die Manteltasche und schüttelte den Kopf. »Ich geh ins Bett, ja? Ich geh ins Bett, ich geh schlafen, und morgen haben wir die ganze Sache vergessen. Ja?« Er schob die Zwischentür auf und schlüpfte hindurch, machte sie zu und schloss hinter sich ab.

Als Kostya und Monty das Zimmer verließen, nahm Kostya den Hummer vom Servierwagen. Er versuchte ihn sich in die Manteltasche zu stecken, aber der Hummer war zu groß. Also trug er ihn in der Hand, während sie mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren, während sie durch die Halle gingen, während der Hausdiener den Wagen holte.

»Hallo, wie geht's?«, fragte Kostya und schüttelte dem Hummer die Schere. »Ja ja, dieser Filmstar hat dich verarscht, ich weiß. Uns auch. Aber diese Frau, die war schön. Wenn du diese Frau gesehen hättest, ach, du wärst glücklich gestorben.«

Der Hausdiener fuhr mit Montys Corvette vor, und Monty gab ihm zehn Dollar Trinkgeld.

Ein Jahr darauf überfuhr Billy Marr die schöne Cassie Whitelaw und zermalmte ihr beide Beine, als sie ihm nach einer achtzehnstündigen Sauftour die Wagenschlüssel wegzunehmen versuchte. In der Folge musste er eine sechsmonatige Haftstrafe verbüßen, zwei Monate davon in einem nordkalifomischen Rehabilitationszentrum mit heißen Bädern und Beach-Volleyball-Platz.