20
»Na?«, sagt Kostya grinsend. »Hat sie dir gefallen?«
»Sie ist sehr schön«, sagt Monty.
»Hat sie drei Zähne? Häh? Nein, ich glaube, sie hat viele Zähne. Ich glaube, sie hat dir gefallen.«
»Hab ich doch gesagt, oder? Sie ist sehr schön.«
Kostya nickt. »Sehr schön. Komm, Uncle will dich sehen.«
Monty folgt dem Ukrainer den langen, schwach beleuchteten Korridor hinunter. Er hat gerade das Gefühl, nicht richtig da zu sein und alles nur über einen Bildschirm zu erleben, Statik inklusive. Erschöpft sieht er dabei zu, wie ein blasser Schauspieler in der Rolle von Montgomery Brogan vor sich hin stapft. Und obwohl er weiß, dass er Angst haben sollte, kann Monty, der Zuschauer, kein Angstgefühl für Monty, den Schauspieler, aufbringen.
Er hat seit dem Prozess nichts mehr mit Uncle Blue zu tun gehabt; seine einzigen Informationsquellen sind Kostya gewesen, der alles schön redet, und der Rechtsanwalt Gedny. Aber was in Uncle Blues Kopf vorgeht, weiß eh keiner.
Kostya klopft an eine stahl verstärkte Tür und blinzelt Monty zu. Ein Mann mit beginnender Glatze, der eine Zigarette raucht, macht die Tür auf und schließt sie hinter Monty wieder. Er nickt den beiden zu, und sie händigen ihm ihre Pistolen aus. Er prüft, ob sie gesichert sind, schiebt sie sich in den Gürtel, und dann tastet er die beiden sorgfältig ab, die Zigarette zwischen die Zähne geklemmt. Monty hat den Eindruck, dass er nicht nach Waffen sucht. Als er fertig ist, klopft er an die Tür, und sie öffnet sich. Kostya und Monty treten hindurch. Der künftige Glatzkopf folgt ihnen, übergibt ihre Waffen an einen der Zakharov-Zwillinge und geht wieder hinaus, macht hinter sich zu.
Sie stellen eine Wache auf, denkt Monty. Er weiß, dass etwas nicht stimmt, aber er ist zu fertig, um aus dem Durcheinander schlau zu werden. Nur das kräftige Pulsen des Trommelschlags ist hier unten noch zu hören: gleichmäßiges Geschützfeuer in der Ferne.
Monty ist hier schon gewesen, im Büro des Geschäftsführers. Er starrt die Fotografien mit den Berühmtheiten an der Wand an und wartet. Uncle Blue sitzt hinter dem Schreibtisch und liest Zeitung, fährt sich mit der einen Hand dabei durch den schwarzen Bart. Senka Valghobek sitzt vom auf dem Schreibtisch und raucht, sein Bauch wölbt sich schwer unter dem in Auflösung begriffenen Pullover mit dem Rautenmuster — einem Pullover, den ihm seine verstorbene Frau vor zwanzig Jahren gestrickt hat, wie er Monty einmal erzählte. Valghobek nickt den Neuankömmlingen zu und lächelt, lässt seinen abgebrochenen Vorderzahn blitzen, die Augen tief unter einem dicken Pinselstrich von Brauen verborgen. Er zeigt auf die schwarzen Kunststoffstühle, und Monty und Kostya setzen sich. Die rothaarigen Zakharov- Zwillinge stehen hinter ihnen; Monty hat sie nie auseinander halten können. Sie sind Sportler gewesen in ihrer Heimat, Boxer bei der Roten Armee, klein, aber erschreckend schnell. Monty kommt mit ihnen klar, aber er weiß, dass sie Kostya nicht leiden können und ihn für ein Großmaul und einen Lügner halten. Einer der Zwillinge trägt die Pistolen zu Uncle Blue hinüber und legt sie vorsichtig auf den Schreibtisch.
Uncle Blue faltet sorgfältig seine Zeitung zusammen. »Montgomery«, sagt er. »Wie läuft die Party?«
»Ganz gut«, sagt Monty. »Vielen Dank fürs Ausrichten.«
»Als ich das erste Mal ins Gefängnis ging, war ich vierzehn Jahre alt, ein dünner kleiner Junge. Voller Angst. Als ich wieder rauskam, hatte ich einen Bart; ich war ein erwachsener Mann. Ich ging in meine Heimatstadt zurück, ich fand meine Mutter, ich gab ihr einen Kuss. Und sie schrie.« Uncle Blue lächelt. »Sie hat mich nicht erkannt. Ich bin in drei verschiedenen Gefängnissen gewesen, Montgomery, in drei verschiedenen Ländern. Weißt du, was ich dabei gelernt habe?«
Monty schüttelt den Kopf und wartet.
»Ich habe gelernt, dass man besser nicht im Gefängnis ist.«
Kostya lacht. »Das hab ich gewusst, schon bevor ich drin war.«
»Wer spricht denn mit dir«, sagt Valghobek. »Mund halten.«
»Sieben Jahre sind eine lange Zeit«, sagt Uncle Blue. »Manch einer würde viel dafür tun, dass ihm sieben Jahre Gefängnis erspart bleiben.«
Monty wartet.
»Dein Vater ist ein schwer arbeitender Mensch«, sagt Valghobek. »Wo ist seine Kneipe? In Bay Ridge? 86,h Street Ecke Sixth Avenue, richtig?«
»Ja«, sagt Monty.
»Da hat er es wenigstens nicht so weit«, sagt Valghobek. »Er kommt ja praktisch zu Fuß zur Arbeit. Wo wohnt er? 11th Avenue? Und wie war die Querstraße noch mal? 81**? Haus Nummer 802. Habe ich Recht? Erdgeschoss. Muss laut sein, wenn man im Erdgeschoss wohnt. Aber er geht nicht zu Fuß zur Arbeit, stimmt's? Er fährt. Einen Honda, Baujahr 87. Soll ich dir sagen, wie viele Meilen er runter hat?«
Monty erwidert nichts.
»Dein Vater«, sagt Uncle Blue. »Ich mag deinen Vater. Ein hart arbeitender Mann. Er hat Pech gehabt, sehr viel Pech. Es hat mich krank gemacht, was mit deiner Mutter passiert ist. Die ganze Gegend hat sie geliebt. Erinnerst du dich noch an sie, Senka?«
»Sicher. Sie war eine schöne Frau. Ein richtiger Schatz.«
»Ich möchte deinem Vater gern helfen«, sagt Uncle Blue. »Ich könnte jemanden wie ihn gebrauchen, jemanden, der hart arbeitet, dem ich vertrauen kann. Er hat viel Erfahrung, nicht? Er könnte einen meiner Clubs führen und gutes Geld verdienen. Ich könnte etwas für deinen Vater tun. Verstehst du, was ich meine, Montgomery?«
Montgomery lässt den Blick auf den Boden gerichtet und spricht sehr leise. »Du brauchst das nicht zu machen. Ich habe nie irgendjemandem was gesagt. Du brauchst ihn hier nicht zur Sprache bringen.«
»Ich habe dich etwas gefragt, Montgomery.«
»Ich verstehe genau, was du meinst.«
»Ich habe einen guten Job für deinen Vater«, sagt Uncle Blue. »Wir können ihm helfen mit seinen Schulden. Vielleicht kaufe ich die Kneipe, gebe ihm was in der Third Avenue. Was meinst du?«
»Er mag seine Kneipe.«
»Er mag seine Kneipe, na schön. Uns wird schon noch etwas einfallen.«
Uncle Blue sieht sich Montys Waffe an, taxiert ihr Gewicht, zieht den Schlitten zurück. Er nimmt das Magazin heraus, wirft einen Blick auf die oberste Patrone, schiebt das Magazin wieder in den Griff.
»Gute Waffe. Zielgenau?«
Monty nickt.
»Polymerrahmen, sehr gut, leicht zu reinigen. Und zuverlässig? Keine Ladehemmungen?«
Monty schüttelt den Kopf. In seinen Gedärmen verschiebt sich etwas.
Uncle Blue lächelt. »Hast du je damit geschossen? Auf einen Menschen, meine ich.«
»Nein.«
»Nein. Gut. Sie ist ein Spielzeug für dich. Kein Spielzeug, ein Requisit. Ein Requisit für dich. Wie bei einem Schauspieler. Oder irre ich mich da? Mit der Waffe kommst du dir... gefährlicher vor?«
»Ich hab nie irgendjemandem ein Wort gesagt. Sie wollten über mich an dich ran. Ich weiß es, du weißt es. Um mich ging's denen nicht. Aber ich hab nie ein Wort gesagt.«
»Ich glaube dir«, sagt Uncle Blue. »Wenn du drin bist, Monty, dann krieg raus, wer wer ist. Such dir jemanden, den niemand beschützt, der keine Leute hat. Und verprügle ihn, bis ihm das Blut aus den Augen kommt. Sie sollen denken, dass du ein bisschen verrückt bist, aber auch Respekt hast, Respekt vor den richtigen Leuten. Du siehst gut aus, du wirst es nicht leicht haben da drin. Aber denk dran, ich war vierzehn beim ersten Mal. Und ich hab's überlebt.« Er nickt und starrt Monty in die Augen. »Wir tun, was wir zum Überleben tun müssen.«
Uncle Blue zeigt auf Kostya, und die Zakharov-Zwillinge packen den Ukrainer von hinten und werfen ihn zu Boden. Der eine rammt Kostya das Knie ins Kreuz, der andere drückt Kostya den Lauf seiner Pistole hinters Ohr. Sie sagen etwas zu ihm, auf Russisch, und der große Mann bleibt ganz still liegen, das Gesicht gegen den nackten Betonboden gepresst.
Uncle Blue sieht sich das an, dann nickt er Monty wieder zu. »Du hättest es uns sagen sollen.«
»Hätte euch was sagen sollen?«, fragt Monty. Er sieht nicht zu Kostya. Er will ihn nicht sehen. Er will sie nicht hören, diese angstvollen, rauen Atemzüge.
Vaghobek schüttelt den Kopf und stößt den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Wie viele Leute haben von dem Versteck im Sofakissen gewusst? Häh? Deine Freundin, Kostya, wer noch? Du musst doch längst draufgekommen sein.«
»Monty«, jammert Kostya, »bitte, Monty...«
Der Zwilling mit der Automatik zieht den Schlitten zurück, eine Patrone gleitet in die Kammer, aber Kostya jammert trotzdem weiter: »Monty, bitte, Monty...«, bis ihm der andere Zwilling das Gesicht in den Beton rammt, zwei Mal.
Monty schließt die Augen.
»Kostya hat dich verkauft, Brüderchen«, sagt Uncle Blue. »Er hat mal kurz telefoniert und dir sieben Jahre deines Lebens weggenommen.«
»Das weiß ich doch.«
Uncle Blue fixiert Monty durch den Zigarettenrauch hindurch. »Du hättest es uns sagen müssen.«
Monty öffnet die Augen und erwidert das Starren. »Ihr hättet selbst draufkommen können. Du hast mir gesagt, ich soll ihm vertrauen, also hab ich ihm vertraut, und das hat mir sieben eingebracht. Ihr habt so lange gebraucht, es rauszukriegen? Die hatten ihn auf dem Kieker, und er kann sich kein Verfahren mehr leisten, also hat er mich verpfiffen. Was soll daran so kompliziert sein.«
»Ich begreife dich nicht«, sagt Valghobek. »Dieser Mann, diese Nutte, hat dich an die Bundestypen verkauft, und das ist dir egal? Du hältst die andere Wange hin? Warum hast du uns nichts davon gesagt?«
»Ihr habt mich nicht gefragt.«
Uncle Blue wedelt den Rauch zwischen ihren Gesichtem weg und beugt sich vor. »Eine Ratte abzuknallen, macht dich noch nicht.selbst zu einer Ratte. Ausgleichende Gerechtigkeit.« Er nimmt Montys Waffe vom Usch und gibt sie Valghobek, der trägt sie zu Monty hinüber.
»Ich will sie nicht.«
»Sie gehört dir«, sagt Uncle Blue. »Weißt du, wie man damit umgeht?«
Valghobek hält die Pistole am Lauf und wartet, ein kleines Lächeln auf den Lippen, bis Monty sie ihm wegnimmt und aufsteht.
»Ich weiß, wie man damit umgeht.«
»Gut«, sagt Uncle Blue. »Dieser Mann hat es nicht verdient, am Leben zu bleiben. Er hat dich betrogen, er hat mich betrogen. Er hat dich bestohlen. Er hat dir sieben Jahre gestohlen. Mach ihn kalt.«
Monty kommt das alles bescheuert vor, bescheuerte Männer, die bescheuerte Spiele spielen, die eine Riesensauerei anrichten mit ihren Bedrohungen und Betrügereien und keinen einzigen vernünftigen Grund dafür haben. Dumpfe Schläger, die Sprüche zum Besten geben, die schon endlose Generationen von dumpfen Schlägern zum Besten gegeben haben.
Der Zakharov-Zwilling mit der Waffe klopft mit der Mündung an Kostyas Hinterkopf, dort, wo Schädel und Wirbelsäule aufeinander treffen. »Genau hier«, sagt er. »Geht schnell.« Er richtet sich auf und entfernt sich. Sein Bruder hält Kostya immer noch am Boden; er nickt Monty zu und sieht ihn an.
Monty hockt sich neben den Ukrainer und hält ihm die Waffe ins Genick. Kostya bringt mühsam den Kopf herum. Ihm läuft Blut aus der Nase. »Monty...«
»Mund halten.«
»Hör zu, Monty, bitte hör zu. Ich hatte keine Wahl. Ich...«
»Du hattest eine Wahl«, sagt Monty. Er sieht seinem alten Freund in die Augen und spürt kein Mitleid, kein Mitleid mit diesem Mann, der Wodka mit ihm getrunken hat, der ihn in russische Restaurants in Brighton Beach mitgeschleppt und ihm das Fluchen in drei Sprachen beigebracht hat.
Monty kommt es so vor, als wäre die Rache die einfachste aller Freuden, die verständlichste: Jemand verletzt dich, du zahlst es ihm heim. Und würde es die Sache nicht leichter machen, die sieben Jahre in einem Käfig, wenn man wüsste, dass der Mann, der einen dort hingeschickt hat, nicht am Strand in der Sonne liegt und den Wellen lauscht, nicht in der Raw Bar an der Grand Central Station sitzt und Austern aus der Schale schlürft, nicht die Hockeyspieler anbrüllt, den Puck abzugeben, dass er gar nichts mehr tut, Punkt.
»Es spielt keine Rolle mehr«, sagt Monty und sichert die Pistole. »Was soll das noch? Ich hätte dir das mit Kostya vor sieben Monaten erzählen können. Da war es zu spät, und es ist heute zu spät. Ihr bringt ihn um, ihr beerdigt ihn, ich geh trotzdem nach Otisville. Was soll das also noch?« Er wirft Uncle Blue die Pistole zu, der fängt sie auf und runzelt die Stirn.
»Pass auf dich auf«, sagt Uncle Blue.
»Ich pass schon auf mich auf. Und du pass auch auf dich auf. Du hältst mich für weich, stimmt's? Du hältst mich für weich?«
»Monty«, sagt Valghobek. »Überleg dir lieber, was du sagst.«
»Nein, warum denn. Ist mir doch egal. Ist mir alles scheißegal, bloß eines nicht: Wenn meinem Vater irgendwas zustößt, dann bring ich euch beide um.«
Der eine Zwilling fragt etwas auf Russisch, aber Uncle Blue hebt die Hand.
»Mach nur«, sagt Monty. »Gib ihm den Befehl, wenn du das unbedingt willst. Aber wenn ich aus diesem Zimmer rausgehe, sind wir fertig miteinander. Hörst du? Ich bin draußen, mein Vater ist draußen.«
»Das ändert überhaupt nichts«, sagt Uncle Blue und winkt zu Kostya, der dort liegt und leise weint. »Damit rettest du niemanden.«
»Willst du mich gehen lassen oder nicht?«
Uncle Blue trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. Valghobek steckt sich die nächste Zigarette an, löscht das Streichholz mit einer Bewegung des Handgelenks und wirft es auf den Boden. Alle warten. Der Basslauf ist kaum zu hören hier unten, aber Monty kann die Vibrationen in seinen Knochen spüren. Ein Glas Wasser auf dem Tisch zittert sachte.
»Denk daran, was ich dir gesagt habe«, sagt Uncle Blue. »Ein Mann ohne Freunde.«
Er nickt Valghobek zu, der zur Tür hinübergeht und sie öffnet. Valghobek bläst einen perfekten Rauchring, und Monty sieht zu, wie er wabernd aufsteigt, zu den Leuchtstoffröhren hinauf.
»Na los«, sagt Valghobek. »Du verpasst deine Party.«