3
»Die Türken pflegten ihren Kriegsgefangenen Körbe aus Metall im Schritt festzubinden. Mit einer lebendigen Ratte im Korb. Kannst du dir das vorstellen? Was macht so eine Ratte dann? Sie frisst sich ihren Weg in die Freiheit, frisst sich durch Hodensack, Muskeln, Fettgewebe. Stell dir vor, wie sie dann dem Gefangenen aus dem Bauch rausguckt, ganz glitschig von seinen Eingeweiden. Stell dir das bloß vor.« LoBianco lacht. »Mit den Türken hat niemand einen Krieg riskiert.«
Jakob schreibt mit roter Tinte eine 73 auf einen Vokabeltest und überträgt die Zahl in sein Zensurenbuch. Er sieht auf die Uhr, schiebt die Kappe auf den Stift, sammelt seine Bögen ein und dreht sich zu LoBianco herum, der am anderen Ende des Lehrerzimmers neben einer nicht eingeschalteten Lampe sitzt, die grauen Haare fast bis zum Schädel abgeschoren, die langen Ohrläppchen wie Tropfen über seinen schmalen Schultern. Auf der Pinnwand hinter ihm lauter Ankündigungen: Fachbereichskonferenzen, Aufsichtsverteilung für die Disco und die Busabfahrten, der wöchentliche Speiseplan.
»Wieso sitzt du denn im Dunkeln?«, fragt Jakob.
»Damit ich nicht lesen kann«, erwidert LoBianco und schwingt einen Packen Prüfungsarbeiten. »Noch ein einziger Absatz über den Heroismus des Atticus Finch, und ich kriege ein Aneurysma.« Er seufzt. »Seit dreißig Jahren unterrichte ich dieses Buch jetzt. Ich würde der Harper Lee gern die Türken auf den Hals hetzen. Das wär ein Anblick. Für Frauen hatten sie bestimmt Spezialtechniken.«
Jakob fährt mit einem ungepflegten Fingernagel die Rippen des beigefarbenen Cordsofas entlang. Er hat den alten Tweed-Blazer seines Vaters an, eine Nummer zu groß, die Ellbogen mit Kreidestaub gestreift. Dreißig Jahre, denkt er. Dreißig Jahre, aufgeteilt in Trimester und Ferien, dreißig Jahre Cafeteria-Menüs und schlechter Kaffee, Nachsitzen und Lehrerkonferenzen. Ein Leben, gegliedert in die Unterrichtsstunden Eins bis Acht.
Vor dem Lehrerzimmer schrillt die Klingel los, und auf einmal birst das Schulgebäude von Lärm, vom Trommeln der Stiefelabsätze auf dem Linoleum, vom Radau der Jungen auf der Treppe, von einem Mädchenchor im Gang, der den Titelsong einer Sitcom schmettert.
»Hör nur«, flüstert LoBianco. »Die kleinen Monster sind frei.«
»Sag mir doch noch mal, warum du Lehrer geworden bist. Wie steht's damit, Anthony?«
»Wegen der vielen Möglichkeiten, Kinder zu belästigen.«
Jakob lacht und schüttelt den Kopf. »Als Schüler hab ich mich immer gefragt, worüber ihr hier drin wohl so redet. Über ganz tiefsinnige Sachen, dachte ich. Poesie. Wenn Deering diesen Witz gehört hätte...« Er deutet mit dem Finger eine durchschnittene Kehle an.
»Die können mich gar nicht rausschmeißen. Ich bin der einzige hier, der Grammatik unterrichten kann.«
Die Tür geht auf, und eine Schülerin steckt den Kopf ins Zimmer. Ihre Augen sind schwarz gerändert. »Hey, Elinsky. Ich muss mit Ihnen reden.«
»Haben Sie ein Klopfen gehört, Mr. Elinsky?«
»Aber ganz gewiss nicht, Mr. LoBianco«, antwortet Jakob.
»Miss D'Annunzio, Sie sind nicht zum Eintreten aufgefordert worden. Bitte gehen Sie wieder.«
»Oh, Mann.« Die Tür fällt ins Schloss. Klopf, klopf, klopf.
»Wer ist da?«, fragt Jakob.
»Mary.«
»Mary wer?« Stille. Jakob seufzt. »Mit Pointen hat sie's nicht so. Kommen Sie rein.« Mary betritt das Zimmer und steht mürrisch da. »Ach, Mary D'Annunzio. Was für eine nette Überraschung.«
»Haben Sie einen Moment Zeit, Elinsky?« Sie sieht zu LoBianco hinüber, der sich übertrieben räuspert. Sie verdreht die Augen. »Mr. Elinsky?«
Jakob steht lächelnd auf. »Aber ja, selbstverständlich. Worum geht's denn?«
»Ich wollte Sie etwas fragen.«
»Gut. Dann gehen wir mal in mein Büro. Mr. LoBianco, eine Tasse Kaffee, in einer halben Stunde?«
»Sagen wir in einer Stunde, Mr. Elinsky. Ich muss mit Mr. Deering sprechen.«
Jakobs Büro besteht aus einem Klassenzimmer, das er sich mit einem anderen Lehrer teilt. Unter dem Fenster gluckert ein verrosteter Heizkörper. Die Tafel ist mit krakeligen Wörtern bedeckt — drei Jahre Englischlehrer, und Jakob kann immer noch nicht mit Kreide umgehen. An der Pinnwand hängt über ausgewählten Aufsätzen eine Fotografie von Majakowskij, wie er vor den Volksmassen deklamiert.
»So.« Jakob setzt sich auf die Kante seines Tisches und deutet auf einen der Stühle. Er versucht, eine gestrenge Miene aufzusetzen, obwohl er weiß, dass es nichts bringt. LoBianco kann eine randalierende Klasse mit der hochgezogenen Braue zur Ordnung rufen; Jakob möchte am liebsten die Flucht ergreifen, sobald die Neuen anfangen, herumzugrölen und Papierflieger aus dem Fenster zu werfen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte wissen, warum ich für diese Story eine Zweiplus gekriegt habe.«
»Gut, zunächst einmal...«
»Keiner in der Klasse kann schreiben«, sagt Mary und fährt mit den Fingern über die silbernen Namen der Punkrock-Bands auf dem Hefter, den sie auf ihren Knien wippt. »Das wissen Sie genau; fangen Sie bloß nicht...«
»Die anderen lass mal außen vor. Du stehst nicht im Wettbewerb mit ihnen.«
Mary schnaubt. »Toll. Genau das tu ich aber, ja? Ich steh im Wettbewerb mit ihnen. Wenn ich mich bei Colleges bewerbe - davon haben Sie ja vielleicht schon mal gehört —, dann schauen die sich dieses Zeug an, das man Noten nennt. Und wenn man keine guten Noten hat...«
»Sie kriegen Ihre gute Note schon, Mary. Aber was Ihre Story angeht...«
»Hören Sie, eine gute Note reicht mir nicht. Ich kann am besten schreiben von der ganzen Klasse. Also steht mir auch die beste Note von der ganzen Klasse zu. Und das, was ist das? Zwei-plus? Alle anderen schreiben über ihre ScheißWeihnachtsferien, und mir geben Sie eine Zwei-plus?«
Marys nussbraune Augen ertrinken in aufgeschminkten Schattentümpeln; Pennies, die gerade noch sichtbar sind am Boden des Wunschbrunnens. Jakob fragt sich, warum sie und ihre Freundinnen einen dermaßen morbiden Stil bevorzugen; als hätten sie ihn sich nicht von den Frauen auf den Titelbildern der Modezeitschriften abgeguckt, sondern von denen in den Kühlfächern des Leichenschauhauses. Und dann ihre Haare. Wann hat sie sich eigentlich das letzte Mal die Haare gewaschen?
»Die Sache ist einfach die«, sagt er, »dass ich die Note auf der Grundlage Ihres persönlichen Potenzials festlege. Sie haben schon mehr Sorgfalt in den Aufbau Ihrer Storys gesteckt. Diese hier - ich glaube, sie funktioniert einfach nicht.«
»Das soll wohl heißen, versuch nichts Neues, experimentiere nicht herum.«
»Nein...«
»Weil, wenn ich nämlich etwas schreibe, das nicht Ihren Erwartungen entspricht, dann bestrafen Sie mich dafür.« Sie kratzt mit ihren schwarzglänzenden Fingernägeln über den blauen Plastikhefter. Für einen Moment stellt Jakob sich statt des Plastiks die Haut seines Rückens darunter vor.
»Bestrafen?« Er lächelt. »Ich würde eine Zwei-plus keine Bestrafung nennen.«
»Vince Miskella schreibt eine Story über seine sterbende Großmutter, und Sie geben ihm eine Eins. Ich meine - tut er Ihnen Leid, oder was? War das eine Eins aus Mitleid? Ständig schreibt irgendwer irgendwas über seine sterbende Großmutter. Wissen Sie, warum? Nicht, weil es so scheißtraumatisch ist. Sondern weil man so garantiert eine Eins kriegt. Außerdem, wissen Sie, wo Vince an dem Abend war, als seine Großmutter gestorben ist? Auf einer Football-Party, den Mädchen was auf den Arsch geben. Und Sie machen voll einen auf sentimental: »Ach Vince, das war sehr kraftvoll, sehr bewegende Nein, war es nicht. Mir war es egal, Ihnen war es egal, allen war es egal. So was tun Großmütter eben, sie sterben. Und dann schreiben ihre Enkelkinder darüber für die Schule, und die Lehrer sind gezwungen, ihnen dafür eine Eins zu geben.«
»Vielleicht ist das Vinces Art gewesen, um sie zu trauern«, sagt Jakob und versucht, nicht auf die Löcher in ihren zerfetzten Jeans zu starren, auf ihre bleichen Knie, die durch die weißen Fäden lugen. »Jungen fällt es manchmal sehr schwer, ihre... naja, ihre Gefühle zu zeigen.« Was labere ich denn da?, denkt Jakob.
»Wenn Vince mir also was auf den Arsch gibt, ist das seine Art, um seine Großmutter zu trauern?«
Jakob wirft einen Blick zur offenen Tür des Klassenzimmers. Dieses ganze Gerede von wegen etwas auf den Arsch geben macht ihn nervös. Hauptsächlich möchte er einfach fliehen - er weiß genau, dass er sie nie anrühren wird, aber schmutzig kommt er sich trotzdem vor, ein alter Perversling, der Schulmädchen hinterherhechelt. Mit sechsundzwanzig schon ein alter Perversling.
»Manchmal betrinken die Leute sich, weil sie an etwas nicht denken wollen. Aber«, fügt er hinzu, um nicht wie ein Fürsprecher des Alkoholmissbrauchs zu klingen, »das funktioniert nicht. Die Sache, an die man nicht denken möchte, ist am Ende die einzige Sache, an die man überhaupt denken kann, nur dass man dann schon fast verblödet ist.« Jakob nickt zweimal, um die Folgerichtigkeit seiner Ausführungen zu unterstreichen, und bemüht sich dann, sich zu erinnern, was er gerade gesagt hat.
»Kann sein«, sagt Mary. »Der Punkt ist, diese Story ist gut. Vielleicht ist sie nicht perfekt, aber sie ist besser als alles, was die anderen vorgelegt haben.«
Jakob schaut auf Marys schmale Handgelenke hinab, um das eine schlingt sich eine auftätowierte Rosengirlande.
»Was hat Ihre Mutter gesagt, als Sie damit angekommen sind?«
»Als ich womit angekommen bin?«
»Mit Ihrer Tätowierung«, sagt Jakob und zeigt darauf.
Mary betrachtet einen Moment lang ihr Handgelenk. »Sie hat gesagt: › Woher hattest du das Geld dafür?‹«
»Oh. Und?«
»Und was habe ich gesagt oder wo hatte ich das Geld her?«
»Na ja, was Sie gesagt haben, würd ich meinen.«
»Ich hab gesagt, der Typ hat's umsonst gemacht.«
»Und? Hat er?«
»Nein. Warum wollen Sie das überhaupt wissen?«, fragt sie, eher sauer als misstrauisch.
»Reine Neugierde.«
»Dann werden Sie die Note also nicht raufsetzen?«
Jakob schüttelt den Kopf. »Nein, werde ich nicht.«
»Klasse.«
Sie steht auf und schiebt sich eine schlaffe Haarsträhne aus der Stirn. »Was für 'ne Zeitverschwendung.«
»Hören Sie, wollen wir nicht lieber über die eigentliche Story reden, anstatt uns nur über Ihre Note zu streiten? Haben Sie sie dabei? Ich zeig Ihnen, was daran meiner Meinung nach nicht funktioniert, und Sie können...«
»Ich hab Probe«, sagt sie und stampft aus dem Klassenzimmer. Jakob lauscht den leiser werdenden Tritten ihrer Kampfstiefel.
Diesem Mädel, denkt Jakob und starrt dabei auf seine ungeschickten Kritzeleien an der Tafel, sollte man einmal ordentlich den Hintern versohlen. Die ungehörige Vorstellung lässt ihn grinsen.
Eine Stunde später sitzt er neben LoBianco auf einem Barhocker und bläst über die Schaumkrone auf seinem Glas Bier. Sie befinden sich in einer der letzten klassischen Kneipen der Amsterdam Avenue, komplett mit gefrosteten Fenstern, Kassettendecke aus Blech und einer Holzverkleidung, auf der sich der Zigarettenrauch von Jahrzehnten niedergeschlagen.hat. Frauen sieht man hier selten. Jakob nimmt an, dass die alten Männer ringsum allesamt schwul sind, aber nach einem Abschleppladen sieht die Kneipe nun gar nicht aus. Eher wie ein Wartezimmer, nur dass Jakob keine Ahnung hat, worauf sie warten.
»Was ist heute für ein Tag?«, fragt er. »Donnerstag? Der Januar ist fast vorbei. Noch vier Monate bis Juni.« Jakob trägt eine abgewetzte Yankees-Mütze, an deren Schirm er immer wieder zieht wie ein Coach an der dritten Base, der einen Durchlauf signalisieren will.
»Darauf trinken wir einen«, sagt LoBianco und nimmt einen ordentlichen Schluck von seinem Wodka mit Eis. »Jeder Tag bis zu den Großen ist ein Tag zu viel, hmm?«
Früher hat LoBianco vielleicht einmal gut ausgesehen, aber damit ist es vorbei, dank Alkohol und lebenslänglich Klassenzimmer mit Kunstlicht. Sein Gesicht zeigt kaum einmal einen anderen Ausdruck als müde Verachtung, als hätte er gerade kräftig herumgeätzt oder wolle jeden Moment damit anfangen oder hätte gerade beschlossen, dass diese Dumpfbacken um ihn herum es überhaupt nicht wert sind, dass er über sie herzieht. Jakob denkt manchmal, der alte Bursche habe sich vor Jahren ab und zu vor den Spiegel gestellt und eine Bandbreite von Gesichtsausdrücken ausprobiert - abgrundtiefe Verachtung, kaum verhohlener Ärger, herablassende Belustigung -, und sich schließlich für müde Verachtung entschieden.
Als ehemaliger Schüler von LoBianco weiß Jakob, wie einschüchternd dieser Ausdruck sein kann. LoBiancos Klassen zerfallen in zwei Lager: die schweigenden Massen, die zu viel Angst vor der Blamage haben, um den Mund aufzumachen, und die wenigen Mutigen, die sich melden und tapfer ihre Meinung über den jeweiligen Text zum Besten geben. Die größte Belohnung, mit der letztere rechnen können, besteht darin, dass LoBianco den Sprecher kurz ansieht, den Blick zur Decke richtet und sich dann zu einem knappen zustimmenden Nicken herablässt, in seltenen Fällen sogar zu einem leisen: »Ja, da ist etwas dran. Interessant.« Ein solcherNachtrag zur eigenen Wortmeldung hat den jungen Jakob immer in helle Aufregung versetzt, und er hat sich den Satz dann meistens aufgeschrieben und mit einem Stern für besondere Brillanz versehen.
Himmel, was für eine Pflaume, denkt er jetzt und taxiert sein Spiegelbild hinter den ordentlich aufgereihten Flaschen, sein schmales, spitzes Gesicht dort zwischen den Whiskey- Etiketten. Sein Gesichtsausdruck, stellt er unerfreut fest, läuft auf nervöse Unruhe hinaus. Ich seh aus wie ein Frettchen, denkt er, ein vorpubertäres Frettchen mit einer Yankees-Mütze auf dem Kopf. Er zieht die Nase kraus und zeigt die Zähne. Ein Nagetier, eindeutig.
»Sind Frettchen Nagetiere?«, fragt er.
»Ob Frettchen Nagetiere sind? Wie sind wir denn jetzt vom Juni zu Frettchen gekommen?«
»Findest du, dass ich wie ein Frettchen aussehe?«
LoBianco sieht Jakob prüfend ins Gesicht und nickt. »Ein bisschen.«
»Ein bisschen wie ein Frettchen. Toll. Dankeschön.« Jakob beugt sich über den Tresen und zieht ein rotes Plastikschwert aus dem Glas mit Cocktail-Spießen. »Also, D'Annunzio«, sagt er und bohrt sich nachdenklich mit dem Schwert im Daumen. »Was hältst du von ihr?«
LoBianco schmunzelt. »Was hältst du denn von ihr, Jakob?«
»Weißt du was? Ich glaube wirklich, dass wir eines Tages - also in ferner Zukunft, natürlich — rumsitzen und sagen werden: ›Ich hatte die Mary D'Annunzio in meiner Englisch- Klasse.‹«
LoBianco schweigt für einen Moment, rollt Eiswürfel auf seiner Zunge herum. Er zerkaut sie und leckt sich die Lippen. »Weißt du, was ein Mann nie fragen darf, wenn er Reizwäsche kaufen geht?«
»Nein, was denn?«
»Gibt's das auch in Kindergrößen?«
Tief in Jakobs Bauch verkrampft sich etwas. »Was soll das denn heißen?«»Überhaupt nichts. War bloß ein Witz.«
»Was soll daran denn witzig sein?«
LoBianco zückt das eigene Cocktail-Schwert und fuchtelt drohend damit vor Jakobs Gesicht herum. »Habe ich Eure Ehre verletzt? Verlangt Ihr Genugtuung? Ha? Sollen wir uns duellieren?«
»Da läuft nichts zwischen Mary D'Annunzio und mir.«
LoBianco hört gar nicht zu. Er sticht Jakob ins Bein, und das Schwert zerbricht.
»Autsch! Das hat wehgetan, Mann!«
»Krieg dich ein. Noch einen Wodka, bitte!«, ruft LoBianco dem Barmann zu. »Und ein alkoholfreies Bier für unseren Freund mit dem mädchenhaften Teint.«
»Ich blute«, sagt Jakob und untersucht das winzige Loch in seinem Hosenbein.
»Ja, Donnerwetter. Trink dein Bier und krieg dich ein.« LoBianco starrt sein zerbrochenes Schwert an und seufzt. »Wir haben alle unsere Probleme, weißt du. Jeder Einzelne«, fügt er unheilvoll hinzu.
»So wird's wohl sein«, grummelt Jakob. Jetzt fühlt er sich schuldig wegen seines Selbstmitleids. Morgen früh kommt Monty ins Gefängnis; Jakob versucht sich das vorzustellen. Ein Richter in einer schwarzen Robe verkündet den Urteilsspruch, und zack, sind sieben Lebensjahre hin.
»War heute zum Beispiel nicht meine große Besprechung mit Deering?«
Jakob sieht auf. »War heute nicht deine große Besprechung mit Deering?«
LoBianco schmunzelt. »Heute war meine große Besprechung mit Deering. Und weißt du, was er zu mir gesagt hat?« LoBianco wartet, wirft einen Blick auf Jakob, der in Gedanken schon wieder woanders ist. »Rate mal.«
Jakob senkt den Kopf auf den Tresen und kommt wieder hoch, eine Papierserviette vor den Lippen. Er atmet aus, und die Serviette flattert zu Boden.
»Was denn?«
»Er hat gesagt, wenn ich meine Trümpfe richtig ausgespielt hätte, dann hätte ich Fachbereichsleiter werden können. Meine bescheidene Person. Stell dir vor. Habe meine wahre Berufung verpasst. Diese geballte Macht, dieser Berg von Verantwortung. Ich hätte der Leiter des Fachbereichs Englisch werden können - ›wenn nur meine bösen Träume nicht wären‹.«
Jakob hebt die Hand. »Macbeth?«
»Falsch«, sagt LoBianco. »Und dann kommt er wieder mit seiner kompletten Philosophie-Vorlesung, die ich mir jetzt seit neunzehn Jahren anhören darf, von Sokrates bis William James. Er besitzt die Fähigkeit, voller Autorität über Themen zu reden, von denen er absolut nichts versteht.« LoBianco trinkt von seinem Wodka. »Das bewundere ich. Aber seine anderen Qualitäten sind weniger einnehmend.«
»Diese Geschichte läuft überhaupt nicht auf eine Pointe hinaus, stimmt7s?«
»Das ist keine Geschichte« - LoBianco schnaubt - »das ist ein Haufen Schwulst. Und du sollst ihn dir einfach nur schweigend anhören. Wo war ich?«
»Sokrates. William James. Philosophie-Vorlesung.«
»Schwupps, sind wir also von seiner Analyse meines Versagens in Sachen Fachbereichsleitung bei einer ungekürzten Geschichte der Philosophie des Westens gelandet. Und ich sitz bloß da, mach ein höflich konzentriertes Gesicht, nicke ab und zu und sage: ›Verstehe‹ und ›Ja, das leuchtet ein‹. Deering hat meine stagnierende Karriere in einen angenehmen Blickwinkel gerückt. Der Trost der Philosophie vermutlich.« LoBianco runzelt die Stirn, wirft einen prüfenden Blick auf seine Fingernägel und säubert sie mit seinem abgebrochenen Cocktail-Schwert. »Ich hatte nie jemand werden wollen, der sich Cartoons aus dem New Yorker an die Bürotür pinnt. Aber genau das ist aus mir geworden. Hätte diese Schlampe Ferlinghetti mir nicht...«
»Oh nein nein nein, jetzt fang nicht wieder...«
»Dieser miese Dieb!«, brüllt LoBianco. »Hockt da in seinem berühmten Buchladen, der Weise von San Francisco, der letzte Beatnik-Dichter. Dichter? Dichter?«
Das Leben des Anthony LoBianco zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er 1958 in der White Horse Tavem durch Lawrence Ferlinghetti um den wohlverdienten Ruhm gebracht worden ist. Wie es heißt, waren der junge Anthony und seine Kumpels gerade in jenem berühmten Etablissement am Trinken, als ihm Das Wort offenbart wurde. Und Anthony stürmte im Fieber der Inspiration durch die saufende Literatenschar, entriss einer entsetzten Bedienung Stift und Serviette und schrieb sie nieder, seine Epiphanie. Dann kehrte er, die Serviette im Triumph über dem Kopf schwenkend, zu seinen Zechgenossen zurück und verkündete: »Gentlemen, ich habe den Titel für mein Buch.«
Am Tresen drehte sich ein Fremder herum und sagte ein wenig spöttisch: »Dann lassen Sie mal hören.«
»Sir«, erklärte der junge Anthony stolz, »Ein Coney Island des inneren Karussells.«
An den Rest der Nacht kann LoBianco sich nicht erinnern; wie es scheint, hatten ihn seine Freunde zur Feier seiner Genialität mit Whiskey abgefüllt. Am darauf folgenden Tag begann er mit der Arbeit an seinem epischen Gedicht, schrieb mehrere Monate lang wie in einem Rausch. Es ist sehr filmisch, wie LoBianco das erzählt, der Dichter im Unterhemd, unrasiert, hackt auf seiner mechanischen Schreibmaschine drauflos im vierten Stock eines Hauses ohne Fahrstuhl in der Avenue A, unterbricht nur mal für eine Zigarette auf der Feuertreppe, wo er zu den Saxophonklängen von gegenüber mit dem Kopf wippt, das alles in Schwarz-Weiß. Voll Jack-Kerouac-mäßig. Eines Morgens kehrt der Dichter mit einem Spinatkuchen vom Griechen und einer Zeitung in seine Wohnung zurück. Während er die staubigen Stufen hinaufsteigt, fällt ihm auf den Mittelseiten eine Schlagzeile ins Auge, die Besprechung eines neuen Gedichtbandes. Von Lawrence Ferlinghetti. Mit dem Titel Ein Coney Island des inneren Karussells. Der Dichter starrt auf den Artikel (Nahaufnahme Schlagzeile) und bricht auf dem Treppenabsatz zusammen. Das Saxophon klagt. Ende eines wundersamen Geschicks.
Es ist die klassische Geschichte von bestrafter Hybris, von Göttern in Menschengestalt, und Jakob hört sie gem. Ansonsten krankt die Geschichte natürlich an einer schwerwiegenden Einzelheit - sie kann unmöglich stimmen. Jakob hat es einmal nachgeprüft und herausgefunden, dass Ferlinghetti den Titel aus einem Roman von Henry Miller hat, der Jahre vor dem denkwürdigen Abend in der White Horse Tavern geschrieben worden ist. Jakob lässt sich nie anmerken, dass er die Lüge durchschaut hat, zum einen weil er annimmt, dass LoBianco die Geschichte inzwischen selber glaubt und er den alten Herrn nicht quälen möchte. Zum anderen aber genießt Jakob sein geheimes Wissen. Es verleiht ihm Macht über seinen ehemaligen Lehrer. LoBianco, der sich in mancher Hinsicht so gewieft gibt, ist in anderer Hinsicht schlichtweg dumm, und seine Lügengeschichten strickt er bei weitem zu nachlässig. Jakob stellt sich LoBianco vor, geschlagen, der Vergessenheit überlassen, wie er einer übermannsgroßen Statue von Ferlinghetti mit der Faust droht. Himmel, Anthony, da hättest du aber einen besseren Dichter auftreiben können.
»Weißt du, was mich tröstet«, fragt LoBianco, »wenn ich daran denke?«
Jakob weiß es nicht.
»Dem Kerl ist klar, dass er ein Schwindler ist. Jedes Mal, wenn er in den Spiegel schaut, sieht er einen Plagiator. Meinst du, da kann er gut schlafen, der falsche Dichter? Aber überhaupt nicht.«
Jakob denkt, dass Ferlinghetti wahrscheinlich bemerkenswert gut schläft, aber das verkneift er sich.
»Deering, Deering, Deering... Wo waren wir gerade?«
»Bei den Philosophen«, sagt Jakob. »Wir sind immer noch bei den Philosophen.«
LoBianco hebt seinen Wodka und leert das Glas, dann knallt er es auf den Tresen. »Mister Deering, Sie blasphemisches, selbstgerechtes Männlein; Sokrates ist nicht für Sie gestorben. Aber er hätte natürlich einen erstklassigen Lehrer für die Jungen abgegeben. Keine Frage.« Er kommt schwankend auf die Füße, stellt den Barhocker schräg, deutet Analverkehr an. »Bück dich, mein Sohn. Wenn ich einmal kurz die Methode des Sokrates demonstrieren dürfte. Ich unterrichte sämtliche Arschlöcher Athens! Guter Mann, guter Mann. Lieber ein Sodomit als ein Philosoph. Haben alle Beteiligten mehr von.«
Jakob, der sich gerade fragt, warum er eigentlich nicht gegangen ist, als es am schönsten war, begreift auf einmal, dass die ganzen mittelalterlichen Männer im Raum dieser Vorstellung mit ausdruckslosen Gesichtern Zusehen, als hätten sie diese Handlung schon gesehen, und zwar besser ausgeführt.
LoBianco will sich wieder hinsetzen, verfehlt den Hocker aber; seine Knie knicken ein, und er beginnt zu fallen. Jakob macht einen Satz, bekommt den Älteren um den Brustkorb zu fassen und hält ihn aufrecht. Wie zerbrechlich sein alter Lehrer geworden ist, nur noch Tweed-Jackett und Knochen. LoBianco lebt allein in seiner Apartmentwohnung in Park Slope und hat nie kochen gelernt. Wer versorgt ihn?, fragt Jakob sich. Er muss von Sachen zum Mitnehmen und dem kostenlosen Schulessen leben.
LoBianco reißt sich los, setzt sich schwerfällig, das Gesicht zum Raum, und lehnt sich zurück, bis die Messingstange sein Gewicht trägt. Er gibt vor, von dem Beinahe-Sturz nichts mitbekommen zu haben, aber Jakob sieht die Farbe in seinem Gesicht und weiß, der Mann schämt sich. Trotzdem setzt LoBianco noch einen drauf, lauter jetzt, um seine Demütigung zu verschleiern. »Ein ungeprüftes Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden und so weiter. Stimmt schon. Aber ein geprüftes Leben auch nicht; das hat er unterschlagen.«
Jakob nickt und fragt sich, ob er seinen Freund wohl in ein Taxi wird verfrachten können. Und ob irgendein Taxifahrer bereit sein wird, einen Betrunkenen nach Brooklyn zu fahren. Der Barmann steht am anderen Ende des Tresens, ein Geschirrtuch in der Hand, und sieht LoBianco mit gelangweilter Verärgerung zu.
»Ach, Mister Deering. Wenn Sie mit dem Flugzeug abstürzen, Mister Deering, wenn die Kinder am Schreien sind, wenn die Stewardessen sich in ihren Sitzen zusammenkauern und die Augen zukneifen und ihre Gebete sprechen, wenn der Pilot ins Funkgerät spricht: ›Sagt meiner Frau, dass ich sie liebe‹, wenn die alten Männer sich in die Hosen pissen und die Gepäckfächer aufspringen und die Koffer herauspurzeln und das Flugzeug abstürzt und der Boden näher kommt - wird Ihnen Ihre Philosophie dann ein Trost sein, Mister Deering, oder werden Sie kreischen wie wir anderen alle?«
Mit seiner Tirade am Ende, dreht LoBianco sich auf seinem Hocker herum, kippt den Rest seines Wodkas hinunter und bestellt sich den nächsten. Es ist still hier drin, man hört nur den Barmann seinen Drink einschenken.
»Und warum nun hat er dich sprechen wollen?«, fragt Jakob schließlich.
LoBianco beobachtet den Barmann mit Adleraugen, voller Misstrauen, nur einen Einfachen eingeschenkt zu bekommen. »Hmm? Na ja, er lässt mich eben gehen, Jakob.«
»Er tut was?«
LoBianco sieht auf, eine Braue hochgezogen. »Das kann dich nicht ernsthaft überraschen. Ich erzähle dir seit Wochen, dass meine Tage gezählt sind.«
»Aber das... Wie kann er dich rauswerfen? Du bist der beste Englischlehrer, den wir haben. Außer dir ist doch niemand...«
»Rauswerfen kann man es eigentlich nicht nennen. Er wird am Jahresende bloß meinen Vertrag nicht verlängern. Ich bin teuer, Jakob. Einen von euch Jungspunden kriegen sie jederzeit für halb so viel Geld.«
»Das gehört sich einfach nicht, Anthony! Das dürfen wir nicht zulassen. Wenn alle Lehrer mitmachen, dann kriegen wir eine Riesen-Petition zustande. Alle Schüler werden unterschreiben! Alle Schüler und alle Ehemaligen! Damit kommt er nicht durch. Auf gar keinen Fall.«
»Warum denn nicht? Es ist eine Privatschule, da kann er machen, wozu er Lust hat. Hör mal zu, es ist doch eigentlich am besten so. Was soll ich denn machen, Harper Lee unterrichten, bis ich tot umfalle? Wohl nicht. Ich mach dieses Jahr noch zu Ende, und dann ist Schluss. Keine Prüfungsarbeiten mehr zur Benotung. Keine Vokabeltests mehr. Keine rote Tinte mehr auf meinen Oberhemden. Diese Stigmata des Schullehrers. Schluss mit dem ganzen Zeug.«
»Aber...«
»Lass gut sein, Jakob.« LoBianco steht unsicher auf. »Gentlemen«, ruft er laut, »erheben Sie Ihre Gläser. Wir haben einen Neuling in unserer Mitte, einen jungen Mann, der erst vor wenigen Minuten aus der Dunkelheit ins Licht getreten ist und zum ersten Mal die Freiheit besitzt, seinen wahren Leidenschaften zu frönen.«
»Dann am besten wieder zurück mit ihm in die Dunkelheit«, kommt ein Ruf aus der anderen Ecke.
»Ruhig, Sir. Was ihm an körperlichen Vorzügen mangelt, das macht er mit... nun, mit anderen Vorzügen wieder wett. Er ziert sich noch ein bisschen in seiner Unschuld, aber ich denke, Sie werden ihn überaus bezaubernd finden, wenn er seinen Bammel erst einmal überwunden hat.«
»Warum hältst du nicht einfach die Klappe, LoBianco!«, ruft ein anderer. »Du bringst hier keinen mehr zum Lachen.«
Diese Neuigkeit trifft LoBianco schwer, er wirft einen abfälligen Blick in die Runde und knurrt: »Hierher kommen die Schwuchteln zum Sterben!« Er holt mit seinem Glas zum Wurf aus, überlegt es sich aber und trinkt.
»Dann stirb, LoBianco«, sagt der Mann in der Ecke, »und bring es hinter dich.«
Das ist der eine Ausweg, denkt Jakob. Der andere ist die Tür.