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Die Nase an das Tafelglas gepresst fragt Slattery sich, wie nahe an den Hudson ein guter Sprung ihn wohl bringen würde. Vom einunddreißigsten Stock aus - angenommen, in jedem Stockwerk ist die Decke drei Meter hoch und zwischen Decke und darüber liegendem Boden jeweils ein Zwischenraum von einem halben Meter: 93 plus 15,5 ist gleich 108,5 Meter Fallhöhe. Und wie weit vom Gebäude zum Fluss? Sagen wir 100 Meter. Eine Vertikale von 110 Metern, eine Horizontale von 100 Metern, das wäre eine Hypotenuse von... Slattery runzelt die Stirn. Moment mal. Ein Sprung aus diesem Fenster ist ja keine Rutschfahrt schön die Hypotenuse entlang. Die Schwerkraft wird ihn erdwärts ziehen, sobald sein Schwung verbraucht ist. Ein 100-Meter-Sprung also.

Als Erstes würde er mit einem Stuhl die Scheibe herausschlagen müssen. Die Startlinie müsste an der gegenüberliegenden Wand sein, beim Wasserspender; das wäre ein Anlauf von zwanzig Metern. Das richtige Timing fürs Abspringen ist knifflig: einen Moment zu früh oder zu spät, und er bleibt mit dem Fuß am Fensterrahmen hängen und schlägt einen peinlichen Purzelbaum über die Kante; dann sind Gelächter und Gejohle das Letzte, was er hört im Leben.

Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, denkt Slattery. Er könnte seine Rekordzeit laufen, genau im richtigen Moment abspringen, einen starken Rückenwind erwischen - der Fluss ist trotzdem zu weit weg. Er würde nie bis zum Wasser kommen, nicht einmal in die Nähe. Stattdessen würde seine Anstrengung farbenfroh auf dem grauen Beton enden. Die Fußgänger unten würden seine Fallkurve in Erinnerung behalten, sein seltsames Gestrampel mit den Beinen, wie ein Weitspringer bei der Olympiade. Aber was brächte er schon, dieser Sprung Richtung Hudson. Sekunden nach dem Aufschlag würden die um das geborstene Fenster versammeltenHändler zu ihren Schreibtischen zurückkehren und anfangen, an ihren Sprüchen zu feilen. Binnen Minuten würden sämtliche Investment-Banker Manhattans die Geschichte kennen, auf einen Klappentext reduziert und geglättet, die perfekte Anekdote zum Abendessen mit der Familie und den Freunden: Slatter-Splatter.

Er schlägt mit dem Kopf leicht gegen das Glas, dann richtet er sich auf. Diese ganzen morbiden Fantasien könnten verfrüht sein. Schließlich, so argumentiert er mit sich selbst, hat er die höchste Trefferquote auf dem Stockwerk. Kein anderer Händler in seiner Abteilung hat dermaßen viel Schotter rangeschafft für die Firma. Die Missgeschicke Anfang Juli einmal außen vor gelassen, diese Abfolge entsetzlicher Manöver (und welcher Schläger erleidet nicht mal ein vorübergehendes Formtief?), diese zwei Wochen einmal außen vor gelassen, und Slattery ist der Held hier, das Wunder am Schlagmal, der Hank Aaron des einunddreißigsten Stocks. Es spielt keine Rolle, sagt er sich. In einer Stunde ist alles gelaufen.

Blassblaues Licht spannt sich über den schwarzen Fluss, als hinter dem Haus die Sonne aufgeht und widerwillig die Küste von Jersey zu erhellen beginnt. Über Brooklyn geht sie auf, denkt Slattery und trommelt mit den Knöcheln gegen das Glas. Versau diesen Deal, und du landest wieder in Brooklyn: tschüs, Apartmentwohnung im West Village, hallo, da bin ich wieder, Mom, Dad, Eoin und Tante Orla aus Scheiß-Wicklow, diese Hexe mit ihren Insider-Informationen über absolut alles, was auf diesem Planeten so läuft. Zu jeder Unruhe, die es in der turbulenten Weltgeschichte je gegeben hat, verkündet Tante Orla ihre bittere Meinung. Erwähne eine Agrarkontroverse im alten Sumer, und Orla ergreift beim dritten Wort Partei; sie wird den Feind, diese gottlosen Knallköpfe verfluchen und ein Loblied auf die armen benachteiligten Verbündeten singen und behaupten, entfernte Verwandte unter diesem Haufen zu haben, bei den Akkadinem oder Sonstwiedinem, die ja praktisch die duldsam leidenden Iren Mesopotamiens gewesen sein sollen!Für Slattery stellt jede Transaktion die Wahl zwischen zwei geschlossenen Türen dar. Dreh den falschen Knauf, und die Falle schnappt zu. Dann hockst du wieder in Bay Ridge, schläfst mit dem bescheuerten kleinen Bruder in einem Zimmer und schlürfst deinen Kaffee zusammen mit der ewig zeternden Orla, der einunddreißigste Stock eine rasch verblassende Fata Morgana, und Dad klopft dir auf die Schulter und sagt, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst, einen Job kriegst du doch im Nu, wo dein Cousin Kranfahrer ist.

Slattery setzt sich wieder an seinen Schreibtisch und verschränkt die Hände hinter dem Kopf, den Blick auf die Zahlenkolonnen gerichtet, die seine sieben Monitore hinuntermarschieren. Er drückt ein paar Tasten, und eine Zahlenreihe bleibt stehen, die Schlusskurse der Hongkonger Börse. Slattery reibt sich mit der Faust das Kinn und sieht zu den Wanduhren hinüber, den korrekten Uhrzeiten von Tokyo, Hongkong, Frankfurt, London, New York: 7 Uhr 57 hier an der Ostküste. Eine halbe Stunde noch, bis die Zahlen kommen. Das Stockwerk brummt, überall nervöses Geflüster, wie jeden letzten Donnerstag im Monat. Heute lässt sich viel Geld machen, viel Geld in den Sand setzen.

Slatterys Augen sind mit schwarzen Halbmonden unterlegt. Er steht jeden Morgen um halb sechs auf und fährt zehn virtuelle Meilen auf seinem Heimtrainer. Eine Stunde später ist er im Büro, macht die Kiste an und sucht seine sieben Bildschirme nach Informationen ab, nach Hinweisen, die er gestern Nachmittag vielleicht übersehen hat.

Die braunen Locken haben ihren langsamen Rückzug von der Stirn bereits angetreten. Als Ex-Ringer hat Slattery eine vier Mal gebrochene Nase, Ohren wie Blumenkohl und abgebrochene Vorderzähne von einem versehentlichen Kopfstoß während seines zweiten Jahres auf dem College. Sein Hals ist seit den Trainingstagen kräftig geblieben, im Gegensatz zum Rest seines Körpers. Den obersten Hemdknopf hat er seit der High School nicht mehr zugekriegt.

»Kommst du nachher mit raus?«

Slattery sieht von seinen Bildschirmen auf und nickt seinem Supervisor zu, dem Mann, der ihn vor vier Jahren in die Firma geholt hat: Ari Lichter, das plumpe Gesicht gerötet von den drei Blocks Fußweg von der U-Bahn bis hierher. Er hat einen Wintermantel an, obwohl es heute früh zu warm ist für die Jahreszeit.

»Du schuldest mir zehn Dollar«, sagt Slattery.

»Dir auch einen guten Morgen.« Lichter blättert in seiner Geldbörse, findet einen Zehn-Dollar-Schein, gibt ihn ihm. »Ich will von dir ja nicht die Daumen gebrochen kriegen.«

»Danke, Boss. Nie auf die Sixers wetten — wer so viele Trainer verschleißt.« Slattery zieht den Schein straff. »Bisschen warm für so einen Mantel, oder?«

»Soll später noch schneien. Falls du Lust hast, diesen Haufen Geld wieder loszuwerden, nach Feierabend gehen noch ein paar Leute zu Sobie's und sehen sich das Knicks- Spiel an.«

»Zu Sobie's?« Slattery sieht seinen Boss skeptisch an. »Immer noch auf diese Barfrau scharf?«

»Ich mag den Laden. Die haben gutes Bier.«

»Oh ja, das beste Budweiser der Stadt. Die Kleine ist keine zwanzig. Sie könnte deine Tochter sein, Boss.«

Lichter schüttelt den Kopf. »Pass mal auf, junger Freund, ich bin ein dicker, zufriedener Vörstadtpapa. Und ich halte mich an die Regeln. Aber hinschauen darf ich.«

»Da kannst du mir morgen von berichten«, sagt Slattery. »Heut bin ich mit ein paar Freunden unterwegs.«

»Große Verabredung?«

»Nee, von wegen. Nur so 'ne Art Abschiedsparty.«

Die Erwähnung seiner Pläne für den Abend versetzt Slattery in Unruhe. Bis jetzt hat er es heute Morgen geschafft, jeden Gedanken an Monty mit den Zahlen auszulöschen, den beständigen Risikobewertungen und Risikoneubewertungen. Er fragt sich, was sein Freund wohl mit Doyle machen wird. Die beiden sind unzertrennlich, seit Monty den Hund vor vier Jahren gefunden hat; Monty kann kaum schlafen ohne den Pitbull vor der Schlafzimmertür. Schlimm genug, einen Menschen in eine Zelle zu sperren, ihn von seiner Familie, seinen Freunden, seiner Stadt wegzusperren — könnten sie ihm nicht wenigstens den Hund lassen? Wenn er Doyle hätte, der ihm morgens das Gesicht ableckt, der zur Warnung bellt, wenn jemand Fremdes kommt, der einfach da ist, leise und zufrieden, den Kopf zwischen die Pfoten gelegt, und ihn aus seinen braunen Augen ansieht - dann würden die sieben Jahre vielleicht schneller rumgehen.

»Noch was«, sagt Lichter. »Hältst du immer noch diese ganzen Kontrakte?«

»Ja. Wieso, bist du nervös?«

»Es schmeckt mir nicht«, sagt Lichter. »Die Arbeitslosenzahlen sind jetzt drei Wochen lang gefallen.«

»Und deshalb denken natürlich alle, wenn die gefallen sind, dann müssen massenhaft neue Arbeitsplätze geschaffen worden sein.«

»Ja, genau«, sagt Lichter. »Weil sie damit fast immer richtig liegen.«

Slattery winkt seinem Supervisor mit dem Finger. »Fast immer. Aber diesmal nicht. Ich hab da eine Theorie.«

»Ach Klasse, du hast eine Theorie. Jeder Trottel hat eine Theorie, Frank. Wie man beim Blackjack absahnt, wie man aufs richtige Pferd setzt, wie man den Aktienmarkt aushebelt. Ich hab auch eine Theorie. Willst du sie hören? Sie geht so: Theorien sind Schwachsinn. Tu mir einen Gefallen. Halbiere deine Einlage, ja?«

»Du willst, dass ich fünfhundert Kontrakte abstoße?«

»Fünfhundert? Du hast tausend davon?«

Slattery nickt langsam. »Richtig, Boss. Bist ein schneller Rechner.«

»Zu hunderttausend das Stück? Oh Mann, Frank, dir steht das Wasser ja bis hier...«

»Wieso? Sie haben mich auf hundert Millionen angehoben. Du willst mir doch wohl nicht...«

»Vor einer Woche«, sagt Lichter. »Sie haben dein Limit vor einer Woche erhöht, und du hast es schon voll ausgeschöpft.«

»Ja, wozu kriegt man denn ein Limit, wenn man es nicht ausschöpfen darf?«»Jetzt hör mir mal zu. Halbiere deine Einlage. Ja? Du hast großartige Arbeit geleistet hier, das wissen alle. Sie haben ein Auge auf dich. Ein paar Monate noch vielleicht, und ich darf dir den Kaffee bringen, kann sein. Aber noch bin ich dein Supervisor, und ich sage: Stoß sie ab, diese Kontrakte.« Er drückt Slattery die Schulter, dann geht er, allseits einen guten Morgen wünschend, zu seinem Büro weiter.

Über die Trennwand vor Slattery guckt Marcuse. »Mach lieber los, Sonnyboy.«

Slattery sagt nichts, sondern hackt wütend auf seine Tastatur ein, ruft weitere Tabellen und Schaubilder auf. Aber Marcuse bleibt, wo er ist, das Kinn auf die Trennwand gestützt; ein zeitgemäßes Kilroy-Gesicht. »Ich seh dich nicht zum Hörer greifen«, sagt er. »Hat Lichter nicht gerade gesagt, du sollst verkaufen? Hört sich an, als hätten sie dir das Taschengeld gestrichen.«

Slattery kneift die Augen zusammen, studiert aber weiter die Bildschirme und weigert sich, die Sticheleien zur Kenntnis zu nehmen. Marcuse lässt sich davon nicht abschrecken. »Du willst dich doch wohl nicht einer ausdrücklichen Anweisung widersetzen, oder? Könnte dir immerhin den Bau einhandeln. Für so was brummen sie einem glatt ein paar Jahre Küchendienst auf.«

»Kannst du mich jetzt vielleicht mal in Ruhe meine Arbeit machen lassen? Ich steh ja auch nicht plötzlich bei euch im Schlafzimmer und erzähl dir, wie du deine Frau ficken sollst, oder?«

Marcuse tut so, als wische er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich dachte, du magst meine Frau.«

»Ich mag deine Frau ja auch. Aber die Tatsache, dass sie ausgerechnet dich geheiratet hat, spricht schwer gegen sie.«

»Wir sind wohl ein bisschen gereizt heute, was, Frank? Hey, ich bin auf deiner Seite. Wir arbeiten schließlich alle im selben Team, stimmt's?«

Slatterty rollt in seinem Stuhl zurück und sieht zu Marcuse hoch. »Ich bin zum Arbeiten hier, also tu mir einen Gefallen, ja? Tu mir einen Gefallen und halt die Klappe. Eskommt, wie es kommt; ob du nun deinen Senf dazugibst oder nicht.«

»Du hast's erfasst, Frank«, sagt Marcuse mit einem Zwinkern. »Mach ihnen die Hölle heiß.«

Wenn alles schief geht, denkt Slattery, dann spring ich über diese Trennwand rüber, brech ihm drei Rippen dabei und tröste mich damit, ihn so lange mit den Fäusten zu bearbeiten, bis der Sicherheitsdienst kommt und mich rauswirft. Die anderen hier auf dem Stockwerk würden sich nie einmischen. Marcuse ist weithin verhasst, bei den Empfangsdamen ebenso wie in der Chefetage, was er aus Unternehmenssicht jedoch damit ausgleicht, dass er ein ausgewiesener Profitmacher ist. Selbst wenn es sich um Charlie Manson handeln würde - hätte er ein Händchen für Aktien oder Obligationen, würde ihn jedes Haus an der Wall Street mit Sonderkonditionen umgarnen.

Slattery macht die Augen zu und kneift sich in den Nasenrücken. Ihm ist das Fatale an diesen Gedanken durchaus klar - lass dich nie durch Persönliches von den Zahlen ablenken -, aber wie ignoriert man einen Marcuse, jemanden, der davon überzeugt ist, dass sein Aufstieg von deinem Sturz abhängt? Da wäre es doch wesentlich leichter, über die Trennwand zu setzen, ihn bei der Kehle zu packen und Respekt zu verlangen. Ein bisschen Gewalttätigkeit, um den Druck des zivilisierten Benehmens zu mildern, mehr nicht.

Slattery hat so seine Schwierigkeiten mit dem Loslassen. Nachts träumt er oft davon, sich für tatsächliche oder eingebildete Demütigungen zu rächen, und wacht dann mit einem Gefühl von Befriedigung, von ausgleichender Gerechtigkeit auf, nur um feststellen zu müssen, dass der Ausgleich nur im Traum stattgefunden hat, die Missetaten noch ungesühnt sind. Die Missetaten der Männer, vor denen er den Schwanz eingezogen hat. Einmal war er kurz vor der Polizeistunde noch am Trinken, und ein Rausschmeißer sagte: »Feierabend. Raus.«

»Ich trink bloß noch eben mein Bier aus.«

Der Rausschmeißer schlug Slattery das Glas aus der Hand.

»So. Ausgetrunken.« Zwei andere Packer kamen herüber, bauten sich neben ihrem Kollegen auf.

»Scheiße, was soll das denn?«, fragte Slattery.

»Tu was dagegen«, sagte der Rausschmeißer. Slattery tat nichts dagegen. Er verließ die Kneipe und ging nach Hause und verflucht sich noch heute dafür.

Oder der Mann mit dem irren Blick in der Linie R, der losgeschimpft hat, als Slattery ihm auf den Fuß getreten ist. Slattery entschuldigte sich prompt, aber der Mann stieß ihm das feucht glänzende Gesicht entgegen. »Willst du dich mit mir atilegen, du Sackgesicht? Willst du dich mit mir atilegen?« Slattery hat sich umgedreht und ist weggegangen, und der Mann hat ihm höhnisch nachgerufen: »Hab ich's mir doch gedacht, du Sackgesicht. Mach bloß, dass du wegkommst!«

Das ist jetzt zehn Jahre her. Damals ist Slattery siebzehn gewesen. Jeder vernunftbegabte New Yorker hätte sich einer solchen Auseinandersetzung entzogen - prügle dich nie in der U-Bahn; prügle dich nie mit einem Verrückten -, aber seine Vernunft kann Slattery nicht trösten. Im Kopf spielt er die Begegnung immer wieder durch und denkt sich die perfekte Antwort aus — den perfekten rechten Haken, den perfekten Double-leg Takedown, den perfekten Kopfstoß. Aber der Mann mit dem irren Blick ist weg, ist nicht mehr zu kriegen.

Was Slattery gern hätte, wäre ein auf Beton gemalter Ring mitten in der Pampa. Wo es weit und breit keine Zuschauer gibt, nur ihn und die grinsenden Dämonen. Dann könnte er sich einen nach dem anderen vornehmen — den Rausschmeißer, den Irren in der U-Bahn, alle — und sie in Grund und Boden stampfen oder die Kämpfe vielleicht sogar verlieren, aber mit Würde, und sich so den Respekt all derer verdienen, die ihm keinen hatten zollen wollen. Ich will Frieden, denkt er sich spät in der Nacht. Frieden will ich. Und dann träumt er von Faustkämpfen.

Selbst in der kühlen, sterilen Umgebung der Bankbüros stören diese Gewaltfantasien seine Konzentration. Mit einer Willensanstrengung kehrt er wieder zu den Zahlen zurück, den endlosen Kursen und Chiffren abstrahierten Geldes. Man arbeitet die Chancen aus, berechnet die Wahrscheinlichkeiten, man knobelt und kniffelt — und vergisst allmählich die schiere Größe der Transaktion, vergisst, dass jedes bruchteilhafte Auf oder Ab ein Landhaus an den Klippen von Englewood ausmacht. Slattery hat keine Zeit für solche Erwägungen. Wenn man erst anfängt, die Größe des Waldes zu bestaunen, wird man garantiert von einem fallenden Baum erschlagen; auf den falschen Blickwinkel steht die Todesstrafe.

Slattery begreift sich als Kodeknacker, verbringt seine Stunden mit dem Entziffern der endlos durchrollenden Informationen. Marktentwicklung, Inflationsrate, Erwartungen der Wirtschaftsinstitute, Ankündigungen von Politikern, Bestandsaufnahmen, Wetterbedingungen, Veränderungen im Konsumverhalten — für die Ermittlung des Ergebnisses ist nichts unwichtig. Wie ein Kabbalist sorgfältig die Mosebücher studiert, voller Gewissheit, dass sich in jedem einzelnen Buchstaben eine Welt von Prophezeiungen eröffnet, so genau prüft Slattery seine persönliche Textauswahl. Er weigert sich zu glauben, dass jede abweichende Interpretation der Zahlen begründet sein könnte. In seine Berechnungen, seine Formeln, seine feinsinnige Methode selbst erdachter Vorhersage ist niemand eingeweiht.

Phelan, ein Neuer und gerade mal acht Monate vom College weg, kommt mit einem Becher Kaffee vorbei und wedelt mit einem Fax. »Bei Sollie rechnen sie mit einer Riesenzahl, zweihundert, vielleicht zweihundertzwanzig. Ist grad reingekommen.«

»Scheiß auf Sollie«, sagt Slattery.

Phelan bleibt stehen, guckt auf das Fax und dann wieder zu Slattery. »Scheiß auf Sollie?«

»Die tun uns doch keinen Gefallen, Phelan. Die geben uns nichts, was wir gebrauchen könnten. Du trägst einen gestreiften Schlips zu einem gestreiften Hemd.«

Phelan besieht sich seine Aufmachung. »Ja und? Ist das schlimm?«

»Damit siehst du wie eine beschissene optische Täuschung aus. Mach dich vom Acker.«

Um 8 Uhr 20 geht der Handel mit den Futures los. Hektische Aktivität im gesamten Stockwerk, alles brüllt Aufträge ins Telefon, ruft Zahlen auf, wirft kurze Blicke zu dem Fliege tragenden Reporter im Fernsehen, der gleich die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze verkünden wird. Slattery greift zum Telefon und fängt ein Gespräch mit dem Freizeichen an.

»Slattery!« Lichter steht in der Tür seines Büros, eines richtigen Büros mit Wänden und Fenstern. »Alles klar?«

Slattery nickt und gibt ihm ein Daumen-hoch, während er sein Scheingespräch fortsetzt. Wenn die Zahl auf zweihundertzwanzig hinausläuft, rechnet er, dann verlieren wir anderthalb Millionen. Das entspricht dem Lebensgesamtverdienst seines Vaters; der Lohn von vierzig Arbeitsjahren, verpufft. Er ignoriert den Mann im Fernsehen, der von seinem Skript abliest. Die Zahl wird in der Sekunde auf Slatterys Hauptbildschirm erscheinen, in der sie bekannt gegeben wird. Er streckt sein linkes Bein durch, dass der Knorpel knirscht, legt den Hörer auf und wartet.

Plopp, guckt dieses Arschloch von Marcuse wieder über die Trennwand, und Slattery würde ihm am liebsten eins mit der Keule überziehen wie einem Robbenbaby. »Gut, dass du den Dreck abgestoßen hast. Da scheint eine Riesenzahl zu kommen.«

»Willst du 'ne Wette darauf abschließen?«

Marcuse lächelt breit. »Ich glaub, wir haben schon eine laufen.«

»Eine kleine Nebenwette, nur unter uns beiden.«

»Über wie viel sprechen wir denn?«

»Auf dein Geld bin ich nicht scharf«, sagt Slattery. »Der Verlierer muss dem Gewinner die Schuhe putzen, hier mitten auf dem Stockwerk, jeden Montag im Februar. Vor allen Leuten. Auf den Knien, so wirst du mir die Schuhe putzen.«

»Den ganzen Monat lang?«

»Das schaffst du schon, ist doch der kürzeste Monat des Jahres. Bist du dabei oder nicht?«

Marcuse denkt einen Moment nach und kaut dabei auf dem Radierende seines Bleistifts herum. »Wo liegt die Kippe?«

»Bei hundertneunzig meinetwegen.«

»Hm, nein. Ich könnt mir hundertfünfundachtzig vorstellen.«

Slattery schüttelt den Kopf. »Du bist ein Sackgesicht, Marcuse. Du rechnest mit zweihundert, zweihundertzwanzig, das weißt du genau. Meinetwegen, sagen wir hundertfünfundachtzig.«

Marcuse grinst, streckt die Hand aus, und Slattery schüttelt sie und ist sich absolut bewusst, was für einen Schwachsinn er da verzapft. Keine Wetten im Zorn. Slattery wischt seine Bildschirme mit einem Papiertuch ab, trommelt auf der Seite seiner Tastatur. Er macht die Augen zu und wünscht sich eine niedrige Zahl. Mit hundertneunzig wäre ich aus dem Schneider, auch wenn ich dann diese bescheuerte Wette verliere. Ich würde Verlust machen, aber keinen richtig üblen Verlust; Lichter würde mich zur Schnecke machen, aber richtig übel zur Schnecke machen würde er mich nicht. Zweihundertzwanzig, und bis zum Sommer bin ich Kranführer und darf auf dem Bau irgendwelche Stahlträger rumfahren.

Auf einmal ächzt und stöhnt das ganze Stockwerk. Slattery öffnet die Augen und starrt auf seinen Monitor, blinzelt und schaut zur Bestätigung zum Fernseher hinüber. Hinter der Trennwand brüllt Marcuse hektisch in sein Telefon. Weiter hinten schreit jemand: »Weg damit, Schultz! Scheiße, sofort weg damit!« Und jemand anders: »Jetzt fahr'n wir Achterbahn!«

Im Monat Januar sind einhundertachtunddreißigtausend neue Arbeitsplätze geschaffen worden, rund siebzigtausend weniger als erwartet. Slattery schaut auf seinen Bildschirm, schaut benommen zu, wie die Preise für die langfristigen Schatzanweisungen abgehen, dass es förmlich nach verbranntem Gummi riecht. Binnen neun Minuten springen seine Kontrakte zwei Prozentpunkte nach oben. Slattery macht einen Anruf, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und muss schlucken. Einhunderttausend Kontrakte zu einhunderttausend Dollar das Stück, ein Einhundert-Millionen-Dollar-Posten. Zwei volle Prozentpunkte. Macht zwei Millionen Dollar Profit in neun Minuten.

Er steht auf und schwankt leicht; ihm tanzen helle Lichtpunkte vor den Augen. Er kann spüren, wie Marcuse sich hinter seiner Trennwand duckt und auf die Demütigung wartet, aber Slattery ist zu dankbar, zu erleichtert für solche Spielchen. Langsam verlässt er das Großraumbüro, lässt die Hysterie hinter sich und geht zur anderen Seite des Gebäudes hinüber, zu den nach Osten liegenden Fenstern. Brooklyn ist hinter hohen Häuserreihen verborgen, aber Slattery weiß, dass es dort draußen auf der Lauer liegt. Er schließt die Augen und küsst das Tafelglas.