18
Naturelle findet Slattery an einer Bar in einem versteckten Winkel des Clubs. Er sitzt da, über seinen Whiskey gebeugt, und hält sich mit der einen Hand ein blaues Taschentuch ans Gesicht. Sein schwarzer Kaschmirmantel hängt über dem Nachbarhocker. Der Raum soll an die Bibliothek eines englischen Landhauses erinnern: dunkle Holztäfelung, hohe Regale mit alten ledergebundenen Büchern, flackernde PseudoGaslampen. Mitten im Raum sitzen zwei Männer mit Dreadlocks über einem Schachbrett; der eine klopft seiner Dame nachdenklich auf die Krone, während sein Freund zu D. J. Dusks Rhythmen die schwarze Mähne schüttelt.
»Francis Xavier«, sagt Naturelle und drückt seinen Nacken, »was für eine Party ist das denn?«
Slattery fährt sich mit dem Taschentuch über die Augen, faltet es, stopft es sich in die Hosentasche. Er setzt sich auf und lächelt sie rotäugig an, und Naturelle überkommen Schuldgefühle. Bis zu diesem Augenblick hätte sie sich nie vorstellen können, dass Slattery auch mal weint.
»Hey«, sagt er. »Hab dich tanzen gesehen.«
»Warum sitzt du hier ganz allein herum?« Sie setzt sich auf den Nachbarhocker und berührt ihn an der Schulter. »Alles in Ordnung mit dir?«
Er nickt. »Ich hab's in diesem beschissenen roten Saal nicht mehr ausgehalten. Die reinste Gangsterszene. Lauter Leute, die ich nicht kenne. Das sind Montys Freunde?«
»Glaube schon. Sie lassen sich jedenfalls oft sehen.«
Slattery nickt und schwenkt sein Glas, sieht zu, wie der Whiskey zum Rand hochschwappt. Bei jeder Drehung des Handgelenks sieht es so aus, als würde es gleich eine Sauerei geben, aber die gibt es nicht. Naturelle starrt gebannt auf den rollenden Whiskey, bis Slattery das Glas an die Lippen führt und es leert.»Scheißladen hier«, sagt er. »Das ist die Kluft zwischen mir und deinem Freund. Ich finde solche Läden Scheiße, und er fährt voll auf sie ab. Und außerdem sieht er besser aus.«
Sie lacht. »Jetzt lässt du aber voll den Iren raushängen, Whiskey trinken und in Selbstmitleid baden. Hast du ihn irgendwo gesehen?«
»Habt ihr nicht miteinander getanzt?« Slattery sieht auf die Uhr und flucht. »In einer Stunde muss ich im Büro sein. Herrgott, ich kann mir nicht mal vorstellen, heute zu arbeiten. Du hast mir grad 'ne Grippe angehängt, ja? Ich meid mich krank.«
»Wenn Monty sich bloß krankmelden könnte«, sagt sie und starrt auf Slatterys leeres Glas. »Wo steckt er?«
»Irgendwo wird er schon stecken. Verabschiedet sich wahrscheinlich gerade von den ganzen Rausschmeißern. Und von diesem Manager, wie heißt er noch? Dreht seine Abschiedsrunde.« Slattery schaut zu den Schachspielern. »Seit einer Dreiviertelstunde sitz ich jetzt hier, und dieser Typ hat immer noch keinen Zug gemacht.«
Naturelle schmunzelt. »Kommt dir an dem Spiel nicht irgendwas komisch vor?«
»Er könnte mal seine Türme nach innen ziehen, zum Beispiel. In den Ecken nutzen sie ihm überhaupt nichts.«
Sie sticht ihm einen Finger in die Rippen. »Die Figuren sind alle schwarz, Frank.«
Slattery blinzelt und macht dann große Augen. »Was machen die? Die spielen beide mit Schwarz? Wer hat denn dann angefangen?«
»Keine Ahnung. Spielt ja wohl auch keine Rolle. Wo sie doch alle auf derselben Seite sind.«
»Und was spielt man dann?«, fragt Slattery. »Was ist das Tolle daran? Dass die Läufer die Bauern knuddeln, oder was?«
»Hör mal, ich wollte dich was fragen, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Welchen denn?«
»Behalt ein Auge auf Monty, ja? Sieh zu, dass ihr zusammenbleibt heute Nacht. Er macht mich nervös.«
Slattery wendet sich von dem Schachspiel ab und sieht Naturelle ins Gesicht. »Was ist passiert?«
»Monty steht total neben sich. Diese Warterei macht ihn fertig. Ich glaub nicht, dass er wirklich weiß, was Angst ist, weißt du? Ich glaub, das ist das erste Mal in seinem Leben, dass er Angst hat, und er kapiert es nicht; er kapiert nicht, was los ist.«
Slattery schüttelt den Kopf. »Er hat auch schon früher Angst gehabt. Wie alt war er, als seine Mutter gestorben ist, sieben? Er hat mir erzählt, dass er die ganze Zeit über nicht schlafen konnte, als sie im Krankenhaus lag. Du weißt, wie lange sie im Krankenhaus gelegen hat?«
»Drei Monate.«
»Das ist alles ein dermaßener Schwachsinn«, sagt Slattery, und ihm steigt das Blut ins Gesicht. »Ein dermaßener Schwachsinn. Er hat dermaßen viel drauf, er hat dermaßen was im Kopf, und was tut er? Er versaut sich alles. Und ich, sein bester Freund angeblich... Stimmt doch, oder? Ich bin doch sein bester Freund?«
»Er hat dich total gern, Frank. Das weißt du.«
»Sein bester Freund also, und was tu ich dagegen? Gar nichts. Kein einziges Wort. Als er angefangen hat, den Leuten auf der Campbell-Sawyer Gras zu verkaufen, hab ich da was gesagt? Als alle erzählten, dass sie bei Monty kaufen, die ganze Schule, und ich wusste, dass sie ihn drankriegen würden, hundertpro, hab ich da ein Wort gesagt? Die letzten zehn Jahre lang hab ich zugeschaut, wie er tiefer und tiefer reingerät, und dann diese Freunde von ihm, diese Arschlöcher, die ich nicht mal meinen Hund streicheln lassen würde... Und ich? Hab ich gesagt: Hey, Monty. Vorsichtig jetzt. Sieh zu, dass du da rauskommst? Hab ich nicht, kein einziges Wort. Ein toller bester Freund. Scheiße, Naturelle, ich bin sein bester Freund, und ich hab bloß dagesessen und zugeschaut, wie er sich ruiniert. Und du genauso. Alle beide haben wir bloß dagesessen und ihn machen lassen.«
Naturelle fährt sich mit dem Fingernagel den Unterarm entlang und betrachtet die schwache weiße Spur. »Monty hört ja doch nicht. Das weißt du; du weißt, wie störrisch er ist. Ich hab ihm hundert Mal gesagt, dass er damit aufhören soll...«
»Ach, ja? War das bevor oder nachdem du bei ihm eingezogen bist?«
Sie kennt die Anzeichen, wenn es wieder mal so weit ist mit ihm: die zusammengekniffenen Augen, das Zucken in den Pranken. Aber bis jetzt hat sie ihn noch jedes Mal beruhigen können. »Komm, lass es«, sagt sie leise und berührt ihn am Knie. »Nicht heute Nacht, Frank.«
»War das bevor oder nachdem er dir diese Diamantohrringe geschenkt hat? Oder dich mit seiner Corvette hat zum Einkäufen fahren lassen, damit du deine Tüten nicht mehr schleppen musst? Hast du dich gewundert, wo das viele Geld herkommt? Womit sind diese Ohrringe bezahlt worden, Nat? Ihr zwei seid runter nach San Juan geflogen - tolle Sache, keine Frage, konntest du ihn mal deiner Großmutter vorstellen... Bist du für die Tickets aufgekommen? Durchgehend Erste Klasse, stimmt's? Womit ist Puerto Rico bezahlt worden? Du hast ihm gesagt, dass er aufhören soll? Einen Scheißdreck hast du. Komm, diese ganze bescheuerte Geschichte, wie er dich dazu gekriegt hat, mit ihm auszugehen, die Geschenke, die Karten - womit sind die bezahlt worden? Du hast doch damals schon gewusst, was er war, alle Leute auf allen Privatschulen Manhattans wussten, was er war. Du hast keinen Ton gesagt damals, stimmt's? Wo du doch im ganzen Leben noch nicht richtig gearbeitet hast. Du hast dir ein schönes Leben gemacht, Naturelle, und nie auch nur einen Ton gesagt.«
Naturelle starrt ihn an, mit geblähten Nasenflügeln. »Wie kommst du dazu, hier einen auf selbstgerecht zu machen? Hast du etwa den Kontakt zu ihm abgebrochen? Du bist sein bester Freund und hast nie etwas gesagt, aber ich bin schuld? Ich bin die Böse?«
»Ich hab mich nie von ihm aushalten lassen.«»Wie lange trägst du das schon mit dir herum? Vor einer Minute dachte ich noch, du wärst mein Freund. Ich hab mich hier hingesetzt und gedacht: Das ist Frank, mein Freund, ich hab Lust, mit ihm zu reden. Bist du betrunken, Frank? Sag mir, dass du betrunken bist. Sag mir, dass es dir Leid tut, dass du zu viel getrunken hast und nicht mehr weißt, was du sagst.«
»Ich weiß genau, was ich sage. Heute in sieben Jahren werde ich am Tor stehen und warten, und du wirst dir irgendeinen reichen Typen geangelt haben.«
»Frank, was ist los mit dir? Du willst, dass ich die Böse bin? Gut, bin ich die Böse. Willst du mir jetzt eine reinhauen dafür? Geht's dir dann besser? Was willst du mit mir machen? Was, Frank?«
Slattery sitzt schweigend da, sein dicker Nacken ist knallrot.
Naturelle steht auf und glättet ihr silberfarbenes Kleid. »Wenn du Monty siehst, sag ihm, ich bin zu Hause. Sag ihm, ich warte dort auf ihn. Und, Frank, falls du dich morgen noch an dieses Gespräch erinnerst, falls du den Drang verspürst, mir Blumen zu schicken oder mich anzurufen und dich bei mir zu entschuldigen - lass es bleiben.«
Slattery sieht zu, wie sie geht. Er sieht zu den Männern mit den Dreadlocks hinüber, die sich auf ihr unmögliches Schachspiel konzentrieren. Er sieht auf seine Hände hinab, die er offen im Schoß liegen hat, auf seine fleischigen Hände mit den krummen Fingern. So ist es besser, sagt er sich. So komm ich nicht in Versuchung.