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Jakob ist einer der geschicktesten Fußgänger, die New York City je gesehen hat. Er kurvt durch die Menschenmenge, weicht den Fäusten und Ellbogen der entgegenkommenden Passanten aus, duckt sich unter Ästen hindurch, balanciert den Bordstein entlang, über Dutzende von Hundehaufen hinweg, wartet auf eine Lücke und springt dann in den freien Raum. Wie jeder anständige Großstädter hat Jakob gelernt, die Freaks nicht mehr wahrzunehmen: die amputierten Schnorrer, die gelähmten Penner auf der Kirchentreppe, die gestörten Randfiguren mit dem Arm im Mülleimer.

Er schlängelt sich durch den wimmelnden Mob vor dem U-Bahnhof 72nd Street. Durch das Drehkreuz, die Treppen hinunter und das freieste Stück Bahnsteig gesucht; als die U- Bahn kommt, drängt Jakob sich in einen der überfüllten Wagen, schnappt sich einen Halteriemen und hält sich fest, dann fährt der Zug wieder an. Jakob verträgt so gut wie gar keinen Alkohol. Zwei Bier hat er mit LoBianco getrunken und ist völlig desorientiert; zwischen Geist und Körper ist ein verschwommener Keil getrieben. Er stellt sich vor, wie er irgendwo hockt, also wirklich er, und diesen spastischen Jakob zu dirigieren versucht. Was ist das bloß für ein Körper?, denkt er. Und warum haben sie den ausgerechnet mir angedreht?

Manchmal wacht er morgens auf, und das Gesicht im Badezimmerspiegel kommt ihm fremd und ungefällig vor. Dann starrt er dieses müde Gesicht blinzelnd an wie jemand, der sich auf einem Klassentreffen der High School zu erinnern versucht. Wie heißt dieser Mitschüler bloß, den er vage mit frustrierten Zeiten verbindet? Jakob kann den Körper nicht leiden, den er hat, aber es ist mehr als das; er hat das Gefühl, eigentlich nicht zu diesem Körper zu gehören. Da ist ganz zu Anfang ein Fehler gemacht worden; sie haben sein Gehirn in den falschen Körper eingebaut; der eigentliche Jakob sitzt irgendwo nackt und reglos in der Ecke oder darf den Befehlen irgendeines Invasorengeistes gehorchen.

Er zieht sich die Yankees-Mütze tiefer, liest die über den Sitzen angebrachte Werbung. Bei der einen handelt es sich um einen Comicstrip, eine Fortsetzungsgeschichte in Sachen Aids um eine Gruppe von New Yorkern. Dieser Strip ist in Spanisch, das Jakob nicht beherrscht, aber er erkennt, dass die Helden sich auf einem Friedhof befinden, anscheinend auf dem Begräbnis ihres Freundes Rafael. Die eine Frau weint bittere Tränen. Irgendjemand hat ihr Riesennippel auf die Bluse gemalt, und Jakob macht ein finsteres Gesicht ob dieser Unschicklichkeit.

Der Zug hält in Columbus Circle, und Jakob fällt ein, was ihm auf diesem Bahnhof immer einfällt, der Tag vor neun Jahren, als Monty einer Mutprobe wegen auf die Gleise gesprungen und den gegenüberliegenden Bahnsteig wieder hochgeklettert ist und ein hübsches Mädchen auf die Wange geküsst hat, um dann wieder zurückzukommen und dabei breit zu grinsen - nicht über die eigene Dreistigkeit, an der gab es für ihn eh nichts zu rütteln, sondern darüber, wie das Mädchen ihn mit offenem Mund angegafft hat. Jakob hat nie begriffen, was Monty eigentlich antreibt, was diese Wildheit hervorgebracht hat, diese absolute Verachtung der Konsequenzen.

Jakob fragt sich, was der siebzehnjährige Monty wohl mit Mary D'Annunzio angefangen hätte. Nicht viel wahrscheinlich. Die Jungen in ihrer Klasse scheinen nicht viel für sie übrig zu haben. Sie ist flachbrüstig, heiser, ungepflegt; im Unterricht sitzt sie mürrisch herum und sagt kein Wort, außer sie lässt eine ihrer Schmähreden vom Stapel, die immer völlig wirr sind und nie etwas mit dem Thema zu tun haben. Ihre Freunde absolvieren alle das letzte Schuljahr und sind, um mit LoBianco zu sprechen, ein »Haufen androgyner Dope-Süchtiger«, der ständig in der Cafeteria am Kaffeesaufen zu sein scheint, die zerknautschten schwarzen Klamotten nach Zigarettenrauch stinkend, die Hände mit Stempeln vom gestrigen Zug durch die Clubs übersät. Jakob hat keine Ahnung, ob von diesen coolen Jungs jemand solo ist. Er hat einen David-Bowie-Verschnitt im Verdacht, mit Mary intim zu sein; die beiden stecken oft die Köpfe zusammen und flüstern so miteinander, dass Jakob jedes Mal schlecht wird vor Einsamkeit. Jakob hat den ganzen Haufen einmal in der Sheep Meadow gesehen, wie sie im Kreis um einen älteren Rastafari herumlagen, der auf einer Akustikgitarre Songs von Scratch Perry spielte. Niemand hat Jakob bemerkt, und er ist vorbeigehastet, ohne weiter auf Marys nackten Bauch zu achten und darauf, wie sie mit der Fingerspitze den Nabel umkreiste.

Ich will kein Lehrer sein, denkt Jakob düster und sieht zu, wie die Passagiere sich aus dem Waggon drängen. Ich möchte ein alter Rastafari sein. Himmel, 14* Street! Er schlüpft durch die Türen, als sie sich gerade schließen, und folgt der Herde durch die Drehkreuze und die Treppen hinauf.

Draußen ist es in den fünfzehn Minuten, die er unter der Erde zugebracht hat, merklich kälter geworden; die Kälte hilft ihm, wieder nüchtern zu werden. Als er Slatterys Haus erreicht hat, fängt es zu schneien an, dicke Flocken taumeln durch das Licht der Laternen und schmelzen auf dem Gehweg. Der bleibt nicht liegen, denkt Jakob und ist enttäuscht wie ein Schuljunge.

Er meldet sich bei einem Pförtner, der hinter einer marmornen Tischplatte sitzt, einem schmallippigen, rothaarigen jungen Burschen mit unzähligen Sommersprossen, dem die epaulettengeschmückte Uniform zu groß ist. Der Pförtner greift zum Hörer der Gegensprechanlage und klingelt bei Slattery.

»Jakob ist da«, sagt er, dann: »Keine Ahnung, ich frag mal.« Er sieht zu Jakob hinauf. »Jakob wer?«

»Ha-ha. Sagen Sie ihm: Ha-ha.«

Der Pförtner grinst und spricht in den Hörer. »Haben Sie gehört? Gut, alles klar.« Er legt auf und zeigt zum Fahrstuhl. »Vierter Stock.«

»Weiß ich.«

Eine alte Dame steht gebeugt und erbärmlich in einer Ecke der verspiegelten Eingangshalle und starrt auf eine eingetopfte chinesische Kautschukpflanze hinab. Neben ihr wartet eine Pflegerin. Jakob geht rasch zum Fahrstuhl und drückt den Knopf.

»Kommen Sie, Charlotte«, sagte die Pflegerin mit einem leiernden karibischen Akzent. Sie ertappt Jakob dabei, wie er einen verstohlenen Blick nach hinten wirft, und blinzelt ihm zu. »Kommen Sie, Mädchen.«

»Ich muss mich hinsetzen«, greint Charlotte.

»Wir sind in der Eingangshalle. Kommen Sie. Sie können sich in der Wohnung hinsetzen. Stundenlang können Sie da sitzen. Auf geht7s.«

Jakob unterdrückt ein Niesen, und die alte Frau wendet den Kopf. »Louis?«, ruft sie mit zusammengekniffenen Augen. »Louis?«

Ich bin nicht Louis, denkt Jakob und sucht in seiner Gesäßtasche nach einem Taschentuch. Charlotte lässt sich gegen die Wand plumpsen und zu Boden sinken, die Vogelbeine gespreizt. »Ich geh keinen Schritt mehr. Wo ist Louis?«

»Das ist nicht Louis«, erklärt die Pflegerin ihr und lächelt Jakob zu.

Jakob möchte nicht alt werden, möchte nicht wie Charlotte werden, hutzelig und hilflos, in der Ecke einer verspiegelten Eingangshalle zusammengesackt.

»Kann ich helfen?«, fragt er schließlich voller Angst, die Pflegerin könnte Ja sagen.

»Sehr nett von Ihnen«, sagt die Pflegerin. Jakob interpretiert das als ein Nein. Die elektrische Anzeige des Fahrstuhls zeigt unverändert eine 4. Jakob rückt seine Yankees-Mütze zurecht.

»Ich hab dir gesagt, dass sie nichts taugt«, sagt Charlotte. »Ich hab's dir gesagt, Louis.«

»Das ist nicht Louis«, erklärt die Pflegerin. »Das ist nicht Ihr Sohn. Jetzt kommen Sie und stehen Sie auf, Mädchen, sonst verpassen wir unsere Sendung.«

Jakob drückt den Knopf noch zweimal. Normalerweise verdreht er die Augen, wenn jemand immer wieder den Fahrstuhlknopf drückt, als wäre diese Maschine bloß faul, als müsse sie zur Arbeit genötigt werden wie irgendein aufsässiger Ober: Schon gut, schon gut, der Ketchup, ich komm ja schon. Jakob verpasst dem Knopf eine mit der Faust.

»Ich hab dich gewarnt«, murmelt Charlotte.

Endlich ist der Fahrstuhl da, und Jakob geht hinein. Er steht jetzt mit dem Gesicht zu Charlotte; er kann es nicht vermeiden, ihren auf die Brust gesunkenen Kopf zu sehen, ihren ganzen zusammengeschrumpelten Körper zucken zu sehen. »Evie!«, schreit sie plötzlich. »Evie!«

»Pst, Mädchen, hier bin ich doch. Kommen Sie, geben Sie mir die Hand.«

Jakob hält den Finger vor die Lichtschranke, und die sich schließenden Türen gehen mit einem Ruck wieder auf. »Hallo, Entschuldigung, sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen da drüben?«

Evie sieht ihn über die Schulter hinweg an. »Sicher sind wir sicher. Wir machen das jeden Abend.«

»Louis?«

Für eine Sekunde wünscht sich Jakob, er wäre Louis, wünscht sich, er könnte sagen: Hier bin ich, Mom, um dann die Halle zu durchqueren und der alten Dame hochzuhelfen. Das wäre heldenhaft. Die Fahrstuhltüren schließen sich, und Jakob macht die Augen zu. Nun geht es durch die Decken des Gebäudes nach oben. Er stellt sich vor, er wäre ein Eimer Wasser, der einen Brunnen hochgezogen wird. Auf einmal merkt er, wie müde er ist; er hat seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. Und Monty? Kann Monty überhaupt schlafen?

Slatterys Trophäe von einem Apartment, eine Ansammlung großer, leerer Zimmer, scheint Jakob einen ganz bestimmten Typ zu verkörpern: Das Apartment für den jungen, unbeweibten Mann mit Geld. Der Fernseher im Wohnzimmer ist so gigantisch, dass der Wetterfrosch geradezu Furcht erregend aussieht. Slattery versteht den beunruhigten Blick seines Freundes falsch. »Riesenteil, hm?«

»Ja, ganz schön groß. Seit wann hast du den?«

»Seit ein paar Wochen. Hab mir ein kleines Geschenk gemacht. Ich mein, irgendwann muss ich doch auch mal anfangen, die Kohle auszugeben.«

Was für ein vulgärer Ausdruck, denkt Jakob. Die Kohle. Größtenteils vulgär jedenfalls, denn zugegebenermaßen beträgt der Jahresverdienst seines Freundes ungefähr das Dreiundzwanzigkommasiebenfache dessen, was Jakob nach Hause bringt; eine Schätzung, die Jakob eines Nachmittags mit dem Taschenrechner vorgenommen hat, als er eigentlich Notendurchschnitte hatte ermitteln wollen.

Sie setzen sich auf ein gelbes Sofa, auf dem Slattery als Kind zwei Jahre lang geschlafen hat, bevor die Familie nach Bay Ridge in eine größere Wohnung gezogen ist. Jakob fragt sich, warum Slattery nicht auch mal ein bisschen Kohle für neue Möbel ausgibt. Abgesehen von dem alten Sofa, dem Riesenfemseher und einem unechten Holzstapel beim Kamin ist das Wohnzimmer leer, dabei ist es größer als Jakobs gesamte Wohnung. Seine Bierflasche hat Slattery zwischen die Füße auf den Hartholzboden gestellt. Unter den Fenstern liegt ein großer zusammengerollter und verschnürter Teppich. In einer Ecke steht eine rotglänzende elektrische Gitarre, noch eins von den kleinen Geschenken, die Slattery sich so macht.

Die Lehne des Sofas hat zwei dunkle Stellen von den Tausenden von Stunden, in denen sich dort ungewaschene Köpfe angelehnt haben; Jakobs Seite hängt durch, weil eine Feder gebrochen ist, als Slattery zu Teeniezeiten seinen jüngeren Bruder mit dem Gesicht in die Kissen gedrückt hat und ihm dann ins Kreuz gesprungen ist, worauf der Junge mit einem angebrochenen Rückenwirbel ins Krankenhaus musste. Eoin, der arme Kerl - guckt immer, als hätte er eine Bombenneurose, als wäre seine Kindheit ein Krieg gewesen, den er nur knapp überlebt hat.

Der Fernseher wird von zwei Lautsprechertürmen flankiert. Kleinere Lautsprecher hängen von der Decke herab und bieten einen Surround-Sound, den Jakob sich wunderbar für Filme vorstellen kann. Beim Wetterfrosch jedoch ist der Effekt beunruhigend: die professionell gut gelaunte Stimme dringt aus allen denkbaren Winkeln auf Jakob ein. »Hier bahnt sich für das gesamte New Yorker Stadtgebiet womöglich der erste richtige Schneesturm dieses Winters an, und ich sag Ihnen was, Carol, es könnte ein Brummer werden. Zu rechnen ist mit zehn bis fünfundzwanzig Zentimeter Schnee...«

»Fünfundzwanzig Zentimeter!«, ruft Slattery. »Da sollten wir morgen zum Skifahren raus. Ich hab mir gerade ein Paar Völkls zugelegt - Rennski.«

»Ich kann nicht Ski laufen«, sagt Jakob.

»Na und, ich doch auch nicht. Aber fünfundzwanzig Zentimeter Schnee... Vielleicht lieber nächstes Wochenende.«

Die Stimme des Wetterfrosches hallt in dem zu lee' ren Zimmer.

Jakob überläuft es kalt. »Glaubst du, Normalsterbl.iche nehmen je das Wort Brummer in den Mund?«

»Was?«

»Hast du inzwischen schon Stunden genommen?« , fragt Jakob und zeigt auf die rote Gitarre.

Slattery schüttelt den Kopf. »Glaubst du, ich hätte ZIeit für Gitarrenstunden? Aber sie sieht wunderschön ausv nicht wahr?«

»Wunderschön, wirklich«, sagt Jakob.

»Ja. Das ist ein sehr schönes Rot.«

»Willst du noch ein Bier?«, fragt Jakob, der von den riesenhaften Nachrichtensprechem wegkommen will.

»Ja, danke.«

Die Küche ist verdächtig sauber. Jakob untersucht die glänzende Edelstahlspüle, fährt mit den Fingern über die Arbeitsfläche, findet keine klebrigen Stellen, keine Krümel. Der gewaltige schwarze Herd mit seinen sechs Flammen rnd dem integrierten Backofen, der keine Spritzer und keine Fingerabdrücke aufweist, ist anscheinend noch nicht durch den banalen Akt des Kochens entweiht worden. Dieser Sack lässt sich eine Haushälterin kommen, denkt Slattery. Der Sub-Zero-Kühlschrank ist wohl gefüllt, randvoll mit eingelegten Oliven, Merrettichsenf, einer in Plastikfolie eingewickelten Kugel geräuchertem Mozzarella, einem gebratenen Truthahnschlegel in Aluminiumfolie. So sieht es bei meinen Eltern im Kühlschrank aus, denkt Jakob traurig.

»Hier gibfs kein Bier!«, ruft Jakob lauter als beabsichtigt. Seine Stimme klingt bitter.

»Wart mal einen Moment.«

Jakob kehrt ins Wohnzimmer zurück und sieht Slattery an, der sich die Nachrichten ansieht. »Im Kühlschrank ist kein Bier.«

»Hast du auch richtig geguckt?«

»Nein, ich hab nicht richtig geguckt. Sollte ich etwa richtig g\ icken?«

. »Hast du das gesehen?«, fragt Slattery. »Komm, setz dich hin und schau dir das an.«

Jaikob setzt sich zögernd und versucht, nicht direkt zum Bilds chirm zu sehen.

»In Bangkok hat sich dieser Elefant losgerissen, gestern Abernd oder so. Schau dir das an.«

Jemand hat die Szene mit einer Videokamera festgehalten. Ein grauer Elefant stampft die Mitte einer breiten Hauptverkehrsstraße hinab, gefolgt von einer jubelnden Menschenmenge. Polizisten versuchen die Leute zurückzuhalten, stellen orangef arbene Absperrböcke auf, wedeln mit ihren Knüppeln, aber die Beamten werden in dem fröhlichen Pandämonium gar nicht beachtet. Uniformierte Soldaten verfolgen den Elefanten durch die Zielfernrohre ihrer Hochleistungsgewehre.

»Hab ich vor einer Stunde schon auf CNN gesehen«, sagt Slattery. »Alte Elefanten verlieren manchmal den Verstand, haben sie gesagt, sie drehen einfach durch. Pass auf.«

Auf einmal hat der Elefant schwarze Federn in der runzelten Flanke stecken, und Jakob hört dem Reporter zu, der Jie Betäubungspfeile beschreibt, sechs Stück an der Zahl, jeder mit genug Betäubungsmittel gefüllt, um jeden denkbaren Elefanten umzuhauen. Das Untier zittert kurz, schüttelt seinen großen Kopf, dass die großen Ohren flattern. Dann macht es kehrt und brettert auf den Fußweg zu. Die dort versammelte Menge zerstreut sich in alle Richtungen, wie Billardkugeln nach einem guten Stoß. Der Elefant senkt den Kopf und kracht in die Fensterfront von etwas, das wie ein Elektronikgeschäft aussieht.

»Scheiße, Mann«, sagt Slattery und wiegt sich hin und her. »Schau dir das an!«

Das können sich die Soldaten nicht bieten lassen - sie eröffnen das Feuer. Das Bild fängt zu tanzen an, und die Videoaufnahme wird durch einen Sprecher der thailändischen Armee ersetzt, der hinter einem Pult steht und die Ereignisse des Tages kommentiert.

»Sie haben ihn erschossen?«, fragt Jakob.

»Oh ja«, sagt Slattery, »das haben sie. Das arme Vieh ist in der falschen Gegend der Stadt spazieren gegangen.«

Jakob fragt sich, weswegen das Tier wohl durchgedreht ist: das hohe Alter, fehlerhafte Synapsen im Gehirn, der lange niedergekämpfte Drang, einmal einen Schaufensterbummel zu machen? Er zieht sich den Schirm seiner Yankees-Mütze tiefer ins Gesicht.

»Wann trudelt Monty denn ein?«

»Überhaupt nicht. Er geht mit seinem Vater essen. Wir treffen uns später mit ihm.«

Wie kann Monty etwas essen?, fragt Jakob sich. Wie kriegt er auch nur einen Bissen runter?

Der Bildschirm wird zwischen zwei Werbungen kurz schwarz, und Jakob sieht sein Spiegelbild. »Findest du, dass ich wie ein Frettchen aussehe?«

»Wie ein Frettchen?« Slattery lacht. »Das ist gut, bin ich noch gar nicht draufgekommen.«

»Dann stimmt es also?«

»Hat das irgendjemand aus deiner Klasse gesagt?«

Jakob macht ein finsteres Gesicht. »Niemand hat das gesagt. Ich hab bloß drüber nachgedacht.«

»Irgendjemand muss doch etwas gesagt haben. Du denkst doch nicht plötzlich: Hey, ich seh ja aus wie ein Frettchen. Du kennst deinen Anblick doch seit sechsundzwanzig Jahren.«

»Schon gut«, sagt Jakob. »ThemenWechsel.«

»Ich weiß nicht mal, wie so ein Frettchen überhaupt aussieht. Aber ja, du könntest eine gewisse Ähnlichkeit damit haben.«

»Toll, danke. Du bist ein wunderbarer Mensch.«

Slattery tätschelt Jakob den Kopf. »Und du bist gar nicht so schlecht für ein Frettchen. Ich geh mal scheißen, und dann können wir los.« Er kämpft sich ächzend hoch. Er geht kurz in die Hocke und richtet sich dann auf, das linke Knie kracht laut. »Himmel«, sagt er und humpelt zum Badezimmer.

Nun ist Jakob mit dem Fernseher allein, starrt dem Moderator mürrisch auf das breite Kinn und ist sauer, ohne genau zu wissen worüber. Manchmal ist er sich ziemlich sicher, dass er Slattery gar nicht leiden kann, dass er ihn noch nie leiden konnte, auch wenn Slattery sein bester Freund ist. Jakob weiß noch, wie er am ersten Tag der neunten Klasse durch das Schultor gestapft ist und überhaupt keine Lust auf ein weiteres Jahr unter diesen braun gebrannten Typen hatte, die mit ihren lose gebundenen Krawatten und Segeltuchschuhen über den Hof schlenderten. Als er Frank und Monty kennen lernte, war er hin und weg von ihrem Brooklyner Akzent und ihren sorgsam zurückgekämmten Haaren, die im krassen Gegensatz zu den hier üblichen Fönfrisuren standen. Beide hatten sie massenhaft Schlägereien hinter sich, was Jakob mit Ehrfurcht erfüllte, denn er hatte sich noch nie geschlagen. Aber hier waren sie nicht in ihrem Element, waren sie verunsichert durch das vornehme Gehabe der älteren Schüler, eingeschüchtert durch den beiläufig zur Schau gestellten Reichtum. Sie stürzten sich sofort auf Jakob als einen Gleichgesinnten, der sich hier auskannte. Während der Eröffnungsfeier des Schuljahres stieß Monty ihn mit dem Ellbogen an und zeigte auf einen älteren Jungen, der ein paar Reihen weiter vorn saß. »Das ist ein Jackett von Ralph Lauren, das der Typ da anhat. Kostet vierhundert Dollar, das Teil.« Jakob freute sich über die sofortige Vertrautheit, über die Vermutung, dass sie aus ähnlichen Verhältnissen stammten und darum die Fassungslosigkeit darüber teilen konnten, dass jemand auf der High School ein Vierhundert-Dollar-Jackett trug. Drei Monate vergingen, bis Jakob seine beiden neuen Freunde in sein Apartment einlud. Er hatte Angst, sie könnten ihn mit dem Rest der verweichlichten Aristokraten ihres Jahrgangs in einen Topf werfen. Aber als Monty und Frank im Hause Elinsky einliefen, waren sie schon auf Partys in dreistöckigen Wohnungen auf der Fifth Avenue gewesen, in Stadtvillen auf der Park, in einem spektakulären Strandhaus in den Hamptons — und Jakobs Zuhause war zwar absolut vorzeigbar, aber klein kamen sie sich darin nun gar nicht vor.

Die anderen in der Klasse zeigten zunächst Verachtung für die Neuen, die »Förder«, Studenten, die staatlich gefördert wurden, zwei Iren, zwei Puertoricaner und vier Schwarze, die aus Brooklyn, Queens und der Bronx hierher verfrachtet worden waren. Die Lords der Outer Boroughs wurden sie zunächst getauft, ein Spitzname, den Monty sofort übernahm und durch seine Hip-Hop-Aussprachekorrektur laufen ließ; die Outta Büro Lordz waren bald die angesehenste Clique der Schule. Jakob genoss seinen Status als Ehrenmitglied, war sich jedoch stets bewusst, dass er doch in Central Park West wohnte, dass sein Vater Anwalt für Steuerrecht war, dass seine Kenntnisse über die Outer Boroughs sich auf das Yankee-Stadion im Norden und Kennedy, LaGuardia und seine Cousins in Forest Hill im Osten beschränkten.

Nun sind es Slattery und seine Kollegen, die in teuren Restaurants speisen, während Jakob in seinem Zehnquadratmeter-Apartment über seinen Grammatiktests hockt und Wasser für seine Spaghetti mit Tomatensoße aufsetzt. Jakob spielt dieses Spiel normalerweise sehr gern, das Spiel namens Mensch-gräme-dich-doch!, aber nicht jetzt, nicht heute Abend, nicht wenn sein Freund morgen früh ins Bundesgefängnis muss.

Endlich kommt Slattery wieder aus dem Badezimmer und trocknet sich mit einem Handtuch die Hände ab. »Startklar? Ich bin am Verhungern.«

Jakob greift zur Fernbedienung, schaltet aus und steht auf. »Was wird eigentlich aus Doyle?«

»Häh?«

»Wo kommt Doyle dann hin?«

»Oh... Keine Ahnung.« Slattery wirft das Handtuch auf das Sofa, öffnet einen Wandschrank und nimmt einenschwarzen Kaschmirmantel von einem Holzbügel. »Zu Nat?«

Jakob schüttelt den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Zu seinem Dad? Keine Ahnung, echt. Gefällt dir der Mantel? Hat mir jemand aus London mitgebracht.«

»Frank«, sagt Jakob und fummelt an seinen Nägeln herum, »hast du das drauf?«

»Was denn drauf?«

»Das heute Abend?«

»Weißt du«, sagt Slattery und knöpft den Mantel zu, »heute war ein dermaßen durchgeknallter Tag auf Arbeit, dass ich da überhaupt noch nicht drüber nachgedacht habe.«

»Ehrlich?«, fragt Jakob entsetzt. »Er ist dein bester Freund.«

»Das brauchst du mir nicht zu erzählen, Mann. Was erwartest du von mir? Wir gehen mit ihm aus, wir trinken ein bisschen was, was denkst du denn? Komm, lass uns losmachen. Deine Schnürsenkel sind offen.«

Jakob geht auf ein Knie, um sich die gummibesohlten Wanderstiefel zuzuschnüren. »Ich hab Angst, ihn zu treffen. Ehrlich, ich hab richtig Angst. Als würde man einen Freund im Krankenhaus besuchen, der Krebs hat. Was sagt man da? Er wird die nächsten sieben Jahre in einer Zelle verbringen. Was sagt man da zu ihm?«

Slattery zuckt die Schultern. »Weißt du was? Ich glaube, da sagt man gar nichts. Ich glaube, wir gehen heute Abend mit ihm aus und versuchen einen draufzumachen, und wenn er darüber reden will, dann reden wir darüber. Er geht für sieben Jahre in die Hölle - was soll ich da machen, ihm viel Glück wünschen? Wir füllen ihn anständig ab und versuchen, noch mal richtig einen mit ihm draufzumachen.«

Jakob schlingt einen Doppelknoten und steht auf. »Das hört sich so an, als hättest du so was schon mal gemacht.«

»Hab ich auch. Mein Cousin musste für drei Jahre rein. Startklar?« Slattery öffnet die Wohnungstür und wartet auf Jakob, eine Hand am Lichtschalter.

»Im Emst? Das hast du mir nie erzählt. Warum denn?«

»Weil er ein verdammter Dieb ist, darum.«

Der größte Skandal in Jakobs Familie war eine Cousine mit Bulimie. Er fragt sich, was Slattery wohl noch alles für sich behalten hat. »Und? Hat er es gut überstanden? Das Gefängnis und so?«

»Nein. Ganz und gar nicht. Jetzt komm schon, ich will los.«

»Einen Moment noch«, sagt Jakob und klopft sich auf die Hüfttaschen. »Wo ist meine Brieftasche?«

»Ich fass es nicht.«

»Beim Reinkommen hab ich sie noch gehabt. Das weiß ich genau.«

»Sie liegt auf dem Sofa, du Trottel.«

Jakob holt die Brieftasche und steckt sie ein. »Es klingt vielleicht komisch, aber so wie ich Monty kenne, wird er es, glaube ich, gut überstehen.« Er sieht Slatterys Gesichtsausdruck und fügt rasch hinzu: »Ich sag ja nicht, dass es leicht wird. Ich an seiner Stelle würde nicht einen Tag überstehen, das ist mir klar. Aber Monty ist Monty. Er ist hart im Nehmen. Was der schon alles weggesteckt hat.«

»Nein«, sagt Slattery und macht das Licht aus. »Er ist nicht hart im Nehmen, und er wird das auch nicht gut überstehen. Ich kapier überhaupt nicht, was in deinem Kopf vorgeht, Jake. Hier gibfs kein Happy End.«

Jakob verlässt das Apartment und schaut zu, wie Slattery abschließt. »Von einem Happy End red ich doch gar nicht. Ich meine bloß...«

»Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wovon du da sprichst. Hart im Nehmen? Was weißt du denn, was hart im Nehmen ist? Meinst du, bloß weil er ein paar Schlägereien auf der Campbell-Sawyer gewonnen hat, kommt er in Otisville mit den harten Jungs klar? Du hast keine Ahnung, in was für einer Scheiße er steckt. Überhaupt keine Ahnung. Monty hat drei Möglichkeiten, und die sind alle beschissen.« Sie gehen den blau ausgelegten Flur hinunter, Slattery schleudert seine Schlüsselkette dabei hin und her.

»Drei Möglichkeiten«, sagt Jakob ungeduldig. Slattery redet mit ihm immer wie mit einem begriffsstutzigen Kind, das von den komplexen Zusammenhängen des Lebens schlichtweg überfordert ist.

»Also. Erstens, er kann abhauen. In einen Bus nach sonst wo steigen und hoffen, dass sie ihn nie finden werden. Das ist Nummer eins.«

»Das wird er nicht tun. Sein Dad hat seine Kneipe...«

»Ich sage nicht, was er tun wird. Ich sage bloß, welche Möglichkeiten er hat. Nummer zwei...« Slattery macht mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und hält sie sich an die Schläfe.

Jakob reißt die Augen auf. »Selbstmord? Auf gar keinen Fall. Und was ist die dritte Möglichkeit?«

»Die dritte Möglichkeit?« Slattery denkt kurz nach. »Na, die dritte Möglichkeit ist, er geht ins Gefängnis.«

Jakob nickt. »Genau. Er geht ins Gefängnis, und er wird es überstehen.«

»Meinetwegen. Kann sein. Aber trotzdem heißt es dann: Mach's gut, Monty.«

»Was soll das heißen?«

Slattery hebt den Daumen. »Wenn er abhaut, ist er weg. Du siehst ihn nie wieder.« Er hebt den Zeigefinger, dessen oberes Gelenk seit seinen Ringertagen schief ist. »Wenn er sich die Kugel gibt, ist er weg. Und sie werden den Sargdeckel nicht nochmal aufmachen.« Er hebt den Mittelfinger. »Wenn sie ihn wegsperren, ist er weg. Du wirst ihn nie wieder sehen.«

»IGar seh ich ihn wieder«, sagt Jakob. »Wenn er wieder rauskommt.«

Die Fahrstuhltür geht auf, und Slattery steigt ein. »Darauf würd ich keine Wette abschließen. Du meinst, ihr werdet dann immer noch Freunde sein? Du meinst, ihr setzt euch dann auf ein paar Bier zusammen und knüpft an die alten Zeiten an? Vergiss es, Jake. Heute Nacht ist alles vorbei. Steigst du jetzt ein, oder brauchst du 'ne Einladung?«