22
Die geparkten Autos am Straßenrand sehen wie Riesenkugeln Vanilleeis aus, glitzern unter den Laternen. Die Markisen der Gebäude sind mit Eiszapfen gerahmt und ächzen unter dem Gewicht des Schnees. Die Straßenbäume in ihren kleinen Erdgevierten, Platanen, Sumpfeichen und chinesische Birnen, stehen bewegungslos in der stillen, klaren Luft, jeder Ast genau mit Schnee nachgezeichnet. Die Allee kommt Jakob unwirklich vor: zu weiß, zu still, wie ein verlassenes Haus, dessen Möbel mit weißen Laken verhängt sind. Es hat zu schneien aufgehört.
Doyle brettert unangeleint durch die Gegend, mitten auf der Straße, schneidet eine Spur durch die dreißig Zentimeter Pulverschnee, ein Tropfen Tinte, der ein leeres Blatt Papier hinunterläuft. Monty folgt ihm, wirbelt dabei die Leine herum. Seine ruinierten Schuhe quietschen bei jedem Schritt. Jakob und Slattery gehen ein Stück hinter ihm, nebeneinander. Jakob versucht, immer genau in Montys Fußstapfen zu treten, genau in die Löcher im Schnee, aber Montys Schrittlänge ist zu groß und ruiniert Jakobs Rhythmus. Slattery stapft vorwärts, seine Hosenbeine haben sich bis zu den Knien mit Nässe vollgesogen.
Vor zehn Minuten sind die drei die schmale Treppe zu Montys Apartment hinaufmarschiert und haben sich ins dunkle Wohnzimmer gesetzt. Niemand hat ein Wort gesagt. Unter der Schlafzimmertür ist Licht zu sehen gewesen, aber Monty ist nicht hineingegangen; er hat sich auf den Boden gesetzt, mit dem Rücken an der Heizung, und hat Doyle hinter dem zerbissenen Ohr gekrault. Jakob stellte sich vor, wie Naturelle im Bett lag, die Augen offen, wartend. Aus irgendeinem Grund machte ihn diese Vorstellung fertig. Er fragte sich, ob sie wusste, dass Monty im Club mit einer anderen gevögelt hatte, ob ihr das etwas ausmachte.Schließlich stand Monty auf und sagte: »Gehen wir mit Doyle spazieren. Ein letzter Spaziergang mit Doyle«, und die drei schleppten sich wieder hinaus in den Schnee.
Jakob lauscht den schweren Schritten Slatterys; er spürt die Erschöpfung seines Freundes, die Frustration. Komischerweise tröstet es ihn, dass Slattery so mitgenommen aussieht, so fertig. Sein Gesicht ist beunruhigt, düster, und Jakob verspürt auf einmal eine Woge der Zuneigung zu ihm, weil er wegen jemand anderem so fertig ist. Slattery ist eben doch ein Guter. Kein lieber Kerl, aber ein Mensch, den man gern an seiner Seite wüsste, wenn es Ärger gibt.
Aber bis zum Wochenende sieht er wieder gut aus, denkt Jakob. Da sehen wir beide wieder gut aus. In ein paar Stunden, wenn Monty mit dem Bus nach Otisville unterwegs ist, kann Slattery die Rouleaus runterziehen und ins Bett krauchen und schlafen, bis er sich am Sonntag bei irgendwelchen Freunden das Superbowl-Spiel ansieht: Schalen mit Popcorn und Nachos auf dem Couchtisch, zufriedene, wohlgenährte Leute auf dem Sofa, auf dem Fußboden, in der Küche am Biertrinken; alles brüllt, wenn die Guten einen Punkt machen.
Die vier marschieren die Straßenmitte hinunter, ein Trupp unachtsamer Fußgänger, der die roten Ampeln am Ende der verwunschenen Insel ignoriert. Das einzige Fahrzeug ist ein Schneepflug mit gelben Blinklichtern, eine halbe Meile vor ihnen die Straße hinunter. Jakob fragt sich, wie weit er durch den Schnee marschieren würde, ohne zu protestieren. Monty könnte sie zum Golf von Mexiko führen, und sie würden erschöpft hinter ihm herzuckeln, ohne den Sand und die Muschelschalen unter ihren Füßen zu bemerken.
An der 86,h Street betreten sie den Carl-Schurz-Park, hinter den eingezäunten Gingkobäumen. Doyle entdeckt ein Eichhörnchen, das neben einem Mülleimer auf den Hinterbeinen steht; sie starren einander einen Moment lang an, dann schießt Doyle los, dass der Schnee nur so fliegt. Jakob ist erleichtert, als das Eichhörnchen es zu einer Eiche schafft und sich in Sicherheit bringt. Doyle sitzt unten, mit seitlich heraushängender Zunge, und starrt traurig zu den Ästen hoch.
Sie folgen Monty eine Reihe von Stufen hinauf, die in dem tiefen Schnee und bei dem schwachen Licht kaum auszumachen sind, und dann einen Weg entlang, der sich an Rotahombäumen, Latemenpfählen und Parkbänken vorbeiwindet. Als sie beim Spielplatz ankommen, berührt Jakob den Ellbogen Slatterys und zeigt: Hier will er also mit uns hin. Sie kennen die Geschichte, wie Monty und Naturelle sich hier bei den Schaukeln zum ersten Mal begegnet sind. Aber Monty verlangsamt nicht einmal; er führt sie an den Schaukeln, den Sandkästen, den Klettergerüsten, den Basketballplätzen und der Rollschuhbahn vorbei auf die meilenlange Uferpromenade am East River.
Jakob ist noch nie nachts auf der Promenade gewesen. Nun begreift er, warum Monty hierher wollte. Am anderen Ufer liegt Queens, und Queens vor Sonnenaufgang ist wunderschön: die blinkenden roten Warnlichter für die Piloten, das glühende Pepsizeichen auf dem Abfüllbetrieb, die weißen Wolken, die über den Schornsteinen stehen wie sich aufplusternde Lampengeister, die den guten Menschen vom Astoria gleich drei Wünsche erfüllen. Hinter Queens beginnt der Himmel gerade aufzuhellen, im Osten liegt ein blassblaues Band vor dem Horizont, verdunkelt sich nach oben hin zu der Schwärze über Manhattan.
Jakob fegt den Schnee vom Eisengeländer, lehnt sich dagegen und starrt in den Fluss. Im Wasser wabert eine Reihe gelber Lichter, und Jakob überläuft ein Schaudern, als er sich vorstellt, dass dort unten am Grund eine Legion Ertrunkener still mit ihren Fackeln Wache steht. Er weiß, dass es sich nur um das Spiegelbild der Lampen an den Haltetauen der Queenboro Bridge handelt, aber Jakob wird das Bild von den aufgeblähten, augenlosen Leichen, die unten im Wasser warten, nicht wieder los.
»Schaut mal, der Leuchtturm«, sagt Monty und zeigt mit der behandschuhten Hand zu dem Steinturm an der Nordspitze von Roosevelt Island. »Sie sollten ihn reparieren, ihn wieder in Ordnung bringen. Wär toll, hierher zu kommen, und er leuchtet. Nirgendwo Schlepper zu sehen. Die Mannschäften sind wahrscheinlich in Staten Island eingeschneit.« Monty lacht. »Ich denk immer, die Leute, die auf den Schleppern arbeiten, wohnen in Staten Island. Keine Ahnung, warum.«
»Die Typen machen gutes Geld«, sagt Slattery, der jetzt auch am Geländer steht. »Die haben eine der besten Gewerkschaften der Stadt. Die und die Kranführer.«
»Wäre gut, auf einem Schlepper zu arbeiten«, sagt Monty. »Lastkähne rumfahren, den ganzen Tag draußen auf dem Fluss sein. Irgendein Spiel im Radio einstellen und rauchen und zugucken, wie die Stadt vorbeizieht.«
Slattery schüttelt den Kopf. »Brauchst dir nur einmal zu viel die Stadt an zu gucken, und schon fährst du glatt in sie rein.«
»Also, wie sieht7 s aus?«, fragt Monty und dreht sich zu Jakob um. »Bist du bereit für Mr. Doyle?«
Jakob sieht zu dem Hund hinüber, der sich im Schnee wälzt und mit den Pfoten strampelt. »Der Schnee gefällt ihm.«
»Er wird dir gut tun, Jake. Damit bricht schon mal keiner in dein Apartment ein, das steht fest. Und die Frauen stehen auf Doyle. Wirst du schon sehen, wenn du mit ihm spazieren gehst. Ist ein ganz bestimmter Typ Frau, der auf Doyle anspricht. Die handfeste Sorte. Brauchst sie dir bloß anzugucken. Ist die Sorte Frauen, die auf zähe alte Kerle steht, die einiges hinter sich haben. Wie spät hast du's?«
»Viertel nach sieben.«
»Viertel nach sieben.« Monty legt einen kurzen Trommelwirbel auf dem Eisengeländer hin und schwingt sich im nächsten Moment hinüber. Er steht auf der schmalen Kante, die Kniekehlen am Geländer, den Fluss unter sich.
»Warte«, sagt Slattery und hebt die Hände. »Was hast du vor? Monty, was hast du vor?«
Doyle - bäuchlings im Schnee, hechelnd - starrt zu seinem Herrchen hinauf. Jakob steht der Mund offen, ihm bleiben die Worte in der Kehle stecken.
Monty sieht sich das schwarze Wasser an, das unten vorbeifließt. »Was meint ihr, gute zehn Meter bis nach unten?
Was macht ihr euch da Sorgen? Ich kann mich nicht umbringen, indem ich da runterspringe. Außer ich erfriere.«
»Komm«, sagt Slattery. »Komm, gib mir die Hand. Lass den Quatsch.«
»Lass den Quatsch? Ich soll also ernst sein, ja?« Monty stößt mit dem Schuh Schnee über die Kante. »Ich geh da nicht so rein. Da bin ich doch ein gefundenes Fressen für die.«
»Komm schon«, sagt Slattery. »Du rutschst noch aus und brichst dir den Hals.«
Für einen langen Moment sagt Monty nichts, starrt nach Queens hinüber. Schließlich dreht er sich um, packt das Geländer und schwingt sich auf die Uferpromenade zurück, rutscht auf dem Schnee aus. Slattery bekommt ihn um die Taille zu fassen und hält ihn aufrecht, Doyle bellt, Jakob stößt die Luft aus.
»Ich geh da nicht so rein«, sagt Monty wieder und schiebt Slattery weg. »Die brauchen mich bloß zu sehen, und schon bin ich erledigt. Du musst mir helfen, Frank.«
»Sag mir wie«, sagt Slattery verwirrt.
Monty pfeift, und Doyle springt auf und rennt zu ihm, wedelt mit dem Stummelschwanz, die Schnauze voller Schnee. Monty hakt die Leine ins Halsband und bindet sie mit einem Doppelknoten am Geländer fest.
»Mach mich hässlich«, sagt Monty.
Slattery und Jakob sehen einander an.
»Du hast es selbst gesagt«, sagt Monty. »Alles, was ich brauche.« Er knöpft seinen Mantel auf und legt ihn sorgfältig über das Geländer.
Slattery schüttelt den Kopf. »Das kann ich nicht. Wie stellst du dir das vor? Ich hau dir ein blaues Auge, und die lassen dich in Ruhe? Das ändert doch nichts.«
»Du denkst, ich verdien's nicht anders, stimmt's? Ich hab's versaut, stimmt's? Das denkst du doch - ich hab eine anständige Chance gehabt und hab's versaut. Stimmt's?«
Slattery schüttelt immer noch den Kopf. Er weicht vor Monty zurück. »Ich kann dich doch nicht verprügeln.«
Monty steht da, die Füße auseinander, die Arme vor der Brust gekreuzt. Er sieht kleiner aus ohne seinen Mantel, der schwarze Wollpulli macht ihn kleiner. »Klar kannst du das. Und du willst es auch, jedenfalls ein bisschen. Seit Jahren schon.«
»Ich mach das nicht.«
»Du willst es«, sagt Monty und geht auf ihn zu. »Komm schon, Frank. Hast du Schiss?«
Slattery hebt die Hände, Handflächen nach vom. »Hör zu...«
»Wovor hast du Schiss, Frank? Dass ich zurückschlage? Hast du Angst, dass ich durchdrehe und zurückschlage? Das wäre echt peinlich, was? Wenn ein kräftiger Kerl wie du auf einmal Prügel bezieht.«
»Hey, komm«, sagt Jakob. »Das ist doch irre.«
Monty dreht sich zu Jakob um und zeigt mit dem behandschuhten Finger auf ihn. »Wer redet denn mit dir? Wer redet denn mit dir, verdammt?«
»Schluss mit dem Quatsch«, sagt Slattery. »Hörst du? Schluss mit dem Quatsch. Gehen wir lieber was frühstücken.«
»Läuft doch alles ganz prima für dich, stimmt7s, Frank? Richtig klasse. Du kümmerst dich ein bisschen um Naturelle, sobald ich drin bin, stimmt's? Schaust mal, ob's ihr gut geht, nicht?«
»Was?«
»Meinst du, sie weiß nicht, dass du total auf sie abfährst? Du bist eine Witzfigur, Mann, du sabberst ihr die ganze Zeit hinterher, als wärst du ein Hund, der ihr am Arsch rumschnüffelt. Sie lacht über dich, Frank. Du bist eine Witzfigur, eine alte Witzfigur, über die keiner mehr lachen kann. Sie ist nicht einmal mehr geschmeichelt, so lange läuft das jetzt schon.«
»Na schön«, sagt Slattery leise. »Na schön.« Er dreht sich steif um und stapft davon.
»Hey, komm«, flüstert Jakob. »Hey, komm, Monty, was soll das? Sag ihm, dass du das nicht ernst meinst.«
Monty wirbelt herum und schlägt Jakob kräftig ins Gesicht, das Krachen von behandschuhten Knöcheln auf Wangenknochen hallt über die leere Promenade. Jakob fällt gegen das Geländer zurück, hält sich das Gesicht.
»Monty...«, keucht er.
Monty tritt näher und boxt Jakob noch einmal, diesmal in den Bauch, und Jakob fällt auf die Knie, keucht. Er bedeckt das Gesicht mit den Händen, um sich zu schützen, dann hört er ein gewaltiges Ächzen, hört zwei Körper in den Schnee krachen. Er sieht auf. Slattery hat Monty aufs Kreuz geworfen, hat ihn am Boden festgenagelt. Slattery hält Monty mit der linken Hand bei der Kehle gepackt und treibt ihm die rechte Faust ins Gesicht, wieder und wieder und wieder und wieder und wieder.
Doyle heult, versucht Slattery anzuspringen, wird aber immer wieder von der Leine zurückgerissen. Er zieht wie der Teufel, mit gefletschten Lefzen. Die Muskeln an seinen Hinterbeinen treten hervor, aber sein Herrchen ist einen Meter zu weit weg. Er gibt nicht auf, versucht immer wieder Slattery anzuspringen, wird immer wieder zurückgerissen.
Jakob berührt seine brennende Wange und besieht sich seine Finger: kein Blut. Slattery schlägt immer noch auf Monty ein, die Schläge klingen allmählich feucht, und Monty hört auf, sich unter ihm zu winden.
»Frank«, sagt Jakob und zieht sich am Geländer hoch. »Frank.«
Das Blut um Montys Kopf herum, es dampft und schmilzt sich durch den Schnee. Das Geräusch dieser Faust, die ein Gesicht zu Brei schlägt. Das Heulen des Hundes, das Peitschen der Leine.
Jakob stolpert zu Slattery hinüber und stößt ihn an. »Hör auf!«
Slattery schaut hoch, das Gesicht tränenüberströmt, den Mund weit offen, Speichelfäden zwischen den Lippen.
»Schluss«, sagt Jakob. »Schluss jetzt.« Er greift dem großen Mann unter die Arme und hilft ihm aufzustehen.
»Herr im Himmel«, sagt Slattery, als er Monty ansieht. »Herr im Himmel.«Jakob bückt sich und dreht Monty auf den Bauch. Monty hustet. Ein dicker Klumpen Blut fällt ihm aus dem Mund. Doyle bellt wie verrückt. Jakob rafft ein bisschen Schnee zusammen und hält ihn Monty sanft ans Gesicht; er vergewissert sich, dass Monty noch atmet.
Slattery sieht zu, sprachlos, die blutigen Hände neben den Hüften. Jakob bleibt neben Monty hingekauert, die Finger in seinen Nacken gelegt. Doyle bellt und bellt, obwohl er sich fast erwürgt bei dem Versuch, zu seinem Herrchen zu kommen. Auf dem Fluss bläst ein Schlepper sein Horn, und Jakob denkt: Eine Crew hat es doch noch in ihr Boot geschafft.
Schließlich schüttelt Monty sich den Schnee vom Kopf und geht auf alle viere, kriecht vorwärts.
»Halt noch einen Moment still«, sagt Jakob. »Halt still.«
Als Monty aufzustehen versucht, knicken ihm die Beine weg. Jakob schlingt die Arme um ihn, bevor er umfällt, und setzt ihn langsam wieder in den Schnee.
»Bleib lieber noch sitzen.«
Monty kämpft sich wieder hoch, und diesmal bleibt er stehen, obwohl er schwankt wie betrunken. »Geht schon«, sagt er leise, kaum verständlich. Er wendet seinen Freunden das Gesicht zu.
Slattery sieht ihn an und ächzt, setzt sich schwer in den Schnee. Lässt den Kopf hängen, bedeckt das Gesicht mit der rechten Hand, die glitschig ist von Blut. »Herr im Himmel.«
»Krankenhaus«, sagt Jakob. »Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen.«
»Nein«, sagt Monty und stolpert auf sie zu. Doyle winselt, kratzt mit den Pfoten, verwirrt. Monty beugt sich unsicher hinunter und krault ihn hinter dem Ohr.
»Schön brav sein«, sagt er.
Slattery sitzt immer noch im Schnee. Er schluchzt. Monty beugt sich zu ihm hinunter und küsst ihn auf die Stirn.
»Tut mir Leid«, sagt er.
Slattery schaukelt vor und zurück, die Hände über dem Gesicht, die Stirn blutverschmiert.
Monty dreht sich zu Jakob um und berührt ihn an der Schulter. »Pass gut auf meinen Hund auf.«
Er nimmt seinen Mantel vom Geländer und entfernt sich von ihnen, entfernt sich vom schwarzen Fluss, von den Stahlbrücken, dem steinernen Leuchtturm, der Sonne, die über Queens aufgeht, geht an den Basketballplätzen vorbei, den Schaukeln auf dem Spielplatz, die Stufen hinunter und über die Straße nach Hause.