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Monty hat schon hundert Mal auf dieser Bank gesessen, aber heute sieht er sich die Aussicht ganz genau an. Das hier ist sein Lieblingsplatz in der City. Das hier möchte er sehen, wenn er dort, wo er hingeht, die Augen schließt: den grünen Fluss, die Stahlbrücken, die roten Schlepper, den steinernen Leuchtturm, die Schornsteine und Lagerhäuser von Queens. Das hier möchte er sehen, wenn er morgen Nacht und in sämtlichen anderen Nächten der nächsten sieben Jahre die Augen schließt; das hier möchte er sehen, wenn die elektronisch gesteuerten Tore zugefallen sind, wenn das Neonlicht aus- und die schwache rote Notbeleuchtung angeht; während der Nacht mit ihren geflüsterten Witzen und Drohungen, ihren Masturbationsgrunzem und dumpfen Bass tönen aus den verbotenerweise noch laufenden Radios. Zweitausendfünfhundert Nächte in Otisville, auf einer schweißfleckigen Matratze, zwischen tausend schlafenden Sträflingen, der nächste Freund neunzig Meilen weit weg. Grüner Fluss, Stahlbrücken, rote Schlepper, steinerner Leuchtturm.
Monty sitzt auf einer Bank auf der Promenade am East River, trommelt mit der Rechten auf den rissigen Latten, die Leine fest ums Handgelenk gewickelt. Er schaut sich Queens durch die geschwungenen Eisenstangen des Geländers an, die Triborough Bridge im Norden, die 59th Street Bridge im Süden. In der Mitte des Flusses die Nordspitze von Roosevelt Island, bewacht von einem alten gemauerten Leuchtturm.
Der Hund will laufen. Er zerrt an der Leine, schiebt sich mit den Hinterläufen vorwärts. Die Muskeln treten hervor; die schwarzen Lefzen sind zurückgezogen, dass die Fänge leuchten. Nach vier Jahren Hunderunden am Fluss weiß Monty, was der Promenade blüht, wenn er Doyle laufen lässt: Krieg. Vielleicht besteigt der Pitbull dann das Dalmatinerweibchen drüben bei dem kaputten Springbrunnen, vielleicht legt er sich auch mit dem Rottweiler an. Doch ganz egal, ob dann Hundesperma oder Hundeblut verspritzt wird und die Riesenarena von Bellen und Jaulen widerhallt - Doyle will los.
Der Fluss treibt zehn Meter unter Mann und Hund dahin, eine grüne Brühe, hier und da mit schimmernden Getränkedosen durchsetzt. Ein frisch gestrichener roter Schlepper, die Seiten mit LKW-Reifen bestückt, zieht einen Müllkahn den Fluss hinab. Über dem Kahn kreisen Möwen und beschimpfen einander, die weißen Flügel durchsichtig in diesen ersten hellen Minuten des Tages. Sie stürzen auf die Wellen hinab und schnappen sich essbare Brocken, verschlucken sie mit einer knappen Kopfbewegung.
Doyle macht Platz und sieht traurig zu den anderen Hunden hinüber, das Maul leicht geöffnet. Ab und zu kommt seine Zunge hervor. Ein Taubenmännchen, die Füße von der Farbe gekauten Kaugummis, stolziert mit geschwellter Brust und wippendem Kopf näher, bis der Pitbull es mit einem beiläufigen Knurrlaut verscheucht. Drei Bänke weiter übt ein Mann auf einer zwölfsaitigen Gitarre seine Griffe. Zwei junge Männer in Kapuzenpullis kommen vorbei, die Jeans unterhalb der Hüfte, grüne Buchstaben auf die Knöchel tätowiert. Sie nicken Monty zu, aber er nimmt sie nicht wahr. Er sieht sich den Flusslauf im Süden an, die riesigen Schornsteine von Queens, die weiße Wolken himmelwärts blasen, die Straßenbahn, die von Roosevelt Island hochfährt, den schimmernden Verkehr auf der 59th Street Bridge. Über LaGuardia steigt ein Flugzeug auf, und Monty schaut zu, wie es den linken Flügel neigt und nach Westen abbiegt. Er ist völlig darauf konzentriert, auf die Leichtigkeit, mit der der silbrige Jet davonschießt.
Auf die um sein Handgelenk gewickelte Leine kommt Zug. Doyle hat sich wieder aufgesetzt und bellt einen näher kommenden Mann drohend an. Der Neuankömmling bleibt stehen, ein ängstliches Halblächeln im Gesicht. Er ist nicht der unüblichen Wärme dieses Januarmorgens entsprechend angezogen: langer Schal, zwei Mal um den Hals gewickelt, schwerer Daunenparka, dessen Nähte sich lösen, Gummistiefel bis knapp unter die Knie. Er tritt vom einen Fuß auf den anderen und kaut hektisch Kaugummi.
»Was ist los da oben, Monty? Bist früh unterwegs heute.«
Das Flugzeug ist verschwunden. Monty nickt, sagt aber nichts.
»Kannst du ihm mal sagen, dass gut ist? Hey, Hundi. Hey, guter Hund. Ich glaub, dein Hund kann mich nicht leiden.«
»Geh weg, Simon.«
Der Mann nickt, reibt sich die Hände. »Ich hab Hunger, Monty. Bin vor 'ner Stunde aufgewacht vor Hunger.«
»Da kann ich nichts machen. Geh hoch zur Hundertzehnten.«
»Zur Hundertzehnten? Hör mal, ich bin flüssig.« Er greift in die Tasche und holt eine Rolle Fünf-Dollar-Scheine hervor, die von einem Gummiband zusammengehalten werden.
»Steck das ein«, faucht Monty. Doyle fängt an zu knurren.
»Schon gut, schon gut. Wollt ja bloß klarstellen, dass ich keinen Gnadenschuss will.«
Monty sieht zu dem Leuchtturm hinüber. »Ich bin draußen, Mann.«
Simon deutet auf ein paar kleine Schorfstriche an seinem Kehlkopf. »Schau dir das an. Hab mich geschnitten heute Morgen beim Rasieren - vier Mal! Ich kann meine Hände nicht ruhig halten. Komm, Monty. Lass mich nicht hängen. Ich kann doch nicht nach Harlem — schau mich doch an. Wen kenn ich denn in Harlem? Die machen mich alle, da oben. Wie bei Tom und Jerry, bloß dass ich Jerry bin. Ich brauch meinen Käse, Monty, ich brauch meinen Käse! Ich bin am Verhungern, Mann.«
Lange sagt keiner etwas, dann steht Monty auf und geht auf den Mann zu, immer näher, bis ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt sind. »Du brauchst Abstand zu mir, Freundchen. Hast doch gehört, ich bin nicht mehr im Geschäft.«
Doyle schnuppert an Simons Schuhen, dann arbeitet seine Nase sich das Hosenbein hinauf. Simon tänzelt einen halben Schritt nach hinten, versucht von dem Hund wegzukommen, ohne ihn aufzuregen. »Was soll der Quatsch? Hast du Angst, ich lass dich auffliegen? Hey Mann, du kennst mich doch.«
»Du hörst nicht zu. Die haben mich erwischt. Schluss Ende. Aus. Also mach 'ne Fliege und geh heim zu deiner Anwaltsmama oder hoch zur Hundertzehnten meinetwegen. Aber lass mich verdammt noch mal in Ruhe.«
Simon blinzelt und stolpert rückwärts, versucht zu lachen, sieht über die Schulter nach hinten, schau Doyle an, reibt sich mit dem Handrücken über die Nase. »Fünf Jahre lang bin ich jetzt zu dir gekommen. Alles klar, kein Problem. Ich geh schon. Kein Grund, fies zu werden.«
Der Hund will laufen; er zieht an der Leine, und Monty folgt ihm an den Zementschachbrettem vorbei, wo die beiden im Sommer zwischen den Kiebitzen gestanden und sich die Duelle angesehen haben. Little Vic hat hier immer gespielt; Little Vic, der auf Riker's Island Großmeister gewesen ist, bis ein Russe wegen Fälschung verknackt wurde und ihn in vier Spielen hintereinander fertig gemacht hat. Aber heute drückt hier niemand seine Schachuhr; zu früh für einen Wintermorgen. Die Frührentner sind alle noch beim Futtern.
Monty und Doyle spazieren westwärts, bleiben an einem Zaun stehen und sehen sich ein Basketballspiel an. Die Teenager nutzen den warmen Tag für ein schnelles Spielchen vor der Schule. Doyle schnuppert an Pfählen, die nach der Pisse von gestern stinken. Monty taxiert die Spieler schnell, zutreffend und verächtlich. Der Point Guard bringt ums Verrecken keinen Ball vernünftig ins Spiel, der Shooting Guard kann nicht links Vorbeigehen, der Dicke weiter drüben lässt jeden Wurf zu früh durchblicken. Monty fällt ein Samstag ein, an dem dieser Platz ihm und vier Freunden gehört hat, an dem sie jedes einzelne Spiel gewonnen haben, bis die Verlierer sich frustriert davonmachten, ein Nachmittag im August, an dem jeder Sprungwurf flutschte und Monty die Positionen seiner Mitspieler ohne Hinsehen wusste und ihnen den Ball so leicht Zuspielen konnte wie nur irgendwas.Mann und Hund gehen die Stufen zur Senke des Carl- Schurz-Parks hinab. Ein schwarzes Stangenviereck um zwei Reihen verkümmerter Gingko-Bäume herum, deren Blätter wie japanische Fächer geformt sind. Auf den umliegenden Bänken sitzen alte Leute und genießen das Wetter, werfen den Vögeln Krumen zu, lesen die hinteren Seiten der Post, kauen Kartoffel-Knisches. Schwarze Frauen schieben weiße Kleinkinder in Plastiksportwagen spazieren. Auf den Hängen um die Senke herum dienen schroffe, bunt bekritzelte Felsen als Gedenktafeln:
MIKO+LIZ, 84 BOYS, THE LOW- LITE CRUZERS, SANE SMITH.
Sane Smith war hier. Sane Smith war überall. Sane Smith ist tot, ist die Brooklyn Bridge runtergesprungen. So hat Monty jedenfalls gehört. Als der umtriebigste der New Yorker Graffiti-Künstler hat Sane Smith seinen Namen überall auf Reklametafeln und Straßenüberführungen und Wassertanks geschrieben, von Far Rockaway bis zum Mosholu Parkway, von der Sheepshead Bay bis zu den Forest Hills, von New Lots bis nach Lenox. Die werden seinen Namen noch in hundert Jahren von irgendwelchen Mauern schrubben.
Doyle bleibt stehen, um die Schätze in einem Abfalleimer aus orangenem Maschendraht zu inspizieren, aber Monty zieht ihn weiter. Während sie an der East End auf Grün warten, kachelt ein Feuerwehrwagen vorbei. Die Männer an Bord sehen grobknochig aus und zuversichtlich, wie sie dort einsatzbereit kauern in ihren hohen Stiefeln. Einer mit Heck- Drehleiter, denkt Monty und sieht zu, wie der rote Wagen Richtung Norden rast. Du hättest einen tollen Feuerwehrmann abgegeben, sagt er sich. Aber nein, stattdessen führt er in Yorkville seinen Hund spazieren und sieht sich alles genau an, versucht jede Einzelheit aufzunehmen: dass sich der frische Asphalt wie schwarze Butter auf der Straße ausbreitet, dass die Rücklichter in der Dämmerung aufblitzen und tanzen, dass hinter den hell erleuchteten Fenstern hoch über der Straße Leute sind, die er nie kennen lernen wird.
Auf der Second Avenue kommt er an einem Schnellrestaurant vorbei. In der einen Nische sitzt eine schöne Frau und lächelt ihn an, das Kinn auf die Speisekarte gestützt - aber es ist zu spät, mit ihr ist ihm nicht mehr geholfen. In vierundzwanzig Stunden steigt er in den Bus nach Otisville. Morgen Mittag ist er kein Mensch mehr, nur noch eine Nummer. Die Schönheit in der Nische ist ein Fluch. Ihr Gesicht wird ihn verfolgen. Sieben Jahre lang.