10

Die Fußgängerampel schaltet um, und Slattery tritt auf die Straße. Jakob packt ihn beim Ellbogen. Ein getunter viertüriger Pick-up biegt mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke und zieht eine Fahne schwerer Bassklänge hinter sich her, ein Nachbild der lachenden Gesichter des Fahrers und seiner Passagiere.

»Hab dir das Leben gerettet«, sagt Jakob und lächelt. Es gefällt ihm sehr, dass er das Auto hat kommen sehen, dass wider alle Erwartungen er derjenige mit den schnellen Reaktionen gewesen ist. Aber Slattery zeigt keine Dankbarkeit; er starrt dem davonschießenden Truck wütend hinterher.

»Hast du das gesehen? Sie haben uns ausgelacht! Diese kleinen Scheißer fahren uns fast über den Haufen, und dann lachen sie uns auch noch aus!«

»Idioten«, sagt Jakob. »Teenager.« Er fragt sich, ob es wohl welche von seinen Schülern gewesen sind, irgendeine Clique, die mit ihren Noten unzufrieden ist. Womöglich von Mary D'Annunzio angeheuert.

»Diese kleinen Arschlöcher.« Slattery steht immer noch am Bordstein und starrt durch den fallenden Schnee in die Richtung, in der der Truck verschwunden ist. »Kommen sich wohl stark vor hinter zwei Tonnen Stahl.«

Zehn Minuten später sitzen sie in einem chinesischen Restaurant am Fenster, und Slattery redet immer noch davon. »Diese Gören können nicht einmal ihre Namen schreiben, die sind in den Achtzigern geboren, Scheiße noch mal, und trotzdem heißt es: Ja, klar, haut rein, hier ist ein Führerschein, schnappt euch einen großen Truck und heizt richtig los, macht richtig einen drauf und kümmert euch nicht um dieses weiße Zeug, das ist bloß Schnee, fahrt so schnell, wie ihr Lust habt. Sollen sie wegen mir auch ruhig machen, zu Hause in Jersey oder sonst wo, wenn sie ihr Auto unbedingt zu Klumpfahren wollen. Aber müssen sie nach New York kommen und mein Leben aufs Spiel setzen?«

Jakob sieht aus dem Fenster. Eine Frau kämpft mit ihrem Regenschirm, versucht ihn wieder zurückzustülpen, während der Schnee sich in ihren verwirrten roten Haaren sammelt. Jakob sieht, wie sie sich abmüht, und verliebt sich in sie. Jakob verliebt sich ständig in Frauen, denen er durchs Fenster zusieht, wie sie mit ernster Entschlossenheit drauflos marschieren, wohin auch immer. Jedenfalls nicht zu mir, denkt er trübsinnig und verdreht dann die Augen über so viel Selbstmitleid. Er schenkt Slattery und sich Tee ein.

Der Ober kommt, um ihre Bestellung aufzunehmen. Er macht ein finsteres Gesicht, als er ihre Wahl hört, und greift sich wortlos die Speisekarten. Jakob stellt sich den Ober als den großen Dichter seiner Generation vor, der wegen seiner regimekritischen Äußerungen zur Flucht aus China gezwungen gewesen ist und sich nun seinen Lebensunterhalt damit verdienen muss, kulturlosen Leuten geschmackloses Essen aufzutischen.

Slattery zeigt mit dem Kinn zum Fenster. »Kommt ganz schön was runter.«

»Sie haben dreißig Zentimeter angesagt«, erwidert Jakob. Er versucht, aus den wirbelnden Blättchen am Boden seiner Tasse die Zukunft zu lesen. Was wird aus Monty werden? Wo ist er gerade, draußen im Schnee oder irgendwo im Warmen, und was denkt er gerade, und hat er Angst? Er muss Angst haben, nur dass Jakob sich gar nicht vorstellen kann, dass Monty Angst hat, dass Monty ein ängstliches Gesicht macht. Nicht dass er so mutig wäre - eher fehlt ihm etwas. Manchmal fragt Jakob sich, ob Monty andere Menschen überhaupt als real begreift, als gefährlich.

Slattery betrachtet sein geisterhaftes Spiegelbild im Fenster, ein Gespenst im Schnee, dem die Haare ausgehen. Er betrachtet Jakob mit seiner Haarpracht. Was für eine Verschwendung, denkt Slattery.

»Neulich hab ich diese Berechnungen angestellt, und da rangierst du bei Zweiundsechzig.«

Jakob sieht auf. »Bei was?«

»Bei Zweiundsechzig. Alle Junggesellen von New York, also alle, die nicht schwul sind, kämpfen um die vorhandenen Frauen, stimmt's? Genauso wie High School-Abgänger um die guten Studienplätze kämpfen.«

Jakob macht den Mund auf, um etwas zu sagen, macht ihn zu, macht ihn wieder auf. »Und ich rangiere bei Zweiundsechzig?«

»Genau.«

»Mit anderen Worten, ich bin besser als zweiundsechzig Prozent der New Yorker Junggesellen.«

»Du rangierst über ihnen, genau.«

»Aber schlechter als... wie viel, achtunddreißig Prozent?«

»Siebenunddreißig. Hundert Prozent geht ja nicht.«

Der Ober kommt mit einem Tablett zugedeckter Servierplatten aus Aluminium. Er arrangiert die Platten auf dem Tisch und nimmt die Deckel ab: ein traurig vor sich hin dampfender Gemüseberg für Jakob, ein glitzernder Haufen Fleischstücke für Slattery.

Jakob bricht sein Paar Holzstäbchen entzwei. »Und warum ausgerechnet bei Zweiundsechzig?«

»Dort rangierst du eben. Das ist eine hochkomplizierte Berechnung.«

»Ach so, das ist eine hochkomplizierte Berechnung. Na, dann ist's ja gut. Wenn es nur eine hochkomplizierte Berechnung ist. Und wo rangierst du? Was ist bei dir herausgekommen?«

»Neunundneunzig«, sagt Slattery, greift sich mit den Fingern einen Kloß und taucht ihn in den Sojasoßensee auf seiner Platte.

»Donnerwetter. Und wer hat diese Berechnungen angestellt?«

»Ich.«

»Ach so, verstehe. Du hast diese Berechnungen angestellt. Und du rangierst bei Neunundneunzig. Ist ja hochinteressant. Und worauf basieren diese Berechnungen? Welche wissenschaftliche Grundlage haben...«

»Jetzt reg dich bloß nicht auf«, sagt Slattery durch einen Mundvoll Schweinefleisch und Lauch. »Es ist ein System. Das heißt doch nicht, dass du irgendwie minderwertig bist.«

»Als Junggeselle eben.«

»Nein. Da bist du besser als der Durchschnitt.« Slattery bläst Dampf in die vor den Mund gehaltenen Hände. »Heiß. Du hast dir diesen Haufen Grünzeug bestellt, und jetzt isst du gar nichts.«

Jakob spießt ein Stück Ruten-Kohl mit dem Ess-Stäbchen auf. »Und was sind die Kriterien?«

»Willst du auch einen Kloß...? Also, zunächst einmal Geld. Du machst keins. Damit kommst du schon mal nicht unter die oberen zehn Prozent.«

»Die oberen zehn Prozent von was? Die oberen zehn Prozent der Börsenzocker?«

»Die oberen zehn Prozent, Punkt. Zweitens, du bist zu klein. Keine Beleidigung, aber eine Menge Frauen wollen nicht mit jemandem zusammen sein, der kleiner ist als sie. Warum regst du dich so auf? Das ist eine Tatsache. Wie groß bist du, einsfünfundsechzig?«

»Ich bin einssiebzig.«

»Du bist nicht einssiebzig.«

Jakob schleudert mit seinem Ess-Stäbchen ein Stück Ruten-Kohl nach Slatterys Gesicht; Slattery fängt das Blatt in der Luft auf und stopft es sich in den Mund.

»Leck mich«, sagt Jakob, aber es klingt nicht. Wenn Jakob flucht, dann mit Verzögerung; jedes Leckmich und Scheißdrauf kommt als bewusst ausgewählt rüber. In Montys und Slatterys Rede wimmelt es von Flüchen, und bei ihnen klingt es ganz natürlich.

Slattery zuckt die Schultern. »So ist das eben, Mann. Lass dich doch davon nicht runterziehen.«

Aber Jakob hat sich schon runterziehen lassen. In der High School hat er sich damit getröstet, ein Spätentwickler zu sein, der pickelige Jungmann, der im Film immer von merkwürdig aussehenden Jungs mit Hosenträgern verkörpert wird, die die erste Spule lang nur gehänselt und gedemütigt werden, um ihre Unschuld bis zum Abspann an eine Schulschönheit zu verlieren. Jakob findet, dass auch ihm dieses Ende zusteht; er wartet jetzt seit zehn Jahren geduldig darauf. Natürlich ist er kein Jungmann mehr - Jakob hat mit drei verschiedenen Frauen geschlafen, die alle nett und auch irgendwie attraktiv gewesen sind. Aber nur drei? Mit sechsundzwanzig Jahren bloß drei Frauen? Sicher, er sollte da nicht statistisch rangehen, er will ja nicht Hank Aarons Homerun-Rekord brechen. Aber es ist hart, wenn die eigenen Freunde im ersten Jahr auf der High School kräftig am Rummachen sind und man selbst sich im Kabel irgendeine Nudisten-Talkshow ansehen darf; es ist hart, Der große Gatsby zu unterrichten und über Daisy zu reden und festzustellen, dass bei den eigenen Schülern mehr abgeht als bei einem selber; es ist hart, mit sechsundzwanzig Jahren immer noch den pickeligen Jungmann abzugeben, bloß dass man nicht mehr pickelig und kein Jungmann mehr ist.

In den letzten drei Wochen hat sich sein allabendliches Wichsen um Mary D'Annunzio gedreht, und das macht Jakob zutiefst fertig. Ich bin kein Perversling, sagt er sich, aber es fällt ihm schwer, das zu glauben. Sie ist zu jung, er weiß, dass sie zu jung ist, er weiß, dass er sie nicht anrühren wird, aber Herrgott noch mal, sie will ihm nicht aus dem Kopf. Und wenn ich drei Jahre warte?, denkt er. Ich könnte so lange warten. Könnte zu dem College hochfahren, auf dem sie dann ist, und ihren Namen im Verzeichnis der Studierenden nachschlagen. Und dann... was? Sie einfach anrufen? Was würde ich dann sagen?

Hallo, Mary? Mary D'Annunzio? Hier ist... erkennen Sie meine Stimme? Nein? Ich bin's, Mr. Elinsky! Von der Campbell- Sawyer.

Herrgott, ist das blöd, denkt Jakob. Lieber rauskriegen, wo sie wohnt, und dafür sorgen, dass ich ihr zufällig über den Weg laufe.

Mary? Mary D'Annunzio? Meine Güte, was machen Sie denn hier? Sie studieren hier, ja klar, das hatte ich vollkommen... Ach, ich besuche nur gerade ein paar Freunde. Was fiir eine nette Überraschung, Ihnen mal wieder über den Weg zu laufen... Bitte?... Natürlich, Sie können mir alles sagen, was Sie wollen... Nein, sagen Sie es mir ruhig, ich bitte Sie darum. Bei mir sind Geheimnisse gut aufgehoben.... Sie sind damals in mich verknallt gewesen? Im Ernst...? Nein. Nein, das muss Ihnen nicht peinlich - das ist doch...na ja, ob so viele Mädchen, weiß ich nicht. Ein paar vielleicht.

»Was grinst du denn so?«, fragt Slattery.

»Und wieso rangierst du bei Neunundneunzig? Das möcht ich gern wissen.«

»Na ja, ich...«

»Abgesehen von deinem Einkommen.«

Slattery zögert. »Also...«

»Dein Haarausfall müsste doch Punktabzug geben, oder nicht?«

»Nein, ganz und gar nicht. Der würde eine Frau bloß stören, wenn er mich stört.«

»Er stört dich doch«, sagt Jakob.

»Nein, tut er nicht.«

»Natürlich stört er dich. Wenn er dich nicht stören würde, würdest du dir doch nicht zweimal am Tag dieses Zeug auf den Kopf schmieren.«

Jakob weiß, dass es gefährlich wird, auf einer Sache weiter herumzureiten, wenn Slattery diesen Blick mobilisiert, wenn er einen anschaut, als wäre man eine Fliege, die über den Fernseher läuft, aber Jakob weiß auch, dass er damit durchkommt. Ihm würde Slattery nie eine knallen. Trotzdem muss Jakob wieder daran denken, wie Slattery einmal in der Verlängerung einen Ringkampf verloren hat, im letzten Jahr, seinen ersten Kampf als Mannschaftskapitän. Anschließend saßen sie nebeneinander in der Umkleide, und Jakob versuchte seinen Freund aufzubauen. Slattery wiegte sich mit geschlossenen Augen vor und zurück, ein weißes Handtuch über dem Kopf, und der Schweiß lief ihm das nackte Kreuz hinunter. Er ächzte, ein langes, dumpfes Ächzen, dann beugte er sich vor und knallte seine Linke in den gegenüberliegenden Spind. Ohne etwas zu sagen stand er auf und ging unter dieDusche. Jakob saß da, allein auf der Holzbank, und starrte die eingedrückte Spindtür an. Das obere Scharnier war komplett abgerissen.

Slattery fischt mit den Fingern ein nicht aufgequollenes Korn aus seinem gebratenen Reis, inspiziert es und schnippt es weg. »Haare sind kein Thema.«

»Sind Tischmanieren ein Thema? Dieses glänzende Teil links neben deinem Teller ist eine Gabel. Reis isst man mit Stäbchen oder mit der Gabel - oder meinetwegen auch mit einem Löffel -, aber Erwachsene essen ihren gebratenen Reis jedenfalls nicht mit den Fingern. Du weißt überhaupt nicht, wie man sich benimmt. Du verbringst die ganze Woche damit, irgendwelche ausländischen Staatshaushalte zu ruinieren oder was du da sonst so treibst, und wenn du dann rauskommst aus deinem Büro und wieder in dieser merkwürdigen Welt bist, die man Realität nennt, dann hast du keine Ahnung, wie du dich benehmen sollst. Und wie steht's mit Monty? Wo rangiert der auf deiner tollen Skala?«

»Monty? Monty geht ins Gefängnis. Das macht eine glatte Null.« Slattery hebt sich halb aus dem Stuhl und streckt sein linkes Bein durch, bis es leise plopp! macht.

»Geht's dir gut?«, fragt Jakob. »Die Kriegsverletzung wieder?«

Aber Slatterys Gesicht ist dunkel, seine Nüstern beben. »Diese kleinen Scheißer hätten mich fast umgebracht.«

»Wer?«

»Diese Idioten in dem Edel-Pick-up. Die wollten mich über den Haufen fahren.«

»Da wirst du jetzt den ganzen Abend drauf rumreiten, stimmt's?«

»Ich würd sie gern in die Finger kriegen. Bei Gott. Wollen wir doch mal sehen, wie hart sie dann drauf sind. Gib mir mit jedem von ihnen fünf Minuten in einem abgeschlossenen Raum. Nur fünf Minuten. Dann wollen wir mal sehen.«

»Komm und iss deine Rippchen. Sie werden kalt.«

Ich bin von lauter Irren umgeben, denkt Jakob. Der Ober ist ein zorniger Exilant; mein bester Freund ist ein Berserker; der Mann, der gerade am Fenster vorbeigeht, ist auf dem Weg nach Hause, um seine Frau umzubringen. Diese Stadt ist ein Irrenhaus. Was hab ich hier verloren?

Aber Jakob ist sich darüber im Klaren, dass er nie von New York wegziehen wird. Er hat nach dem College für ein Jahr in Seattle gelebt, und das hat es nicht gebracht. Er kam sich wie ein lebendes Klischee seiner Generation vor - er hat in einem Coffee Shop gearbeitet, Herrgott noch mal, und sich sogar einen Zickenbart stehen lassen. Nach einer Weile ging ihm auf, dass ihm die Musik, die er angeblich so toll fand, eigentlich überhaupt nicht gefiel, dass ihm aus lauter Vorfreude auf die zehntausend Kilometer Mountainbike-Strecken im Umland eben doch keiner abging, dass er sich in der Gegenwart seiner tätowierten und gepiercten Mit-Espressomahler vorkam wie die Ulknummer in einem längst aus der Mode gekommenen Musikvideo. Er fuhr vor dem Passahfest zum Sederabend nach Haus und begriff, dass er sich nach der Stadt sehnte und dass mit Stadt immer nur eine gemeint sein konnte. Wohin er auch ging, überall flehten ihn die Leute an, wieder zurückzukommen. Komm zurück, sagte die lederbehoste Schönheit an der Kasse einer Boutique auf der Madison Avenue; komm zurück, sangen die ekelhaften Vörzeigeangestellten im U-Bahnhof Union Square; komm zurück, riefen die Hotdog-Verkäufer draußen vor dem Metropolitan Museum; komm zurück, Jakob, komm zurück, schrie die ganze Stadt, komm zurück, und wir schreiben deinen Namen mit der Fensterbeleuchtung auf das Empire State Building.

Slattery brütet über seinem Teller Knochen. Seine Mundwinkel zucken. »Wie läuft7 s auf der Arbeit?«, fragt Jakob. Er hat das Gefühl, seinen Freund von dessen Gewaltfantasien ablenken zu müssen. Slattery scheint in der kalten Jahreszeit immer am mürrischsten zu sein: auf der High School hat er sich jeden Winter auf ein bestimmtes Gewicht runtergehungert, auf dem College auch. Das scheint ihm immer noch in den Knochen zu stecken.

Ein paar Sekunden lang sagt Slattery nichts. Dann: »Toll. Alle fahren voll auf mich ab.«

»Du hast Senf am Kinn«, sagt Jakob.

Slattery wischt ihn mit dem Handrücken ab. »Wir müssen los. Ich hab Monty gesagt, dass wir uns um zehn mit ihm treffen.« Er macht den Ober auf sich aufmerksam und deutet das Unterschreiben einer Rechnung an.

»Das heißt um halb zwölf, nach M.B.Z.«

»Ich sag dir was, mit der Monty-Brogan-Zeit hat es sich bald. Noch ein paar Stunden, und für ihn gilt die Bundeszeit.«

Jakob schüttelt den Kopf und sieht zu, wie auf der Sixth Avenue der Verkehr durch den Schnee rollt. »Ich find es einfach irgendwie nicht fair.«

»Was denn?«

»Irgendein Typ sticht seiner Frau ein Messer in den Kopf«, sagt Jakob, »und nach drei Jahren ist er wieder draußen. Monty hat vorher nie irgendwelchen Ärger gemacht, er hat niemanden erschossen, er hat niemandem einen Baseballschläger über den Kopf gezogen, und jetzt soll er für sieben Jahre hinter Gitter? Das ist nicht richtig.«

Slattery lässt sich vom Ober die Rechnung geben, überfliegt kurz die Posten und gibt ihm seine Kreditkarte.

»Wie viel schulde ich dir?«, fragt Jakob.

»Lass gut sein.«

»Nein, wieso? Ich kann doch...«

»Lass gut sein, Jake. Ist schon in Ordnung.«

Jakob lässt sich in seinen Stuhl zurückfallen. »Jedenfalls finde ich es einfach nicht fair.«

»Das sagtest du bereits. Du sagst seit zwei Wochen nichts anderes. Trotzdem ist es Schwachsinn.«

»Schwachsinn? Findest du das etwa gerecht? Findest du etwa, dass Monty das verdient hat...«

»Hey, wir waren doch zusammen auf Aaron Haddads Beerdigung. Weißt du noch wie seine Mutter ausssah? Sie mussten sie praktisch reintragen.«

»Weiß ich noch.«

»Die Bank, in der wir gesessen haben, hat gebebt. Den ganzen Gottesdienst hindurch hat die Bank gebebt. Und ich hab gedacht - unter uns fährt keine U-Bahn, wir sind auf der Madison Avenue. Warum also bebt diese Bank so? Und dann seh ich die Bank runter, und da sitzen diese drei Mädchen, diese drei hübschen Mädchen, und heulen sich die Augen aus. Sie waren dermaßen am Heulen, dass die ganze Bank gebebt hat. Tja, und das Dreckszeug, das Aaron umgebracht hat, ist genau das Dreckszeug, das Monty vertickt. Also hör auf mir zu erzählen, wie unfair es ist, dass der arme Monty in den Knast muss.«

Der Ober kehrt mit der Kreditkartenabrechnung an ihren Tisch zurück. Slattery unterschreibt und steckt die zweite Ausfertigung ein.

»Als ich das mit Aaron erfahren habe«, sagt Jakob, »da hab ich nicht gedacht: Junge, ich hoffe, sie finden den Typen, der ihm das Zeug verkauft hat. Ich hab gedacht: Dieser blöde Hund, hat sein Leben einfach weggeworfen. Niemand hat Aaron zu irgendwas gezwungen. Er hat seine Wahl getroffen und sich alles versaut. Weißt du was? Es tut mir Leid, ich weiß, wie fies das klingt, aber scheiß auf Aaron. Mike Feaney hat Knochenkrebs gekriegt und ist vier Jahre lang daran verreckt, und er hat die ganze Zeit lang gekämpft. Und Aaron schmeißt sein Leben einfach weg. Scheiß auf Aaron.«

»Na toll, und scheiß auf seine Mutter auch gleich noch oder was. Der Junge hat einen Fehler gemacht. Herrgott, Jakob, man macht eben Fehler, wenn man jung ist. Deshalb ist man doch noch kein schlechter Mensch.«

»Ich hab nicht gesagt, dass er deshalb ein schlechter Mensch gewesen ist«, sagt Jakob.

»Und deshalb hat er es auch nicht verdient zu sterben. Wie oft hab ich mir auf dem College richtig die Kante gegeben und mich dann ins Auto gesetzt und Pizza geholt? Jedes Wochenende? Und wenn ich mich auf dem Freeway zu Matsch gefahren hätte, hättest du dann auch gesagt: Scheiß auf Slattery, der hat's nicht anders verdient?«

»Wenn du betrunken Auto gefahren wärst, klar. Blöder Idiot, hätte ich gedacht. Aber gefehlt hättest du mir trotzdem. Und ich würde dem Barmann nicht vorwerfen, dass er dir Bier verkauft hat.«

Slattery schließt die Augen und reibt sich die Nasenwurzel. »Red keinen Scheiß. Monty hat sein Geld mit der Abhängigkeit anderer Leute verdient. Er hat eine Corvette gefahren, die Süchtige bezahlt haben. Und wenn du mir noch so viel Blödsinn erzählst, so sieht es nun mal aus. Und er hat sich schnappen lassen, und er kommt in den Knast, und weißt du was? Er ist mein bester Freund auf der ganzen Welt - du und er, ihr seid meine besten Freunde auf der ganzen Welt -, und ich liebe ihn wie einen Bruder, und leck mich, verdient hat er's trotzdem.«

Aber Jakob weiß, dass es nur einen besten Freund geben kann, nur einen, der die Hochzeit ausrichtet. Er wirft die Hände in die Luft. »Klasse. Wirst du ihm das sagen? Wirst du sagen: Hey, Monty, tut mir Leid wegen morgen, Bruder, aber du hast es nicht anders verdient?«

»Nein«, sagt Slattery und steht auf. »Das sag ich dir, und es bleibt unter uns. Und jetzt auf zu ihm.«