Kapitel 12

Der Regen schlug gegen die Scheiben, die Reifen zischten auf dem nassen Asphalt. Sie fuhren mit zwei Zivilfahrzeugen, im ersten saßen Berghammer, Mona und Lemberger, im zweiten Schmidt, Forster und Fischer. Berghammer fuhr, Lemberger gab ihm Anweisungen, Mona saß hinten und starrte in die Dunkelheit.

»Rechts«, sagte Lemberger vor ihr. Mona betrachtete seinen Hinterkopf. Er trug die dichten grauen Haare kurz und akkurat geschnitten. Der Nacken war sorgfältig ausrasiert.

»Auf die Autobahn?«, fragte Berghammer.

»Ja. Rechts.«

Sie bogen auf die Autobahn ein, Berghammer beschleunigte auf 140. Sie fuhren durch gestautes Spritzwasser, der Regen schien sich noch zu verstärken, die Sicht war fast null. Es war ihnen egal. Berghammer beschleunigte auf 160.

Wenn sie dort sind, sind sie in Gefahr. Mona wusste, dass Berghammer das Gleiche dachte. Es war einfach ein Gefühl, ein Instinkt. Theresa Leitner hätte an diesem Abend zu Hause sein müssen. Die Tatsache, dass sie es nicht war, auch nicht um halb elf, auch nicht um dreiviertel elf, sagte ihnen, dass sie sich beeilen mussten. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Leichen von Karin Belolavek und Maria im Schlamm liegen.

Warum? Warum?

Etwas war außer Kontrolle geraten. Auch diese Erkenntnis kam automatisch, als eine Art Quersumme aller Fakten, die sie im Laufe der vergangenen sechzehn Tage in mühsamer Kleinarbeit gesammelt und verwertet hatten. Mit Intuition hatte das nichts zu tun.

Bei Theresa Leitner liefen alle Fäden zusammen. Aber wieso? In jedem Fall war irgendetwas schief gegangen. Das passierte häufig. Es gab den perfekten Mord, aber nicht so, wie ihn sich die Leute vorstellten. Der perfekte Mord war ein Bandenmord, gedeckt durch das Gesetz des Schweigens. Der perfekte Mord wurde an alten, kranken Angehörigen begangen, indem man die bereits Geschwächten mit einem Kissen erstickte oder ihnen Mund und Nase zuhielt. Keine Spuren, keine Hinweise, keine Lust auf Scherereien: Der herbeigerufene Hausarzt schrieb die Floskel »Tod durch Herzversagen« auf den Totenschein, und schon war der Fall erledigt, weil es keinen Fall gab.

Der perfekte Mord nach einem ausgeklügelten Plan war dagegen eine ganz andere Geschichte. Zu viele Eventualitäten, die die Täter vorher nicht bedachten. Zu viele Mitwisser, die plötzlich Skrupel bekamen oder sich als Erpresser betätigten. Zu viel Pfusch bei der Tat selber.

Was war hier der Plan gewesen?

Was wäre, wenn sie Karin und Maria finden würden wie Thomas Belolavek, vergraben, verwest, unkenntlich?

»Kannst du nicht noch einen Zahn zulegen?« Mona biss sich auf die Unterlippe, Berghammer würdigte sie nicht einmal einer Antwort. Er fuhr konstant 160 trotz der Wassermassen um sie herum. Mona drehte sich um, aber sie konnte nicht erkennen, ob der Wagen hinter ihnen derjenige Fischers war.

»Die nächste Ausfahrt müssen wir raus«, sagte Lemberger ein paar Minuten später. Mona atmete auf, Berghammer blinkte und bremste ab. Der Wagen hinter ihnen blinkte ebenfalls.

»Wie weit ist es jetzt noch?«, fragte Berghammer. Mona sah sein Profil im Schein der Rücklichter vor ihnen; es sah hart aus wie Granit.

»Zwanzig Minuten ungefähr.«

Maria schlug die Augen auf. Sie hörte Stimmen, zwei Frauen. Ihre Mutter und eine andere. Sie stritten.

»...das kannst du nicht machen...«

»...warum...«

»... bitte nicht...«

Sie lag auf einem... Sofa. Sie war nicht mehr müde, und ihre Stummheit war vorbei. Sie sagte leise ihren Namen vor sich hin.

Maria.

Sie waren hier in einem Haus, das ihr nicht gefiel. Es roch... alt. Es war dunkel, denn die Fenster waren klein. An den Wänden waren hässlich gemusterte Tapeten, und die Küche war bestimmt mehr als zwanzig Jahre alt. Die Bäder waren braungrün gefliest. Maria hasste dieses Haus, aber sie war nicht in der Lage wegzugehen. Sie musste erst wieder ... auftauchen. Sie war in einer Höhle gefangen. Sie konnte nicht reden und sich nicht erinnern.

...PAPA!...

...sich nicht erinnern...

Aber jetzt... erinnerte sie sich. Alles kam zurück. Schälte sich ganz langsam aus der Dunkelheit.

31. August. Der Tag, an dem sie versucht hatte, einen Menschen zu töten - Milan, den Geliebten ihrer Mutter.

31. August. Es ist neun Uhr abends, Maria befindet sich in ihrem Zimmer. Sie hört ein Klingeln an der Haustür. Ihre Mutter ist nicht da, sie ist mit dieser Freundin, dieser Theresa, essen. Sie geht auf die Galerie und sieht hinunter, mit einem dumpfen unbehaglichen Gefühl im Bauch.

Maria hat an diesem Tag versucht, einen Menschen zu töten.

Dieser Mensch steht jetzt unten im Flur, sie sieht ihn von der Treppe aus.

Milan.

Er spricht mit ihrem Vater...

Er sagt ihm, was passiert ist. Das glaubt sie jedenfalls, denn sie kann seine Worte nicht verstehen, weil sie wieder dieses Rauschen in den Ohren hat.

Aber sie sieht von oben das entsetzte Gesicht ihres Vaters.

Sie hört: »... Das ist doch Quatsch! Meine Frau...«

Es war ein heißer Tag, der Abend ist immer noch drückend schwül. Von ferne grollt Donner.

»...verschwinden Sie hier!«, ruft ihr Vater. »Raus!«

Etwas knallt. Eine Tür. Ein Windstoß hat eine Tür knallen lassen. Die Fenster stehen weit offen, und es ist schon oft passiert, dass ein plötzlicher Windstoß von draußen einen Blumentopf auf den Boden geschleudert hat. Maria geht in ihr Zimmer und sieht aus dem Fenster in den Garten hinab. Milan, der Mann, den sie töten wollte, ist ihrem Vater gefolgt, der aus irgendeinem Grund in den Garten gegangen ist. Milan und ihr Vater sind jetzt beide draußen im Garten. Wolken ballen sich am Himmel, eine weitere Bö fegt über das Gras, die ersten Tropfen fallen. Die Dunkelheit bricht ein.

Milan hat plötzlich ein Messer in der Hand.

Wie sie heute früh. Es ist ein Albtraum.

Er schreit. »Ich will sie!« (Wen meint er - ihre Mutter? Er kann sie nicht haben, sie gehört Maria und ihrem Vater!)

Er bestraft ihren Vater...

Satan! Er lässt dich nie wieder los, Maria. Du kannst ihm nicht entkommen.

Maria ist Satan nicht gefolgt. Sie hat Seinen Auftrag nicht ausgeführt, sie hat Milan nicht eliminiert. Deshalb muss ihr Vater sterben.

Maria will schreien, aber kein Laut kommt aus ihrer Kehle.

Das Messer versinkt bis zum Heft im Rücken ihres Vaters. Hellrotes Blut sprudelt aus seinem Rücken. Er bricht in die Knie, mit dem Gesicht nach oben, mit einem Ausdruck, als könnte er nicht begreifen, was passiert.

Maria sieht ihm direkt in die brechenden Augen, die sie anklagen. Deinetwegen muss ich sterben!

Bitte! Bitte nicht!

Milan stößt ein zweites und drittes Mal zu, dann springt er auf, mit entsetztem, schneeweißem Gesicht. Er lässt das Messer im Rücken ihres Vaters stecken. Er läuft - einfach weg... Er lässt Maria allein... Mit ihrem Vater, der...

 

Nachdem Thomas tot war, stand Karin mit ihrer Tochter vor meiner Tür. Es war morgens um halb sieben, der 1. September. Ich war wie vom Donner gerührt. Voller Panik. Was taten sie hier? Hatte Milan - geredet? Hatte er mich - uns - verraten?

Karin redete seltsames Zeug, das ich nicht begriff. Ihre Tochter war stumm und wirkte vollkommen abwesend. Ich sah Maria an. Tatsächlich stimmte etwas nicht mit ihr. Ihre Augen waren wie tot, und sie sagte die ganze Zeit kein Wort. Sie nahm einen Teelöffel in die Hand und klopfte damit auf den Küchentisch. Immer wieder. Sie verfiel in einen heiseren Singsang, vollkommen versunken in diesen monotonen Rhythmus. Hatte sie ... etwas gesehen? Das musste es sein! Sie hatte alles gesehen!

O Milan, du Idiot!

Das stellte mich vor eine völlig neue Situation. Aber dann begriff ich, dass sich alles bestens fügte. Denn Karin glaubte, Maria habe ihren Vater umgebracht. Maria war ihr schon länger unheimlich gewesen, und jetzt hatte sie sie verstört vor der Leiche von Thomas vorgefunden. Ich reagierte schnell. Denn jeden Augenblick konntest du kommen, und sie durften dich nicht sehen. Vielleicht hätte es gar nicht besser passieren können. Ich bot ihnen an, sie zu verstecken. Das hübsche kleine Haus der Tante. Mitten auf dem Land. Umgeben von Natur. Und kein anderes Haus weit und breit. Dort wollte ich ja eigentlich dich, Milan, unterbringen, um anschließend unsere Flucht zu organisieren. Aber das war ja gar nicht mehr notwendig. Niemand würde auf dich kommen, nicht einmal Karin! Ich gab ihnen meinen Wagen. Abends würde ich ihn wieder holen.

Ein sehr gutes Versteck. In jeder Hinsicht. Ich hatte sie auf diese Weise unter Kontrolle. So lange Maria in ihrem ... Zustand blieb jedenfalls. Ich musste nun schnell unsere Flucht organisieren... Sehr schnell. Gelang mir das nicht, würden Maria und Karin...

Man würde sehen.

Ich lebte einmal in einem schönen Haus, so wie Karin Belolavek. Ich hatte eine Familie wie sie. Nun wohnte ich beengt und ärmlich. Ich war bestraft worden. Karin nicht.

Das war einfach nicht gerecht, oder siehst du das anders?

Warum hast du mich so enttäuscht, Milan?

Warum wolltest du nicht mit mir fliehen? Warum hast du die ganze Zeit nur von Karin gesprochen und dass du sie sehen wolltest und dass ich dir die Adresse von dem Haus geben sollte und dass du es ohne sie nicht mehr aushieltest...

Mein Plan war fehlgeschlagen.

Die Tage vergingen, und du wolltest nicht einsehen, dass ich deine Zukunft war, nicht sie. Du hast mich wieder schlecht behandelt, nicht so, wie man seine Retterin behandelt. Du brauchtest einen Denkzettel. Und als du mir dann auch noch sagtest, dass es dieses Foto - dieses dumme Bild von uns beiden - gab und dass du es versteckt hattest und dass du reden würdest, falls...

Ich rief diese Kommissarin an. Sie sollte auf deine Spur kommen. Du solltest Angst bekommen und begreifen, dass ich deine einzige Hoffnung bin. Aber du hast immer noch nichts verstanden... Da musste ich auf Plan B zurückgreifen. Du wolltest mich erpressen, Milan. Das war zu viel. Ich erkannte, wie du wirklich warst. Undankbar!

Kai hat mir geholfen. Sie war die Einzige, die mich wirklich liebte. Du bist meine wahre Mutter, sagte sie zu mir. Ich hatte sie gehalten, damals, als Marion einfach verschwand. Ich hatte Stunden und Tage mit ihr geredet. Ich hatte in einem Bett mit ihr geschlafen. Ich war für sie da. Ich hätte sie gern als Tochter gehabt, Kai, und ihren Vater... Ich hätte ihn als Ersatz für dich akzeptiert.

Aber es sollte nicht sein.

Wir wurden Vertraute. Ich erzählte ihr alles, wie einer echten Freundin, die ich niemals hatte. Sie wusste, dass meine Ehe wegen dir gescheitert war. Sie war so viel reifer als andere Mädchen in diesem Alter. Sie war so intelligent und clever, so leidenschaftlich und verrückt. Sie wollte dich mir ausreden, unbedingt, sie hat dich viel früher durchschaut als ich. Ich konnte damals nicht auf Kai hören... Sie wollte, dass du stirbst, bevor du zum Mörder wirst und mich dadurch in Gefahr bringst: Sie wollte mich daran hindern, meinen Plan auszuführen. Aus Liebe. So sehr liebte sie mich: Sie wollte mich retten. Dafür bleibe ich in ihrer Schuld.

Es tut mir Leid, Kai verlassen zu müssen. Sie hat furchtbar für ihre Liebe zu mir bezahlt. Eines Tages werde ich sie holen, und wir werden für immer zusammen sein.

Und jetzt muss ich los.

 

Maria stand auf. Sie öffnete die Tür einen Spalt: Ihre Mutter stand mit dem Rücken zu ihr, ihre Freundin Theresa hatte etwas in der Hand. Eine Pistole. Ob sie echt war?

»Was willst du, Theresa? Was soll das?« Die Stimme ihrer Mutter. Ruhig und besonnen.

»Gerechtigkeit, meine Liebe. Endlich Gerechtigkeit.«

»Wir gehen rein«, sagte Berghammer. Im Regen und in der Dunkelheit sah das Haus alt und heruntergekommen aus. Aber aus zwei der Fenster schien Licht.

Sie zogen ihre Pistolen. Forster, Schmidt und Fischer verteilten sich um das Haus. Lemberger saß im Wagen. Mona klingelte.

»Polizei. Machen Sie die Tür auf! Sofort!«

Es vergingen ein paar Sekunden, dann öffnete sich die Tür. Ein zierliches Mädchen mit sehr kurzen blonden Haaren stand vor ihnen.

»Es ist ganz gut, dass Sie da sind«, sagte sie mit altkluger Stimme.

»Bist du allein?«, fragte Mona.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und ließ sie herein. Sie deutete auf ein Zimmer, dessen Tür offen stand. Ein hässliches beigefarbenes Sofa stand darin, und darauf saß eine Frau. Sie war ebenfalls blond, sehr zart und sah ihnen entgegen.

»Es tut mir so Leid«, sagte Karin Belolavek.

»Wo ist...«

»Theresa ist weg. Seit einer halben Stunde. Sie wollte nur mein Bargeld, sonst nichts.«

»Theresa Leitner...«

»Sie hatte alles geplant. Sie hat sich diese Geschichte mit Milan eingebildet...«

»Mit Milan?«

»Ja, sie hatte diese Korrespondenz mit ihm, als er wegen seiner... Freundin im Gefängnis war. Und danach... Also, sie hatten sieben, acht Wochen lang eine Art Affäre. Er hat mit ihr geschlafen - aus Dankbarkeit. Danach war nur noch Freundschaft zwischen ihnen. Aber...«

»Das reichte ihr nicht.«

»Sie hat nicht locker gelassen. Sie hat immer gehofft, dass wieder mehr draus würde und sich da in eine leidenschaftliche Liebesgeschichte hineinfantasiert, die monatelang dauerte, und...«

»Sie hat Ihnen davon erzählt?«

»Ja, oft. Wilde Sexszenen mit Milan... Sie hat mir Tipps gegeben, wie man ihn im Bett behandeln muss... Aber ich hab nie was dazu gesagt. Sie hat mir so Leid getan.«

»Ich würde sagen, wir besprechen das alles im Dezernat.«

»Ja, sicher... gleich... wissen Sie, sie wollte mich vernichten. Meine Familie, meine Existenz. Es ging ihr gar nicht um Thomas, ich war das Ziel. Sie war so eifersüchtig auf mich... und Milan. Sie wollte ihn zurückhaben. Sie wusste, ich wollte Milan nicht wirklich... als Partner. Ich habe ihn geliebt, aber er ist viel zu jung... Auch wenn Thomas nicht gewesen wäre...«

»Ja. Das besprechen wir gleich.«

Karin Belolavek begann zu weinen. Unter Schluchzern stieß sie hervor: »Sie wusste, ich würde nicht zu Milan zurückkehren, auch wenn mein Mann tot ist. Sie dachte, er würde sich wieder ihr zuwenden, sobald er begriffen hatte, dass ich ihn fallen lasse... Aber...«

»Milan wollte nur Sie.«

»Ich bin an allem schuld! Ich hätte nie...«

»Nein, Sie sind nicht schuld. Lassen Sie uns jetzt gehen.«

»...ich dachte wirklich, es wäre Maria gewesen. Das war das Schlimmste. Als ich nach Hause kam, kniete sie vor ... meinem Mann... und hatte das Messer in der Hand...«

»Frau Belolavek...«

»Sie war so total verstört. Sie hatte immer diesen... kalten Gesichtsausdruck. Ich musste erst wissen, was passiert war, bevor ich zur Polizei ging. Verstehen Sie das? Maria hat nicht geredet. Ich musste warten, bis sie redet.«

Mona sah Maria Belolavek an, die sich neben ihre Mutter gesetzt hatte und ihre Hand hielt. Sie steckte ihre Waffe ein, so wie die Männer hinter ihr.

»Bist du wieder okay?«, fragte Mona Maria. »Kannst du uns sagen, was genau passiert ist?«

»Ich glaube schon«, sagte das Mädchen leise und deutlich. »Ich glaube, ich bin wieder gesund.«

»Ich kam nachts nach Hause«, sagte Karin Belolavek und stockte. Eine schöne Frau, dachte Mona. Sie fühlte sich erschöpft und sehr wach zur gleichen Zeit. Es war halb zwei Uhr nachts, als sie endlich im Dezernat ankamen und die Vernehmung beginnen konnten.

Es kam nicht in Frage, bis zum nächsten Tag zu warten.

»Der 31. August«, sagte Mona.

»Ja.«

»Wann genau kamen Sie nach Hause?«

»Gegen halb eins, glaube ich.«

»Was war dann? Was haben Sie gesehen?«

Karin Belolavek stützte ihren Kopf in die Hände.

»Was?«, fragte Mona behutsam nach.

»Es zog im ganzen Haus, das Wetter hatte ja umgeschlagen. Die Tür zum Garten schlug hin und her. Das Geräusch - es war so unheimlich... Ich hab sofort gewusst, dass was nicht stimmte...« Sie begann zu weinen.

»Okay. Ganz ruhig. Wir haben Zeit. Sie sind dann in den Garten gegangen?«

»Ja.« Erneutes Weinen.

Mona wartete, bis Karin Belolavek sich beruhigt hatte.

»Sie waren im Garten«, sagte sie dann. »Was haben Sie gesehen?«

»Meinen ... Mann. Er lag auf den Terrakottafliesen. Er war... völlig verdreht. Seine Augen waren offen. Neben ihm saß ...Maria. Regungslos. Total durchnässt und zitternd. Es war so schrecklich... Dieses Bild.«

»Sie dachten...«

Karin Belolavek schnäuzte sich und sah auf. Ihre Augen waren rot, aber ihr Blick war klar.

»Sie wissen, was ich dachte. Ist doch wohl klar, oder?«

»Sie dachten, Ihre Tochter wäre es gewesen.«

»Ja. Sie hat neben Thomas gesessen, das Messer in der Hand. Das Blut... war beinahe völlig abgespült...«

»Was passierte dann?«

»Ich bin zu ihr hin, hab sie in den Arm genommen. Sie war völlig steif. Ich hab sie geschüttelt. Ich hab sie angefleht, mir alles zu sagen. Sie hat nicht geredet. Kein Wort. Das ging Stunden so. Dann habe ich ... Thomas..., ich meine, ich wollte ihn begraben, aber das hätte viel zu lange gedauert. Ich habe also die losen Bretter vom Boden des Geräteschuppens aufgehoben. Darunter war ... so eine Kuhle. Ich musste nicht lange graben. Ich habe Thomas hineingeschleppt... Er war so schwer. Ich habe die Bretter dann wieder darübergelegt... Er war so kalt, und sein Gesicht war so weiß...« Sie schluchzte auf.

»Hat Maria Ihnen dabei geholfen.«

»Nein. Sie...«

»Okay. Was passierte dann?«

»Ich habe meine Kleider gewechselt. Ich habe meine nassen blutigen Sachen mitgenommen und auch die von Maria. Ich habe sie umgezogen wie ein kleines Kind. Am nächsten Tag bin ich mit ihr zu Theresa gefahren. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wo ich sonst hin sollte. Erst hatte ich an Bertold gedacht, aber Bertold... Ich meine, er ist ein so guter Mensch, aber das hätte er nicht verkraftet.«

»Sie fuhren zu Theresa, und dann?«

»Theresa hat uns in dieses Haus gebracht. Sie war unglaublich, sie stellte kaum Fragen, ich war so glücklich, dass es sie gab, so dankbar... Ich hatte natürlich keine Ahnung...«

»Sie wissen, dass Sie vier Wochen in diesem Haus zugebracht haben, während wir...«

»Ja.«

»Sie waren sich darüber im Klaren, dass die Polizei Sie und Maria suchen würde. Dass Sie verpflichtet gewesen wären, uns zu benachrichtigen.«

»Ja! Aber ich musste warten, bis Maria mir sagen würde, was in jener Nacht passiert war. Ich musste es von ihr hören. Ich konnte nicht riskieren, dass man sie ins Gefängnis steckt. Ich hätte auch sechs Wochen mit ihr zusammen ausgehalten oder acht. Ich wäre mit ihr ans Ende der Welt geflohen, und wissen Sie was? Es ist mir völlig egal, wie Sie das finden. Maria ist alles, was ich habe. Ich hätte sie nie...«

»Und Maria hat nichts gesagt? Die ganze Zeit über nichts gesagt?«

»Sie hat nicht immer geschwiegen, wenn Sie das meinen. Wir kamen uns allmählich wieder näher. Ich habe ihr von Milan erzählt, von der Schuld, die ich auf mich geladen hatte. Wir haben auch darüber gesprochen, dass sie diese wahnsinnige Angst und diesen Hass in sich hatte, weil sie meinte, dass ich nicht mehr die Mutter war, die sie kannte und bei der sie sich geborgen fühlte. Aber sie hat kein Wort über diesen einen Abend verloren. Kein Wort. Nie. Als ob sie alles verdrängt hätte.«

»Und Sie haben bis heute geglaubt, dass Maria die Mörderin Ihres Mannes war?«

»Ja. Erst seit heute weiß ich, dass es Milan war. Aber ich weiß auch, es war richtig, Maria zu schützen. Sie werden mich auch jetzt nicht dazu kriegen, etwas anderes zu sagen. Ich bin so glücklich über diese Zeit, die ich mit ihr hatte. Wir sind wieder Mutter und Tochter. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Was ich getan habe, war richtig.«

Mona sagte nichts dazu. Schweigen senkte sich über das Vernehmungszimmer.

»Haben Sie Milan geliebt?«, fragte Mona nach einer Pause.

Zum ersten Mal sah sie Karin Belolavek lächeln. Sie warf einen zärtlichen Blick auf ihre Tochter, die zugedeckt auf einer Couch lag.

»Ich war verliebt in ihn. Ich habe ihn zeitweise wahnsinnig begehrt. Er war jung und schön und liebevoll, der Sex war großartig, und zwischen mir und meinem Mann war alles tot, was... jemals an Gefühlen da war. Maria hat uns zusammengehalten. Ich habe immer gewusst, dass ich mich von Thomas trennen würde, sobald sie alt genug wäre, um zu verstehen.«

»Aber?«

»Liebe ist etwas anderes. Nicht das, was wir hatten. Da war eine Menge zwischen uns, aber nicht Liebe. Ich habe versucht, Milan das zu erklären, aber er hat es nicht verstanden. Ich glaube, er kennt das einfach nicht.«

»Was kannte er nicht?«

»Liebe. Er hatte nie eine Chance zu erfahren, was Liebe wirklich bedeutet. Er hat mir so Leid getan.«

»Er hat Ihren Mann getötet. Er hat Ihre Familie zerstört.«

»Nein. Das war nicht Milan, das war ich. Ich bin diejenige, die alles zerstört hat.«

Es war acht Uhr morgens, als Mona vor Antons Haus parkte. Es wurde langsam hell, und es sah so aus, als würde es doch noch einmal einen schönen Tag geben, bevor der Spätherbst mit Regen und Kälte Einzug hielt. Mona blieb ein paar Momente im Auto sitzen. Dann stieg sie aus, schloss die Haustür auf und fuhr mit dem Glaslift nach oben, auf den Anton so stolz war, und klingelte an seiner Wohnungstür. Sie wollte nicht aufsperren. Sie musste erst sein Gesicht sehen, dann würde sie wissen, wie es weiterging mit ihr und ihm und Lukas. Und ob sie überhaupt noch einen Schlüssel für diese Wohnung brauchte.

Nach einer knappen halben Minute öffnete Anton die Tür. Er trug Shorts und ein weißes T-Shirt. Er sah müde aus, aber nicht erstaunt. Seine Miene war undurchdringlich. Er musterte Mona: ihren Parka, den er hasste, ihr erschöpftes Gesicht, ihre Haare, die gewaschen gehörten (so würde er es sagen: Die gehören gewaschen!). Langsam stiegen ihr die Tränen in die Augen, aber sie wandte den Blick nicht ab.

»Wie schaust du denn aus?«, fragte Anton. Er lächelte nicht. Aber er trat einen Schritt zurück, sodass sie eintreten konnte.