Kapitel 6

Heute war wieder ein wunderbarer Tag, eine Insel im Meer der Schmerzen und des grauen Missmuts: Du hast angerufen, du warst nett zu mir, du wolltest mich sehen. Ich habe den Verdacht, dass es um Geld geht, aber deine Abwesenheit hat mich so klein und schwach gemacht, dass es mir mittlerweile gleich ist. Ich habe genug, und ich gebe dir, was du brauchst. Machen es alte Männer mit ihren jungen Freundinnen nicht genauso? Ist es nicht ein Zeichen von Selbstbewusstsein, sich das zu nehmen, was man wirklich haben möchte, egal, was es kostet?

Meine Liebe braucht keine Gegenliebe. Keine Lügen mehr. Sie hat ein einziges Ziel, und das bist du. Dein Herz und dein schöner Körper gehören mir, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Sollte der Weg zu deiner Seele ein Umweg über meine Finanzmittel sein, ist mir das recht. Ich habe keine Angst, alles zu geben, was ich habe. Ich spüre diese euphorische Großzügigkeit in mir: Wir sind uns endlich wieder nahe. In diesem Überschwang kaufe ich auf einer Tankstelle einem kleinen Mädchen, das hinter mir in der Schlange steht, eine Tafel Schokolade. Ihre Mutter macht ein erschrockenes Gesicht, aber sie traut sich nicht, mein Geschenk abzulehnen. Schließlich bedankt sie sich zurückhaltend und nimmt die Tafel an sich. Sie dreht sie hin und her, als suchte sie nach einer versteckten Botschaft, dann bricht sie ihrer Tochter einen Riegel ab. Ich will ihr sagen, dass das nicht der Zweck der Gabe war: ein Riegel pro Tag für das Kind. Ich will ihr sagen, dass sie dem Mädchen wenigstens ein einziges Mal den Überfluss einer ganzen Tafel gönnen soll. Aber ihre kleinliche Geste macht mich so traurig, dass ich die beiden einfach stehen lasse. Das Kind lächelt mich nicht an, als hätte es gar nicht verstanden, was vor sich ging.

Es ist seltsam, wie Menschen auf Glück reagieren: misstrauisch, als würde jemand versuchen, sie übers Ohr zu hauen.

Wir haben uns endlich wiedergesehen, und es war so wie anfangs. Du hast gestrahlt und mich umarmt. 2.000 habe ich dir gegeben, das ist auch für mich nicht wenig Geld, aber tut es mir weh? Nicht wirklich! Und dich macht es glücklich, auch wenn du dir alle Fragen nach dem Zweck verbittest. Ich bemühe mich, dir zu vertrauen. Verstehst du nicht, dass mir das Geld nichts bedeutet? Wenn du es mir nie zurückzahlen kannst - was soll's! Ich möchte nur, dass es dir gut geht.

Und doch spüre ich während unseres Treffens, wie ganz langsam die Depression wieder überhand nimmt. Ich darf nicht in deine Wohnung, weil du, wie du sagst, heute nicht putzen konntest. Du sagst, es sieht aus bei dir wie im Schweinestall, aber du hattest genug Zeit, das zu ändern. Ich versuche, mir davon nicht die Stimmung verderben zu lassen. Ich denke, wir hatten eine Krise und müssen nun wieder anfangen, uns allmählich neu kennen zu lernen. Ich will ja auch nichts überstürzen.

Wir gehen etwas essen, du sagst, du stirbst vor Hunger. Früher warst du nicht so, du warst hungrig auf mich, nicht auf irgendwelche Mahlzeiten. Jetzt stirbst du angeblich vor Appetit. Wir gehen also in dasselbe Lokal, in dem du mich früher unter dem Tisch angefasst hast. Ich weiß noch, wie mich das gestört hatte, ich hasste es regelrecht. Jetzt denke ich, wie unglaublich dumm ich damals war. Wie konnte ich mich nicht über deine unstillbare Begierde freuen? Jetzt wäre ich dankbar für die kleinste Berührung. Ich schiebe meine Hand zu dir herüber, weil ich diese freundliche Kälte nicht mehr aushalte. Du nimmst sie, drückst einen Kuss darauf, einen Moment lang flackert Hoffnung in mir auf, dann legst du sie wie einen Gegenstand wieder ab.

Ich darf mich davon nicht beirren lassen. Ich muss meine Qualitäten als Verführerin wieder üben. Ich weiß, da war ein anderes Mädchen, ich habe dich mit ihr gesehen, aber sie spielt sicher keine Rolle in deinem Leben, sonst hättest du nicht mich, sondern sie angerufen. Ich habe sie gehasst, ich habe sie verfolgt, aber ich habe mir gerade noch rechtzeitig klar gemacht: Ich bin die Starke, die Konstante in deinem unsteten Alltag. Meine Rolle kann von keiner Jüngeren eingenommen werden. Ich bin unersetzbar.

Was ist los mit dir?, fragst du. Du bist heute so nervös und so ernst.

Kann es sein, dass dir nicht klar ist, welchen inneren Aufruhr du in mir beschwörst? Du behandelst mich, als hättest du alles vergessen, was je zwischen uns war! Als sei ich deine ... Tante! Wir haben uns stöhnend aneinander gerieben, wir konnten nicht genug voneinander bekommen, du hast meinetwegen gelacht und geweint, daran musst du dich doch erinnern! Doch es ist so, als wäre all das nie passiert, als hätte ich mir alles nur eingebildet.

Das ist das Schlimmste. Dass du unsere tiefen Gefühle leugnest, wenn nicht mit Worten, so mit Taten. Du sagst nicht: Ich habe dich geliebt, du warst mein Leben, aber jetzt ist es vorbei, ich weiß auch nicht warum, aber es ist so. Damit könnte ich vielleicht zurechtkommen - eines Tages. Du siehst mich stattdessen verständnislos an, als hättest du unsere Leidenschaft aus deinem Gedächtnis eliminiert. Du degradierst unsere Liebe zu einem banalen Irrtum, nein, viel infamer: Du tust so, als hätte sie nicht existiert.

Das ist es, was ich dir nicht verzeihen kann. Ich habe es versucht, ich habe mit mir gekämpft, aber ich kann es nicht. Meine Wut - und ich sehe sie mittlerweile als kerngesunde Wut - hat wieder die Oberhand gewonnen. Sag mir eins, Milan, du gut aussehender Versager mit deinen lächerlich vergeblichen Träumen vom großen Geld und deinen albernen Deals, die dich deinen Zielen nie auch nur einen Schritt näher brachten: Hältst du mich wirklich für so eine Idiotin? Glaubst du im Ernst, ich lasse mir das bieten? Wen, glaubst du, hast du vor dir? Eine Kuh, die du melken und auf die Weide schicken kannst, wann es dir passt?

Du irrst dich, Geliebter. Du hast Dämonen in mir geweckt, die du jetzt nicht wieder wegdiskutieren kannst. Tja, mein Schatz, das ist leider deine Schuld. Du hast mit Gefühlen gespielt. Du hast dir gedacht, du brauchst nur deinen ganzen Charme einzusetzen, um den Geist wieder in die Flasche zurückzubefördern (ich kenne dich gut, stimmt's?). Aber du hast nicht mit meiner Kraft, meinem Scharfsinn und meinem Zorn gerechnet. Ich werde um uns kämpfen. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich mich nicht unterbuttern lassen. Ich werde nicht länger die Brave, Freundliche, Verständnisvolle spielen, damit wieder andere ernten, was ich gesät habe.

Diesmal nicht.

Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Zunächst werde ich dir eine letzte Chance geben. Du bekommst das Geld. Gibt es nicht in absehbarer Zeit eine freiwillige Gegenleistung - du weißt schon welche, nicht wahr? -, dann wirst du bereuen, mich jemals getroffen zu haben.

Das schwöre ich dir und mir.

Satan begleitet Maria nun überall hin. Seine Intelligenz und sein Wissen sind umfassend. Satan blendet nichts aus, auch nicht die dunklen Seiten der Welt - gerade ihnen gilt sein besonderes Augenmerk. Er legt den Finger auf die Wunden einer verlogenen Gesellschaft. Er öffnet Maria die Augen, und plötzlich nimmt sie die hässlichen Fratzen hinter gefälligen Masken in aller Deutlichkeit wahr. Kai bestärkt sie darin, genau hinzusehen, sich nichts vormachen zu lassen. Gemeinsam kommunizieren sie mit Satan in Leilas Haus, dringen immer tiefer in seine Mysterien ein, holen sich Rat für ihre nächsten Aufgaben.

Denn Satan lässt es nicht zu, dass sich der Kontakt zu ihm auf ein paar schaurig-schöne Gruselsessions beschränkt. Er fordert Beweise für echtes menschliches Interesse. Er will Opfer. Als Erstes fordert er Marias Haar. Sie liebt ihr dickes Haar; Satan will, dass sie es kurz schneidet. Er bezeichnet das als symbolischen Akt, mit dem sie ihre Erdenschwere ablegen kann. Maria braucht einen Tag, bis sie sich dazu durchringt, aber dann tut sie es. Sie stellt sich vor den Badezimmerspiegel und schneidet eine lange, dicke Strähne nach der anderen ab und lässt sie achtlos fallen. Zum Schluss ringeln sie sich wie Schlangen auf dem Boden, auf dem Badewannenrand, im Waschbecken. Maria packt sie und stopft sie in den Abfalleimer. Dann erst traut sie sich, in den Spiegel zu schauen. Sie fühlt sich nicht entlastet, sondern eher schwach ohne den Schutz ihrer Mähne, aber Satan wird wissen, was gut für sie ist, auch wenn ihre Eltern entsetzte Gesichter machen und sie zum Friseur schicken wollen.

Maria geht nicht zum Friseur. Sie hat alle Trümpfe in der Hand, ihre Eltern können nichts mehr unternehmen, um sie aufzuhalten. Satan hat dafür gesorgt, dass sie ihre Hausaufgaben mittlerweile in Rekordgeschwindigkeit erledigt. Er klärt ihren Geist, befreit ihn von Hoffnungen und Begierden und befähigt sie zu Höchstleistungen: Sie wird am Ende dieses Schuljahrs das beste Zeugnis ihrer gesamten Schullaufbahn nach Hause bringen.

Maria sieht alles, hört alles. Das unterdrückte Weinen ihrer Mutter nach gewissen Telefonaten zum Beispiel. Sie erkennt: Satan hatte Recht, ihre Mutter lebt eine Lüge. Auf Anweisung Satans schwänzt sie einen Vormittag die Schule und versteckt sich zusammen mit Kai in der Nähe ihres Hauses in Kais Auto. Punkt halb elf sieht sie ihre Mutter aus dem Haus kommen und in ihren Kleinwagen steigen. Kai und Maria verfolgen sie unbemerkt bis zu einem mehrstöckigen Betonklotz in einer der schlechteren Gegenden der Stadt. Ihre Mutter verschwindet darin, und sie warten eine halbe Stunde auf der anderen Straßenseite, bis sie sie wieder auftauchen sehen - neben einem dunkelhaarigen, gut aussehenden Jungen, der höchstens wie Mitte zwanzig aussieht.

Satan wusste all das. Woher? Eine Frage, die sich Maria nicht mehr stellt. Satan hat schon mehrfach bewiesen, dass er Mauern, Entfernungen und Gedanken mühelos überwinden und durchdringen kann. Ihre Mutter geht neben dem Jungen her, sie unterhalten sich lebhaft gestikulierend - es sieht beinahe nach einem Streit aus - und verschwinden in einem Fußgängerdurchgang, der mit dem Auto nicht passierbar ist. Ihre Mutter wirkt bedrückt. Maria wird Satan fragen, warum.

Erwachsene haben es verlernt, nach der Wahrheit zu leben, sagt Kai neben ihr. Maria sieht sie an. Sie ist wunderschön, wie immer. Ihre blasse Haut, die sie absichtlich nie der Sonne aussetzt, ist makellos, ihre blauen Augen scheinen mühelos in Maria hineinzusehen, in die Tiefen ihrer eigenen Verletzlichkeit. Kai ist ein Wesen von einem anderen Stern, so wie sie. Sie beide sind erwählt, Außerordentliches zu vollbringen, das weiß sie jetzt. Zunächst geht es um den Bekannten ihrer Mutter.

Bekannter, sagt Kai. Ihr perfekter Mund kräuselt sich zu einem ironischen Lächeln.

Was meinst du?, fragt Maria.

Die Wahrheit. Es geht darum, dass du sie siehst und benennst. Schon vergessen?

Maria senkt den Kopf. Sie will nicht wissen, was jetzt kommt, aber ihr ist klar, dass sie dem nicht ausweichen kann. Ihre Mutter hat keinen Bekannten, sie hat einen ... Geliebten. Sie ist ihrem Mann, Marias Vater, nicht treu.

Vielleicht war sie es nie, sagt Kai, als hätte sie - wieder einmal - ihre Gedanken gelesen (sie kann das, sie ist so viel weiter als Maria auf dem Weg zur allumfassenden Erkenntnis).

Nie?

Das Bild ihrer Mutter verzerrt sich in Sekundenschnelle, und das Ergebnis ist das Bild einer Frau, von der sie nichts, gar nichts weiß. Es ist der Schock, den viele in ihrem Alter aushalten müssen, seit so viele Ehen und Beziehungen nur noch auf Zeit geschlossen werden. Aber Maria weiß das nicht. In diesem Moment glaubt sie, sie sei die Einzige, deren Welt in Trümmer gelegt wurde, und das mit einer fatalen Unwiderruflichkeit.

Ihre Mutter ist nicht mehr ihre Mutter. Sie ist eine Fremde.

Nun ist es sicher. Sie hat keine Mutter mehr.

Maria senkt den Kopf und beginnt leise zu schluchzen, obwohl sie kaum Luft bekommt. Ein eiserner Ring scheint ihre Lungen zusammenzupressen. Kai legt ihr die Hand auf den Rücken, aber die entsetzliche Spannung will sich nicht lösen. Maria beginnt zu keuchen, ihre Tränen versiegen. Ich kann nicht mehr atmen.

Das ist der Schock. Das ist normal.

Ich will wieder atmen! Mach, dass es weggeht!

Du musst es ganz durchleben! Kämpfe nicht dagegen an!

Ich kann nicht! Ich sterbe!

Du kannst es. Ich bin bei dir.

Kais ruhige Stimme löst allmählich die Verkrampfung, der Ring lockert sich und verschwindet schließlich, um einer großen Traurigkeit Platz zu machen. Sie hat keine Familie mehr. Sie ist ganz allein.

Lass dir das nicht gefallen. Eine Stimme, sie ist so leise, dass Maria sie nicht orten kann. Vielleicht war es Kai, vielleicht nicht.

Was willst du tun?, fragt Kai in normaler Lautstärke.

Maria zuckt die Schultern. Im geschlossenen Auto wird es langsam heiß und stickig. Sie will nach Hause, in den kühlen, schattigen Garten ihrer Eltern. Aber sie hat ja kein Zuhause mehr.

Kai wiederholt ihre Frage mit einer gewissen Dringlichkeit in der Stimme. Was willst du tun?

Maria zuckt die Schultern. Sie weiß nicht, was sie darauf antworten soll. Vielleicht weiß es Satan.

Du musst ihn treffen, sagt Kai. Den Geliebten deiner Mutter. Du musst ihn treffen.

Warum?

Er zerstört eure Familie. Du musst ihn treffen. Du musst wissen, wie er ist. Die erste Stufe heißt Erkenntnis, vergiss das nicht.

Aber was soll mir das nützen?

Kai lächelt geheimnisvoll.Überlass das Satan. Er hat eine Strategie.

Welche?

Weiß ich doch nicht. Kenne ich all seine Wege? Er wird sie dir mitteilen. Aber zuerst musst du ihn kennen lernen.

Wen?

Den Mann, mit dem deine Mutter...

Maria hält sich die Ohren zu. Sie kann das jetzt nicht hören. Ich will ihn nicht sehen. Was soll ich ihm sagen?

Satan wird dir das Rüstzeug zukommen lassen.

Wozu?

Es geht um Rache, Maria, hast du das immer noch nicht verstanden? Rache ist das erlösende Gewitter, das die Luft reinigt und uns alle zu einem neuen Anfang führt.

Satan sprach zu Leila und befahl ihr, den Pakt zu vollenden. Satan hatte kein Gesicht, aber Leila konnte ihn dennoch sehen. Er war im Zentrum eines Feuers, der einzige Bewohner lebloser, hoffnungsloser Finsternis.

GEH, sagte Satan. Um jedes seiner gemeißelten Worte züngelten Flammen. GEH UND KOMM ZU MIR. BEEIL DICH.

Leila öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Es gab keine Möglichkeit, Licht zu machen. Über ihr schnarchte eine übergewichtige Frau namens Vera. Vera drehte sich schnaufend um, und das Stockbett über Leila knackte lautstark wie schon so oft in dieser Nacht. Vera hatte versucht, einen Bankraub zu begehen, weil sie so hohe Schulden hatte und so wenig besaß, dass der Gerichtsvollzieher schon mehrfach unverrichteter Dinge wieder abziehen musste. Geld haben oder sterben, hatte sich Vera eines Tages gesagt und sich eine dieser Politiker-Karnevalsmasken gekauft. Diese Maske - es war das Gesicht Gerhard Schröders gewesen - und ihre Leibesfülle hatten sie verraten. Der Verkäufer der Maske hatte sie auf dem Überwachungsvideo der Bank wiedererkannt. 20000 hatte Vera erbeutet und musste sie wieder abgeben.

Leila setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und sah nach oben zu dem schimmernden Viereck des Fensters. Man konnte hier nur ein Stück des Himmels sehen, sonst nichts. Leila versuchte, gleichmäßig zu atmen, ein und aus, ein und aus. Hier war so wenig Platz, so furchtbar wenig Platz. Zwölf Quadratmeter hatte ihr eine Wärterin gesagt. Drei mal vier Meter. Noch nie hatte sie ein so kleines, enges Zimmer gehabt. Leila ahnte die nahen Wände, sie schienen auf sie zuzukommen, sie zu erdrücken.

Ein- und ausatmen.

Man konnte nirgendwohin. NIRGENDWOHIN.

Ein. Und aus.

»Frau Leitner?«

»Ja? Wer ist da?«

»KHK Mona Seiler. Wir waren für heute verabredet.«

»Ja. Aber doch erst um elf!«

»Ich bin gerade bei Ihnen in der Nähe. Kann ich schnell hochkommen? Dann müssen Sie auch nicht extra ins Dezernat.«

»Ja - warum nicht? Kommen Sie hoch.«

Mona beendete das Gespräch und parkte ihren Wagen. Sie war nervös. Sie wusste, sie war ganz nah dran. An einer Lösung, wie immer sie auch aussah. Zum zweiten Mal stieg sie die Treppe zur Wohnung Theresa Leitners hoch. Zum zweiten Mal stand sie vor ihrer Tür. Die Kinderzeichnung mit dem Regenbogen hing nicht mehr daran. Sonst sah alles aus wie immer: ein wenig heruntergekommen, aber auf eine nicht uncharmante Weise.

Sie klingelte, und Theresa Leitner öffnete kaum eine Sekunde später.

Wieder hörte sie Satans Stimme. Satan hatte sich ganz allmählich, Schritt für Schritt, in ihr Leben geschlichen und ließ sich nicht wieder vertreiben. Er hatte ihr übermenschliche Kräfte verliehen und kam nun, auch ohne dass sie Ihn rief. Sie hätte niemals ... mit Ihm spielen dürfen. Man spielte nicht mit einer Macht wie Ihm. Man behandelte sie respektvoll und hielt sich ansonsten fern.

Hätte ich Ihn nur nie gerufen.

Wie gern wäre sie ihre Sehergabe wieder los, die sie sich damals so gewünscht hatte!

Zu spät. Sie spürte, wie Er vor den Pforten ihrer Gedanken stand. Klopf, klopf.

Nein!

Bleib draußen, verdammt! Lass mich in Ruhe, du...

Satan ließ sich nicht verfluchen, er war die Essenz aller bösen Wünsche!

Und nun war Er in ihr drin. Sie hatte den Kampf verloren. Sie dachte an Kai, bevor ihre Bewegungen mechanisch wurden und sie nur noch fremdbestimmt dachte und handelte.

Kai!

Aber Kai war weit weg in diesem Moment, sie konnte sie nicht einmal gedanklich aufspüren. Sie war auf sich allein gestellt. Satan infiltrierte ihren Kopf so lange, bis es sie nicht mehr gab, sondern nur noch Leila, Seine Marionette.

»Bertold Grimm.«

»Ja?«

»Wie gut kennen Sie ihn?«

Theresa Leitner sah sie überrascht an. Mona kam es vor, als hätte sie ein paar Kilo abgenommen. Überhaupt wirkte sie gesünder, besser aussehend, weniger deprimiert als bei der ersten Vernehmung.

»Er ist sozusagen mein Chef. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis.«

»Ist das alles?«

»Wie meinen Sie das? Was soll da noch sein?«

»Wussten Sie zum Beispiel, dass er sich sehr gut mit Karin Belolavek verstanden hat?«

»Ach so, das.« Theresa Leitner zuckte die Schultern und nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Ja, das stimmt. Er mochte sie sehr gern.«

»Warum haben Sie mir das nicht erzählt?«

»Sie haben nicht gefragt. Ich dachte, das ist nicht so wichtig.«

»Hatten sie was ... miteinander? Sie wissen schon, eine Affäre, etwas in der Art?«

»Karin und er? Nein! Also - nicht, dass ich wüsste.«

»Aber das Gegenteil könnten Sie auch nicht gerade beschwören.«

»Nein, aber... Was wollen Sie ihm denn anhängen? Das ist ein ganz honoriger Mann, und wenn da etwas war, ist das seine und Karins Sache. Ich weiß davon nichts.«

»Karin hat Ihnen von ihrem jungen Liebhaber erzählt, aber nichts von Bertold Grimm.«

Verdammt, dachte Mona. Sie war irgendwie auf das falsche Gleis geraten. Theresa Leitner sah sie an wie jemand, der überhaupt nichts mehr verstand. Plötzlich fiel Mona keine Frage mehr ein. Und das war meistens ein Zeichen dafür, dass sie in einer Sackgasse gelandet war.

»Gibt es noch irgendwas - zu diesem Fall meine ich -, was Sie mir sagen wollen?« Geordneten Rückzug einleiten. Theresa Leitner wusste nichts. Jedenfalls nichts zum Thema Bertold Grimm.

»Eigentlich nicht. Ich glaube wirklich, ich habe Ihnen alles erzählt, als Sie das letzte Mal bei mir waren.«

Als Mona an der Tür stand, fiel ihr doch noch etwas ein.

»Hat Ihnen Karin einmal erzählt, wie sie Milan Farkas kennen gelernt hat? Dass es auf dieser Lesung im Gefängnis war?«

Theresa Leitner überlegte. Sie strengte sich richtig an. Dann sagte sie: »Ich glaube nicht. Wir haben ein einziges Mal darüber gesprochen, weil sie eben so verzweifelt war, und da hat sie mir nicht einmal den Namen gesagt. Vielleicht hätte sie es getan, wenn ich an dieser Veranstaltung teilgenommen hätte. Aber es war nicht so.«

Paula zog ihren Gürtel aus den Schlaufen ihrer weiten Hose. Sie hatten ihr den Gürtel nicht abgenommen, dabei war das, wie sie aus dem Fernsehen wusste, doch eigentlich Vorschrift. In ihrem Kopf rauschte es. Sie tat etwas und wusste doch gleichzeitig, dass sie es nicht tun wollte. Sie wollte leben, nicht sterben. Aber gleichzeitig sehnte sie sich so sehr nach Ruhe. Keine Befehle mehr in ihrem Kopf. Einfach nur schlafen. Ewig schlafen.

Jeder Preis war ihr dafür recht.

»Mona?«

»Wer ist da?«

»Hans. Fischer. Wo bist du?«

»Im Auto, wieso?«

»Paula-Leila hat versucht, sich umzubringen. Heute Nacht. Sie haben gerade angerufen.«

»Die Svatek? Wo? Im Knast?«

»Ja. Sie liegt jetzt auf der Krankenstation. Ansprechbar, sagt der Arzt.«

»Wieso sagen die uns jetzt erst Bescheid?«

»Keine Ahnung. Willst du selber hinfahren?«

»Ja. Konferenz verschiebt sich auf... vier. Sagst du's den anderen?«

»Okay. Soll ich mitkommen?«

»Nein. Ich mach das schon. Ich ruf dich an, sobald ich mit der Svatek fertig bin.«

»Was soll das? Ich kann wirklich gerne mitkommen.«

Mona holte tief Luft. »Ich will sie allein sehen, verstehst du?«

Fischer legte auf. Bestimmt stocksauer.