Kapitel 9
Bauer glaubte zu schwimmen. Er befand sich unter Wasser und versuchte, sich fortzubewegen. Aber seine Arme und Beine waren dick und schwer wie Blei. Er kam nicht voran, die Strömung trieb ihn immer wieder zurück.
Zu ihr.
Er holte tief Luft, aber seine Lungen gehorchten ihm nicht. Salzig schmeckendes Wasser floss in seinen Rachen. Er schloss den Mund und versuchte, durch die Nase zu atmen. Er wusste instinktiv, dass er kämpfen musste. Sein Vater tauchte vor ihm auf, mit strenger Miene.
Glaub ja nicht, dass unsereinem was geschenkt wird, Junge. Uns nicht. Nie.
Seine Mutter stand in der Küche und schmierte ihm eine Semmel, damit er sich in der Pause nichts am Schulkiosk kaufen musste. (Alle Kinder bekamen Geld für den Kiosk und konnten dann den anderen von ihren Chips und Schokoriegeln abgeben, er bekam nur eine belegte Semmel, die niemand haben wollte, und die er meistens zur Hälfte aß, obwohl er viel lieber etwas anderes gehabt hätte.)
Hast du was, dann bist du was, sagte die Mutter, umsonst gibt's nur den Tod.
Er versuchte erneut, Luft zu holen. Er bewegte seine Glieder durch das sirupartig dicke Wasser, das vor seinen Augen milchig wurde, bis er nichts mehr sehen konnte außer Schlieren. Er musste sterben. Er wusste jetzt mit Sicherheit, dass er sterben musste. Die Frau in der schwarzen, regennassen Pelerine hob ihre Hand und stieß zu. Sie war schnell, viel schneller als er. Sie stieß zu, das Messer blinkte in ihrer Hand. Einmal, mehrmals. Er spürte keinen Schmerz, nur diese entsetzliche Schwäche, die ihn wehrlos zu Boden gehen ließ. Dunkelheit umhüllte ihn auf ewig. Alles war vorbei.
Seine Augen. Er spürte sie. Sie waren geschlossen. In einer letzten Kraftanstrengung öffnete er sie, ohne etwas zu erwarten.
Das Erste, was er sah, war weiß. Es bewegte sich. Langsam schärfte sich sein Blick. Eine Frau. Der weiß bekleidete Busen einer Frau. Sie machte sich über ihm an etwas zu schaffen. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, nur Bauch und Busen unter einem weißen Kleid. Er wollte etwas sagen, aber es kam nur ein unartikulierter Laut aus seinem Mund. Die weiße Frau hielt inne. Sie beugte sich zu ihm herunter und sah ihn prüfend an. Aus der Nähe sah Bauer die feinen Fältchen um ihren vollen, geschminkten Mund. Ihre Haut war rötlich und grobporig. Kein Make-up, registrierte er. Die grüngrauen Augen wirkten riesig, die Wimpern waren mit schwarzer Tusche verklebt.
»Wach geworden?«
Bauer zuckte zusammen. Ihre Stimme war rau wie die einer Kettenraucherin (seine Mutter war Kettenraucherin, er kannte sich aus). Sie entfernte ihr Gesicht von seinem und stellte sich auf, mit den Armen in die Seite gestemmt.
»Wach?«, fragte sie noch einmal. Aus der Entfernung sah sie jünger aus und beinahe hübsch.
»Ja«, sagte Bauer. Er hatte geträumt, tot zu sein. Das war normal nach dieser traumatischen Erfahrung, hatte ihm eine Ärztin am Abend zuvor gesagt - der Abend, an dem er zum ersten Mal seit vier Tagen sein Bewusstsein wiedererlangt hatte. Die Ärztin hatte wissen wollen, ob er im Koma etwas geträumt, etwas gesehen hatte, aber diese Frage hatte er nicht beantworten können. Seine Erinnerung war von umfassender Schwärze, so als sei er vier Tage lang tot gewesen. Das große Nichts, hatte er zur Ärztin gesagt, und die hatte vor sich hin genickt und ihn dann darauf vorbereitet, dass er einige Albträume haben würde.
»Ich bin Schwester Viola«, sagte die Frau vor seinem Bett. Sie rollte ganz leicht das R. »Besuch ist für Sie da. Er wartet draußen.«
»Besuch?«
»Ihre Chefin und ein Kollege. Sie warten seit...« sie sah auf die Uhr »... einer halben Stunde ungefähr. Wir haben sie nicht hereingelassen, weil Sie geschlafen haben.«
»Wie spät ist es?«, fragte Bauer.
»Drei Uhr zehn genau. Haben Sie Schmerzen?«
Bauer sah an sich herunter und betastete sich unter dem Schlafanzug. Es war sein eigener. Jemand musste in seiner Wohnung gewesen sein und ihn gebracht haben. »Sind meine Eltern hier?«
»Ihre Mutter war oft hier, auch vorhin, während Sie geschlafen haben. Jetzt ist sie etwas einkaufen. Aber sie kommt wieder.« Die Schwester lächelte.
»Was ist passiert? Mit mir? Die Verbände - all das...«
»Das hat Ihnen doch gestern Frau Doktor Mewis erklärt. Messerstiche. Eine ganze Reihe. Sie hatten sehr viel Glück.«
Im selben Moment spürte er das Brennen - überall in und an seinem Körper. »Es tut weh«, sagte er schwach.
»Das ist normal.« Sie holte eine Spritze aus der Tasche ihres Kittels, entfernte die Schutzumhüllung von der Nadel und stach mit der Kanüle in das transparente Gefäß, das an einer Art Galgen neben seinem Bett hing. Er hob die rechte Hand und betrachtete sie verblüfft: Ein Schlauch, dessen Ende unsichtbar mit Pflasterstreifen auf seinem Handrücken fixiert war, verband ihn mit diesem Gefäß. Er hing am Tropf. Bisher hatte er das nur im Fernsehen gesehen. Was war da drin? Was pumpten sie ihm in die Adern?
»Ich habe Ihnen ein Schmerzmittel in den Tropf gegeben. Es wird ihnen gleich besser gehen.«
»Ich möchte mich waschen«, sagte Bauer.
»Na gut. Ich bringe Ihnen eine Schüssel.«
»Ohne... ohne Sie. Allein. Ich will duschen.«
Die Schwester lachte. »Immer mit der Ruhe. So weit sind wir noch lange nicht.«
Sie sprachen leise, weil hier ständig etwas los war. Ärzte und Schwestern liefen an ihnen vorbei, Rekonvaleszenten schlurften über den Gang, in einer Ecke standen mehrere blasse Patienten in Bademänteln und rauchten.
»Wir könnten viel weiter sein. Wenn du nicht alles allein machen würdest.«
»Was denn? Was hättet ihr denn machen können?«
»Ich hätte mit Patrick reden können. Heute früh schon. Stattdessen...«
»Patrick ist gerade erst aufgewacht, das weißt du genau.«
»Heute Morgen wäre er wach gewesen. Hat der Arzt gesagt. Ich hab dich ja auch gleich angerufen und dir Bescheid gegeben. Aber du wolltest ja erst noch die Hexe verhören, und allein wolltest du mich auch nicht zu Patrick fahren lassen. Du musstest ja unbedingt selbst dabei sein.«
»Hans...«
»Das ist so was von scheißunprofessionell. Dann die Leitner. Du fährst einfach zu ihr, dabei hatten wir sie vorgeladen. Wieso tust du das?«
»Also...«
»Ich versteh einfach nicht, was mit dir los ist, ganz ehrlich. Ich finde diese Art zu arbeiten zum Kotzen.«
»Hör jetzt auf.«
»Erklär's mir.«
»Ich muss dir nichts erklären! Ich nicht! Du kannst mir erklären, was dir einfällt, mich so anzufahren!«
»Einer muss dir das mal sagen. Du kannst nicht immer alles allein entscheiden, allein machen.«
»Ach? Und wie war das mit der Vernehmung von dieser Caro Stein? Dieser Schriftstellerin? Da hattest du mal Gelegenheit zu zeigen, was du draufhast.«
»Was soll das?«
»Die Vernehmung war ... schlecht, Hans. Du hast überhaupt nicht nachgehakt, du hast ihr durchgehen lassen, dass die sich an nichts erinnert. Ich - ich - musste sie wieder vorladen, weil du versagt hast.«
»Sei nicht so laut! Willst du, dass hier jeder Depp zuhört?« Aber Fischer klang nicht mehr ganz so selbstsicher.
»Dein Handy klingelt.«
»Ich will, dass wir endlich...«
»Dein Handy klingelt.«
Fischer schwieg und kramte in seiner Hosentasche. Das Handy spielte eine Melodie, die nach einem alten Song aus den Siebzigern klang. Mona kam nicht drauf, welcher es war, nur dass sie ihn damals als Teenager gern gehört hatte. Sie grübelte über den Titel des Songs nach.
»Ja!«, bellte Fischer in den Hörer. Sofort blieb eine Schwester stehen und erklärte Mona mit leiser Stimme, dass Mobiltelefone in dieser Klinik verboten seien.
»Mordkommission 1«, sagte Mona zur Schwester und zeigte ihre Marke extra nicht. Sie war in der Stimmung für eine kleine Auseinandersetzung. »Wir dürfen das.«
Die Schwester verlangte keine Legitimation und verzog sich mürrisch.
»Was?! Ja, sicher. Ja, das auch. Okay. Ich sag's ihr. Sie meldet sich dann.« Fischer drückte auf den Aus-Knopf.
»Was?«, fragte Mona.
»Hm?«
»Du sollst mir was ausrichten. Was war das?«
»Kai Lemberger. Du wolltest wissen, wer sie ist.«
»Ja. Und?!«
»Forster sagt, sie ist bei ihrem Vater gemeldet. Lars Lemberger, Diplomingenieur. Wohnt nicht weit von den Belolaveks entfernt.«
»Haben sie den Vater erreicht?«
»Anrufbeantworter.«
»Wo arbeitet er?«
»Wissen sie noch nicht.«
Mona nahm ihr Handy. »Hoffentlich ist er nicht in Urlaub. Sie sollen jemanden vor seinem Haus postieren.«
Fischer sagte nichts dazu. Er wandte sich ab und starrte aus dem Gangfenster in ein auf tropisches Idyll hergerichtetes Karree aus Gummibäumen und anderen Grünpflanzen.
»Kann ich mal mit Karl sprechen? Karl Forster? Karl? Sei so gut und veranlasse, dass jemand von der Schupo sich vor dem Haus von dem Lemberger hinstellt. Sobald er da ist, soll er ihn mitnehmen. Wir brauchen ihn als Zeugen. Geht ein Mädchen in das Haus, das auch gleich mitnehmen! Okay?«
Eine Schwester kam aus Bauers Zimmer. »Sie können jetzt rein«, sagte sie zu Fischer und lächelte ihn an. Es gab Leute, die Fischer mochten. Unerklärlicherweise. Er sah gut aus, dachte Mona, das war sein großes Plus. Gut aussehende Männer fanden immer Frauen, die über ihre miserablen Manieren hinwegsahen. So ungerecht war die Welt.
Sie gingen auf die Tür zu.
»Ich rede«, sagte Mona, die Klinke in der Hand. »Du machst ihm nur Angst, und dann fällt ihm nichts ein.«
»So ein...«
»Halt den Mund, Hans! Ich hab genau gesehen, wie ihr Bauer behandelt habt.«
»Wir haben einen harten Job. Jeder muss da durch.«
»Und diesen Blödsinn glaubst du auch noch. Ein falsches Wort, ein gemeiner Blick, und ich schick dich raus. Verstanden?«
Ich lag auf dem Boden und hörte die vielen Stimmen, das besorgte Gewirr unterschiedlicher Meinungen. Deine war nicht darunter. Ich ließ die Augen geschlossen, weil das für den Moment die bequemste Möglichkeit war, einer Situation zu entkommen, in der ich eine schlechte Figur gemacht hatte.
Schließlich hörte ich jemanden sagen Ich glaube, wir sollten einen Arzt holen. Sofort ließ der Schwindel nach: Ich wollte nicht auf eine Gefängniskrankenstation, auf keinen Fall! Vor allem wollte ich nicht weg aus deiner Nähe. Ich öffnete die Augen und sah direkt in dein Gesicht. War ich blass? Sah ich krank aus? In deiner Miene konnte ich nichts lesen. Du sahst nicht mitleidig aus, aber auch nicht angewidert. Es war alles möglich. Noch, dachte ich, war alles drin.
Ich lächelte. Ich sagte: Milan, aber du hörtest nicht. Die blonde Veranstalterin kniete neben mir und streichelte meine Wangen. Sie schob mir etwas Weiches, vielleicht ein zusammengerolltes Handtuch, unter den Nacken. Danke, sagte ich schwach. Wäre sie in Ohnmacht gefallen, hätte das sicher besser ausgesehen. Ich bin kein Typ, der durch Schwäche Wirkung erzielt, aber sie gehört bestimmt dazu. Gut also, dass es mir passiert war und nicht ihr.
Ich stand langsam und schwerfällig auf und bat um einen Spiegel. Die Veranstalterin wirkte etwas überrascht, aber sie kramte sofort in ihrer Handtasche und gab mir ihren Schminkspiegel. Ich betrachtete mich zum zweiten Mal an diesem Abend in dem kleinen Viereck: Ich sah verwirrt aus, aber nicht krank. Langsam löste sich das Grüppchen um mich herum wieder auf. Ich schaute in einem Reflex auf die Uhr: Der Vorfall hatte vielleicht anderthalb Minuten gedauert, länger nicht. Mir war er wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Du stelltest dich wieder hinter die Saftbar und gabst Getränke aus, als wäre nichts geschehen, jedenfalls nichts, was dich anging. Ich hätte es wissen müssen.
Ich war dir vollkommen egal. Einen Moment lang wurde mir schlecht vor Angst.
Das durfte nicht sein. Es gab niemanden mehr außer dir.
Ich musste mit allen Mitteln verhindern, dass ihr euer Gespräch fortsetztet. Ich ging zu der Bar. Ich sagte: Milan.
Ich hab zu tun, sagtest du und blicktest nicht einmal auf. Eine Sekunde lang hasste ich dich mit einer Gewalt, die mich selbst erschreckte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich dich in dieser Sekunde getötet, allein durch die Kraft meines Blicks. Meine Augen durchbohrten dich, aber ich kam nicht an dich heran.
Schließlich sagte ich leise: Ich wollte doch nur wissen, wie es dir geht.
Dieser Ton schien dir nahe zu gehen, du wurdest plötzlich freundlicher. Du gabst einem Mann einen Orangensaft und wandtest dich mir wieder zu. Ganz gut, sagtest du. Und was ist mit dir? Wie geht es deinem ... Mann?
Ich konnte dir nicht sagen, was wirklich los war, nicht in dieser kurzen Zeit. Du hättest dich bedrängt gefühlt und wärst dann erst recht davongelaufen. Ich sagte also nur, dass es mir gut ging.
Wie lange musst du ... hier bleiben?
U-Haft. Du machtest eine wegwerfende Bewegung, aber ich sah, dass du nicht so entspannt warst, wie du tatest. Ich hab nichts getan. Sie haben keine Beweise. Ich bin hier bald wieder draußen.
Wann ist deine Verhandlung?
Übermorgen.
Diese Information reichte mir. Übermorgen. Ich würde da sein - im Gericht. Ich würde dich sehen. Und wenn sie dich tatsächlich laufen ließen, dann würde ich auf dich warten. Du würdest mir kein zweites Mal entkommen. Ich würde da sein für dich, mit Geld, mit meinem Körper, meinem ganzen Leben. Ich würde dir zu Füßen legen, was ich hatte.
In diesem Moment trat die Blonde wieder neben mich. Ich sehe, dass es Ihnen besser geht, sagte sie herzlich. Darf ich mich vorstellen? Karin Belolavek.
Theresa Leitner, sagte ich heiser und schüttelte ihre Hand.
Sie sind zum ersten Mal bei einer unserer Lesungen?, fragte sie.
Ja, ich...
Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, schicke ich Ihnen einen Veranstaltungskatalog.
Karin, du hast alles für mich getan, du wolltest meine Freundin sein, aber zur gleichen Zeit hast du mir alles genommen, was ich hatte. Milan und meine Hoffnungen auf eine Zukunft, in der nicht alles leer und ohne Liebe war. Du warst meine Feindin, von Anfang an, aber das durfte ich dir nicht zeigen. Ich musste eure Liebe als Außenstehende beobachten, von Anfang an. Ich wusste, wie Milan dich erobern würde. Er hatte es bei mir genauso gemacht. Er tat es bei Frauen, von denen er sich etwas erwartete. Vielleicht war es Geld, vielleicht Prestige, vielleicht vermisste er unbewusst eine Mutter oder eine große Schwester. Er hatte keine Geschwister. In seiner Kindheit gab es niemanden, der ihn geliebt hatte. Er hatte mir einmal von weitem seine Mutter gezeigt, eine dicke, verbrauchte Frau mit einem sichtbaren Alkoholproblem. Wir Frauen geben Milan Halt, eine wie die andere. Wir sind die Ersatzspielerinnen in einem von vornherein verlorenen Match. Was immer wir tun, es ist zu spät für ihn.
Milan verließ seinen Platz hinter der Bar und kam zu uns. Ich wollte mir einbilden, dass es meinetwegen geschah, aber natürlich war das nicht der Fall. Es war wegen Karin, nur wegen ihr. Ich war nicht mehr schön, ich hatte viele Kilo zugenommen, die Einsamkeit hatte mich gefräßig gemacht und meinen Körper deformiert. Mein Gesicht war breit und teigig geworden. Wie ich mich ablehnte in diesem Moment. Milan, Karin und all die Umstände, die ungünstiger nicht sein konnten.
Ich musste handeln, und ich musste es klug anfangen.
Ich wurde Karins beste Freundin und Milans Vertraute. Ich spielte auf Zeit.
Ich hatte es nicht mehr eilig. Ich sah jeden Schritt voraus.
Ihr würdet das Tempo vorgeben, ich würde mich anpassen. Schritt für Schritt.
»Ich weiß nicht«, sagte Bauer. Er sah auf die Fotos von Karin Belolavek, die vor ihm auf der Bettdecke lagen. »Ich glaube, dass sie's nicht war.«
»Aber du bist dir nicht sicher.«
»Ich glaub nicht«, wiederholte Bauer hartnäckig. »Es war dunkel, sie hatte dieses Kapuzending an. Man konnte nicht viel sehen. Aber ich glaub...«
»Wenn nicht sie, wer dann?«
Bauer zuckte die mageren Schultern. Er sah schrecklich dünn und blass aus.
»Patrick. Es ist wahnsinnig wichtig, dass du dich jetzt erinnerst. Ich weiß, dir geht's nicht gut, aber...«
»Mir geht's gut. Das ist es nicht. Ich hab auch kein Blackout oder was in der Art. Ich kann mich an alles erinnern, aber - ich weiß noch, in dem Moment, als sie... also als sie mich...«
»Als sie dich angegriffen hat. Was war da?«
»Da hat's bei mir irgendwie geklingelt.«
»Du hast sie erkannt?«
»Irgendwie schon... Aber auch wieder nicht. Sie war jedenfalls relativ groß.«
»Karin Belolavek ist eins siebenundsechzig«, sagte Mona.
»Deswegen kann sie's eben nicht gewesen sein. Die Frau war größer. Eins fünfundsiebzig würde ich schätzen. Und vor allem dicker...«
»Dicker?«
»Ja. Ich... Ich glaube, ich kannte sie doch nicht... Ich...«
»Okay«, sagte Mona beruhigend. Bauer hatte sich in Rage geredet, sein blasses Gesicht war voller roter Flecken, sein eingefallener Brustkorb hob und senkte sich hektisch. »Das... äh... hat uns schon mal unheimlich weitergeholfen.«
»Es tut mir Leid.«
»Nichts muss dir Leid tun. Du hast... äh ... super Arbeit geleistet. Ich hätte dich nie allein losschicken sollen. Mir tut's Leid.«
Bauer sah sie verwirrt an.
»Ich habe dich in Gefahr gebracht. Du hast dich super gehalten. Mir tut's Leid.«
»Ja, also...«
»Also, die Frau war nicht Karin Belolavek. Da bist du dir sicher.«
»Eigentlich - ja. Sie sah nicht aus wie sie. Vielleicht hatte sie Absätze oder war irgendwie anders... geschminkt oder ich weiß nicht was. Aber sie sah nicht aus wie sie.«
»Gut. Dann wäre das geklärt. Kannst du uns jetzt erzählen, was genau an diesem Abend vorgefallen ist? Ob du Farkas beschatten konntest, wo du überall warst und so weiter. Geht das?«
»Ich weiß es nicht mehr, wo ich war.«
»Was?«
»Ich weiß nicht mehr genau. Wir waren zu Fuß unterwegs. Farkas und ich. Ab Hauptbahnhof. Wir sind durch Straßen in so einem Viertel gelaufen. Und irgendwann ist er in einem dieser Häuser verschwunden und kam nach einer halben Stunde oder so wieder raus.«
»Straßen. Die wie hießen? Eine einzige reicht schon, Patrick. Oder der Name des Viertels.«
Bauer fuhr sich mit der Hand durch sein gequältes Gesicht. Er sagte nichts.
»Du kannst dich nicht erinnern?« Herrgott. Warum wusste er ausgerechnet das nicht mehr?
»Nicht so richtig.«
»Eine Straße. Wo das Haus stand, in dem Farkas verschwunden war. Da standst du doch eine halbe Stunde oder so vor der Tür.«
»Ja.«
»Erinnerst du dich?«
»Ja...«
»Wo standst du genau?«
»Im... Torbogen von einem der Häuser gegenüber.«
»Ah ja. Wie war ... das Wetter? Kalt? Angenehm?«
»Am Anfang ... angenehm. Dann ziemlich kalt. Ich hab gefroren. Ich hatte Hunger und nicht mal einen Schokoriegel dabei.«
»Gut. Du hattest Hunger. Aber in der Straße, da gab's nichts? Nicht mal einen Imbiss?«
»Ich glaub nicht. Nein, da gab's nichts. Alles war dunkel. Kein Lokal, nichts.«
»Okay. Also ein Wohnviertel. Hohe Häuser? Altbauten oder eher neu?«
»Alt. Hohe Häuser.«
»Ihr wart zu Fuß unterwegs.«
»Ja. Am Anfang.«
»Dann nicht mehr?«
»Dann sind wir mit der S-Bahn gefahren.«
»Ja, richtig. Raus zu den Belolaveks. Aber anfangs...«
»Zu Fuß.«
»Zu Fuß in welche Richtung? Stadtmitte? Richtung Süden? Osten? Nur so ungefähr?«
Bauer sah sie an, als würde er gleich weinen. »Ich weiß nicht.«
»Okay. Macht nichts. Ist okay.«
»Ich kann mich einfach nicht erinnern! Diese Scheißstraße, dieses Scheißviertel! Ich hab mir die Hausnummer gemerkt, aber jetzt weiß ich den Namen der Straße nicht mehr. Ich weiß nicht mal ungefähr, wo das war!«
»Patrick, hör auf! Wir kriegen das raus. Du wirst dich erinnern. Und vielleicht ist es gar nicht wichtig.«
Es war wichtig, verdammt. Mona wusste, dass es wichtig war.
Auf dem Weg ins Dezernat klingelte ihr Handy. Es war Marko Selisch. »Ich hab was für Sie«, sagte er.
»Was? Den Todeszeitpunkt?«
»Ich denke schon. Die letzten beiden Tage hat's geregnet, Wetter und Temperaturen waren ähnlich wie zur Liegezeit der Leiche - ich denke, ich kann das jetzt hochrechnen.«
»Ja. Und?«
»Ich könnte Ihnen alles in meinem Büro zeigen. Die Berechnungsunterlagen, das Wachstum der Maden und so weiter.«
»Ich kann im Moment nicht kommen. Mir genügt fürs Erste das Ergebnis.«
»31. August. In der Nacht zum ersten September.«
»Nicht tagsüber. In der Nacht. Stimmt das?«
»Ja. Calliphora ist nachtaktiv. Auf der Leiche waren hauptsächlich Calliphora-Maden. Das hat sich auch auf dem Schwein bestätigt. Calliphora. Wenig Lucilia. Sie können davon ausgehen, dass es nachts war.«
»Wann nachts?«
Mona hörte ihn lachen. »Hellseher bin ich nicht. Nachts ist es passiert. Irgendwann ab Dunkelheit. Wahrscheinlich draußen. In diesem oder in einem der umliegenden Gärten. Ich habe keine Tiere gefunden, die in diesem Garten nicht vorkommen.«
»Sie sind sich sicher?«
»Soweit man das sein kann.«
31. August: Am 30. August hatte Karin Belolavek mit Milan Farkas Schluss gemacht, weil sie ihre Familie nicht gefährden wollte. Am nächsten Tag wird ihr Mann ermordet. War also doch Milan der Mörder? Hatte er sie angelogen? Sollte sie den Fall zu den Akten legen, denn die Wahrheit würde sie jetzt, nachdem auch Milan tot war, wohl nie mehr herausbekommen.
Aber etwas in Mona sträubte sich dagegen. Schließlich waren Karin Belolavek und ihre Tochter immer noch verschwunden. Und solange deren Schicksal nicht geklärt war, musste sie weiterermitteln.