Kapitel 6
Erde zu Erde, Fleisch zu Fleisch. Calliphora, die Schwarze mit den roten Bäckchen, hat ihre Eier abgelegt, und sie ist erschöpft. Sie hat Lucilia, die Grüne, auf Grund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit fast zur Gänze verdrängt und ist jetzt müde von den Anstrengungen. Sie ist nicht einmal mehr im Stande, zu fliegen. Sie kriecht langsam weg von dem Körper, der sie nun nicht mehr interessiert. Sie hat ihn auserkoren als Nahrungsquelle ihrer Brut und ist nun frei aller Verpflichtungen.
Ein paar Stunden lang passiert nicht viel. Die Nacht endet, der Tag beginnt. Ein heißer Tag. Calliphoras cremefarbene Töchter sprengen die zarte, fast durchsichtige Eihülle und beginnen zu fressen. Augäpfel, die inneren Schleimhäute von Mund und Nase, blutende, nässende Wunden sind ihr Revier. Die Haut ist - im Moment - zu hart und zu trocken für sie. Noch sind sie winzig klein, schwach und ganz dünn. Alle zusammen bilden sie eine schleierartige Schicht, die man anfangs leicht übersieht.
Der Tod ist dunkelweiß. In diesem Stadium.
Frauen sind die wahren Revolutionärinnen, davon bin ich überzeugt, und immer mehr, je länger ich dich kenne. Frauen haben den Willen zur wahren Anarchie, zur herrschaftsfreien Gesellschaft. Frauen und junge Männer. Je älter Männer werden, desto rettungsloser verfallen sie dem Instinkt der Macht. Entweder werden Männer selbst zum Alphatier, oder sie unterwerfen sich anderen Alphatieren. Ergebnis ist in jedem Fall, dass in ihrem Universum nur noch das eine zählt. Die Macht, die man hat, die Macht, an der man teilhaben will, wenn sie einem schon nicht ganz gehört. Der Weg ist nicht mehr das Ziel, der Zweck heiligt alle Mittel. Und sie merken nicht einmal, welch fatalen Verlauf ihre seelische Entwicklung einschlägt, den sie billigend in Kauf nehmen. Wie irgendwann alles abstirbt, das sie berühren, selbst wenn sie es in bester Absicht tun, selbst wenn sie glauben zu lieben und geliebt zu werden...
Wir beide aber, wir schlagen ihnen ein Schnippchen. Wir sind die subversiven Elemente, die ihre Herrschaft unterhöhlen werden. Wir sind das Leben, sie sind todesähnliche Erstarrung. Wenn ich an dich denke, ist das Gefühl der Dankbarkeit überwältigend. Du hast mir meinen Körper zurückgegeben, der nur noch eine Schattenexistenz unter der Dominanz meiner Ängste führte. Langsam beginne ich, mich sicher zu fühlen. Langsam kann ich die Augen aufmachen, weit auf, und ich fürchte nicht mehr, was ich sehe.
Dich. Deine Nacktheit. Ich kann Worte sagen, laut, leidenschaftlich, bestimmt, die ich früher nur mit einem verschämten Kichern herausbrachte. Schwanz. Ich sage es dir ins Gesicht: Ich bin geil auf deinen Schwanz. Ich spüre kein Zurückzucken, keine Irritation, keine Peinlichkeit bei dir, nur deine schamlose Offenheit, deine Begeisterung, dass ich mich traue, meine Wünsche zu leben. Obwohl ich weniger schön, weniger jung bin als du. Du sagst, das sei egal, und es ist so weit gekommen, dass ich dir manchmal glaube. Immer häufiger. Oder?
Du jedenfalls kannst immer. Ich komme mittags, nachmittags, morgens zu dir, und du bist immer, immer bereit für mich. Zweimal, dreimal, so oft ich will. Du lachst stolz, wenn ich dir das sage. Du bist stolz auf deine Potenz, und manchmal, wenn mich die alten Befürchtungen einholen, dann mutmaße ich in diesen pechschwarzen Stunden, dass ich nur... eben ein Mittel zum Zweck bin. Eine Möglichkeit, dir selber zu beweisen, dass du bei jeder Frau hart wirst, egal, wie ... sie ist.
O Gott, nein, ich darf das nicht denken, es vernichtet mich. Ich muss an gestern denken, ich muss daran denken, wie du meine Brüste geküsst hast, als wären sie Reliquien. Und wie ich plötzlich erkannte, dass meine Brüste schön sind. Klein, aber fest wie die Brüste einer viel jüngeren Frau. Ich war stolz, und mein Stolz wandelte sich in Erregung.
Ich will dich reiten, sagte ich, und meine Stimme klang herrlich rau in meinen Ohren. (Ein Teufel flüsterte: Wer weiß, ob du dich nicht lächerlich machst, wer kann schon in einen Menschen hineinschauen, wer sagt dir, dass er wirklich dich meint, wer... Aber ich ignorierte ihn entschlossen, und das machte mich stark.)
Ich will dich reiten, sagte ich.
Du hast dich auf den Rücken gedreht, blitzschnell, mit dieser unglaublichen Geschmeidigkeit und Kraft, für die ich dich so bewundere, so sehr liebe. Du hast gesagt: Oh ja, bitte reite mich, ich bin so hart für dich. Bitte tu das für mich. Mach mich härter, mach mich geiler...
Und ich tat es, und ich spürte meine Kraft. Sie war so lange verschüttet gewesen, und jetzt war sie wieder da. Ich spürte das Feuer in mir, das sich nicht länger beherrschen ließ.
Fick mich, sagtest du, und es war, als wären wir eins, denn ich konnte plötzlich deine Gefühle lesen, wie es dich erregte, es nur auszusprechen...
Fick mich.
Unsere Bewegungen wurden langsamer, intensiver, dein Gesicht entgleiste, deine Züge verzerrten sich, und du warfst mich auf den Rücken.
Du bist so gut für mich.
Und dann schoss diese heiße Flamme in mir hoch, erfasste alle meine Glieder, ich begann zu zittern. Einen Moment lang hatte ich Angst, abzustürzen, Schwindel erfasste mich, Tränen schossen mir in die Augen.
Oh ja. Ja.
Es war das erste Mal, dass wir gemeinsam kamen. Dein Kiefer krampfte sich zusammen, deine Zähne wurden sichtbar, und wieder kam der magische Moment, in dem ich an dich glaubte. An dich, an uns. An mich, an meine Schönheit. Ich sah mich danach in deinem kleinen Bad im Spiegel an: eine um zehn Jahre verjüngte Frau mit glatter, schimmernder Haut und einem straffen Körper. Ich duschte selig. Ich war wieder Mitte zwanzig. Ich hatte Sex und genoss ihn.
Aber jetzt bin ich in einer anderen Stimmung. Ich versuche, mir all das vorzustellen, und ich schaffe es nicht. Ich liege auf dem Bett, ich schließe die Augen, ich streichle mich. Umsonst, ich bin trocken. Es ist, als hätte mein Körper schon wieder vergessen, dass es dich gibt, dass es das Glück gibt, dass es die Hemmungslosigkeit gibt - und zwar für mich. Mich? Meine Haare sind wieder ohne Glanz, meine Augen trübe, meine Haut fleckig. Du hast mich verwandelt, aber der Zauber hält immer nur einen Tag, wie im Märchen. Das macht mich abhängig. Das ist nicht gut für uns, für unsere Beziehung. Du brauchst eine starke Frau, kein jammerndes kleines Mädchen. Die kannst du an jeder Straßenecke haben.
Mich nicht. Das muss ich mir immer wieder vorsagen: Ich bin etwas Besonderes, Einzigartiges für dich. Ich bin nicht austauschbar.
Ich hoffe, dass ich es nicht bin. Du gibst mir das Gefühl, dass ich es nicht bin. Ich würde dich gern rund um die Uhr bewachen, um mir selbst zu beweisen, was ich dir bedeute. Wie gut, dass das nicht geht. In solchen Momenten bin ich froh über meine Verpflichtungen, die mich von derart wahnhaften Aktionen abhalten. Hätte ich Zeit, ich wäre die geschickteste Spionin und die ausdauerndste.
Es war halb eins, als Mona und Fischer ins Dezernat zurückkehrten. Auf ihren Schreibtischen lagen mehrere Zettelhaufen. Es ging um Telefonate hilfreicher Bürger, die sich zu dem Fall Belolavek gemeldet hatten. Die Polizeiobermeister Helmut Schmidt und Karl Forster waren beauftragt worden, aus der erwarteten Flut an Anrufern diejenigen auszusieben, die als brauchbare Zeugen in Frage kamen.
Die Pressestelle der Mordkomissionen hatte zwei Fahndungsfotos von Karin und Maria Belolavek an Presseagenturen und überregionale Medien herausgegeben. An folgenden Orten waren die beiden in den letzten anderthalb Tagen gesehen worden: im Hauptbahnhof Lübeck, wo Maria Belolavek Freier ansprach, an einer Seilbahnstation in Garmisch (Maria Belolavek gemeinsam mit einer Frau, die sich mit einem Kopftuch und einer Sonnenbrille maskiert habe, aber dennoch ausgesehen habe wie Karin Belolavek), bei einer Strandwanderung auf Rügen, in Paris, in Hamburg, in Dresden am Zwinger, in einem toskanischen Dorf, dessen Namen die Anruferin vergessen hatte.
»Sie könnten überall sein«, sagte Mona zu Fischer. Sie saß auf der Kante ihres Schreibtischs und rauchte eine von Fischers Marlboros. »Vielleicht bei einer Freundin, die sie deckt. Vielleicht schon im Ausland. Sie könnten sich die Haare gefärbt oder abgeschnitten haben. Sie könnten tot sein.« Sie blätterte zum x-ten Mal das Fotoalbum durch, das sie im Haus des Opfers sichergestellt hatten. Das Album war ein knappes Jahr alt, Thomas Belolavek hatte alle Bilder datiert. Karin Belolavek wirkte darauf sehr schlank, sie hatte einen blonden Pagenkopf, ein zartes Gesicht mit schmalen Lippen, kleiner Nase und blauen Augen. Ihre Tochter Maria sah ihr ähnlich, nur waren ihre Haare länger. Zimmermann hatte sie schüchtern genannt. So sah sie eigentlich nicht aus. Eher munter, hübsch und intelligent.
»Hunderttausend«, sagte Fischer in Monas Überlegungen hinein.
»Was?«
»Sechzigtausend hat sie vom Konto ihres Mannes abgehoben. Heute hat sich die Stadtsparkasse bei uns gemeldet. Bauer hat das Gespräch angenommen. Er sagt, sie hat dort ein eigenes Konto. Dreiundvierzigtausend und ein paar Hunderter. Sie hat alles leer geräumt. Konto aufgelöst. Die ist nicht tot. Die ist unterwegs.«
»Die Stadtsparkasse kommt auf uns zu. Das ist ja ganz was Neues. Woher hatte sie das Geld?«
»Eine Erbschaft, sagen die. Von ihren toten Eltern. Das Geld, haben die von der Bank gesagt, blieb jahrelang praktisch unberührt. Gammelte auf einem Sparkonto rum, mit zwei Komma fünf Prozent Zinsen. Demnach hat sie jetzt hunderttausend in bar. Damit kommen die beiden auf einer netten griechischen Insel jahrelang über die Runden. Kaufen sich ein Häuschen, leben von Oliven und Wein.«
Mona lachte überrascht. »Du bist ja ein Romantiker.«
Fischer grinste. Er kippelte auf Monas Stuhl, die Hände in den Taschen seiner Jeans. »Wollen wir schnell was essen gehen? Ist eh keiner da im Moment.«
»Kebab?«
»Okay.«
Sie fuhren mit dem Lift ins Erdgeschoss und gingen durch die Glastür auf die laute Straße. Seit Jahren wurde ihnen ein besseres Bürogebäude in einer ansprechenderen Gegend versprochen, das sich angeblich schon im Bau befand. Aber Mona eilte es damit nicht, obwohl das Dezernat 11 mit seinen grün lackierten Wänden, seinen engen labyrinthhaften Gängen und trostlos kleinen Schuhkarton-Büros eigentlich eine Zumutung war. Aber sie mochte die Straßen rund um den Hauptbahnhof, die griechischen, türkischen und bayerischen Imbisse, die Sex-Shops, Striplokale und Stundenhotels, die Textil- und Elektroläden mit ihrer zweifelhaften Ware (zu Berghammers Standardwitzen gehörte der Ausspruch, dass das kriminelle Potenzial dieses Viertels die Anwesenheit einer zentralen polizeilichen Dienststelle mehr als rechtfertige). Andererseits erinnerte sie das Viertel an Anton und seine Geschäfte.
Manchmal träumte Mona von einem Leben, das ihr mehr Wahlmöglichkeiten ließ, als dieses. Manchmal schätzte sie sich glücklich, dass alles so gekommen war. Sie hatte nicht gerade viele Alternativen gehabt. Sie hatte wahrscheinlich das Beste draus gemacht.
Fischer und sie bahnten sich einen Weg durch das mittägliche Gewühl. Der Himmel war bedeckt, aber es regnete nicht mehr. Dafür war es noch kälter geworden, vielleicht acht, neun Grad. Mona dachte daran, dass sie nach ihrem Urlaub noch nicht einmal dazu gekommen war, ihre Sachen zu waschen. Dass sie unbedingt bei Lukas' Vertrauenslehrerin anrufen musste. Dass Lukas heute nicht mehr bei Anton schlafen durfte, damit diese Regelung nicht zum Dauerzustand wurde (denn was wäre, wenn Anton zum zweiten Mal verhaftet würde? Wie sollte Lukas das verkraften, wenn er nur ein Heim kannte - nämlich Antons Wohnung?).
Sie würde also Lukas heute Nachmittag um halb fünf aus dem Hort abholen, und dann würden sie gemeinsam nach Hause (ihre Wohnung) fahren. Sie würde in Windeseile aufräumen und ihre Sachen in die Waschmaschine packen. Dann würde sie mit Lukas gemeinsam einkaufen gehen, weil er das gern tat. Oder sollten sie schon vorher einkaufen und dann aufräumen, während Lukas sich vor dem Fernseher entspannte?
Ja, das war wahrscheinlich die bessere Lösung. Lukas würde fernsehen, sie würde Ordnung machen und kochen, und gegen halb acht würden sie zu Abend essen. Der einzige Abend in der Woche, an dem das immer möglich war. Sie hatte sich diesen einen Abend bei Berghammer ausbedungen - egal, was im Büro los war. Dieser Abend - ein Mittwoch - gehörte Lukas ganz allein. Sie hoffte, dass sich das durchhalten ließ. Die Regelung war erst ein halbes Jahr alt. Und wann immer es hoch herging, spürte sie die ungnädigen Blicke ihrer Kollegen, wenn sie sich früher als alle anderen verabschiedete, um ihre Extrawurst zu braten.
»Kebab mit viel Zwiebeln«, sagte Fischer zu einem jungen Mann mit dunklem Bartschatten auf den hageren Wangen.
»Zwei«, sagte Mona geistesabwesend.
»Fünf Euro zusammen.«
Sie zahlten und warteten vor der Glastheke. Schweigend sahen sie dem Verkäufer zu, wie er blitzschnell Lammstreifen vom Drehspieß absäbelte und geschickt das fette Fleisch, Tsatsiki, Zwiebeln und Tomaten im Fladen verstaute. Es herrschte Hochbetrieb, die Schwingtür ging ständig auf und zu. Jeder neue Kunde brachte einen Schwall frischer, feuchter Kaltluft mit.
»Zweimal Kebab, bitte sehr«, sagte der Verkäufer.
Sie stellten sich an einen der Stehtische im Lokal. Mona drückte Fischer ihre Portion in die Hand und holte sich einen Pappteller, Plastikbesteck und mehrere Servietten. Dabei fiel ihr Blick zufällig auf eine der verspiegelten Säulen. Sie sah eine Frau mit dunklen, schulterlangen Haaren und erhitztem Gesicht. Eine Frau, die noch leicht gebräunt war und dennoch schon wieder die vertrauten Augenringe hatte, die immer erst nach einer Woche Urlaub restlos verschwanden. Sie nahm Fischer ihr Kebab ab und legte es vor sich auf den Teller.
»Kebab isst man mit den Händen«, bemerkte Fischer mit vollem Mund. Seine Lippen waren beschmiert mit Tsatsiki.
»Ich nicht. Ich hab keine Lust, mir danach immer das Gesicht zu waschen.«
»Wenn man richtig abbeißt, muss man das auch nicht.«
»Ach ja? Dann schau dich doch mal an!«
Nach dem Geplänkel schwiegen sie, wie meistens, wenn sie zu zweit waren und nicht gerade Berufliches zu besprechen war. Mona fragte sich manchmal, ob es Fischer wohl etwas ausmachte, dass sie sich nichts zu sagen hatten. Fühlte er sich wohl dabei, in Gesellschaft einer Kollegin sein Kebab zu verschlingen und nicht mit ihr zu kommunizieren? Oder hielt er aus purer Unfähigkeit und Fantasielosigkeit den Mund?
Oder lag es an ihr?
Ihre Kollegen, hatte sie beobachtet, verständigten sich hauptsächlich durch Witze. Einer erzählte, alle lachten, dann kam der nächste dran, toppte die Anekdote mit einer noch schärferen, dann wieder dröhnendes Gelächter und so fort. Auf diese Weise brachten sie ganze Bereitschaftsdienste herum. Mona konnte sich keine Witze merken, und wenn sie mal versuchte, einen wiederzugeben, endete das meistens in höflichem Gelächter.
Vielleicht lag es also an ihr.
Fischer wischte sich die Finger an einer ihrer Servietten ab und gähnte. »Weißt du was, ich hasse diesen Zwiebelgeruch. Ich meine, ich mag den Geschmack, aber ich hasse den Geruch danach an den Händen. Bescheuert, was? Da stopft man sich dieses Zeug rein, und weiß genau...«
»Lässt sich vermeiden, wenn man Messer und Gabel benutzt.«
»Ja, Mutti.« Fischer gähnte wieder, ließ seinen Blick unruhig durch das Lokal schweifen. Er sah blass und gestresst aus. Im Moment waren sie fast allein. Der Verkäufer war in einen Raum hinter der Theke verschwunden. Sie hörten ihn gedämpft auf Griechisch schimpfen.
»Wir sollten langsam mal zurückgehen.«
»Okay, Mutti.«
»Hör jetzt auf mit dem Blödsinn. Hör einfach auf.«
»Ja, M...«
»Aufhören!« Sie war einfach nicht schlagfertig genug. Sie war zu langsam, zu bedächtig, sie hatte zu viele Skrupel. Fischer nahm sich manchmal ziemlich viel heraus. Zu viel? Wer entschied das? Du, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Du bestimmst das, du bist der Chef. Also los!
»Wir gehen jetzt, und du gibst Ruhe, sonst schreibst du das Protokoll der Konferenz. Klar?«
Und Fischer machte tatsächlich den Mund zu. Jeder hasste es, Protokolle zu schreiben, und ganz besonders er. Was übrigens gut zu wissen war.
»Ich will mir den Tatort noch mal anschauen. Kommst du mit?«
»Nee danke. Ich kenn das alles.«
Schon von weitem sah man dem Grundstück die Zerstörung an. Mona parkte den Wagen neben dem weiß getünchten, jetzt völlig verschmutzten Holzzaun. Sie hatten ganze Arbeit geleistet. Der Rasen, so er noch bestand, war eine schmuddlige braungrüne Masse und an vielen Stellen aufgegraben. In einer der Gruben stak noch ein vergessener Spaten. Ein kleiner, entlaubter Apfelbaum lag vollständig entwurzelt neben dem mit Terrakottaplatten belegten Eingangsbereich. Mona öffnete die Gartentür. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war immer noch so kühl und feucht, dass sich ihre Haare kräuselten.
Sie wusste nicht, wonach sie suchte. Es ging vielleicht nur darum, sich überhaupt einen Eindruck zu verschaffen: So hatten die Belolaveks gelebt, bevor alles vernichtet wurde, was sie sich aufgebaut hatten.
Sie ging um das Haus herum, das inmitten der hinterlassenen Verwüstung wie eine friedvolle Insel stand. Von außen immer noch intakt, sauber und adrett. Ein Haus, wie es sich viele Familien wünschten und sich die wenigsten leisten konnten, nicht zu groß, nicht zu klein, mit charmanter Backsteinfassade und weiß eingefassten Fensterrahmen in erstklassiger Lage.
Der Garten auf der anderen Seite bot kein besseres Bild. Herausgerissene Rhododendronsträucher, kaputte Rosenstöcke, zertrampelte Beete. Und ein Haufen Bretter, wo einmal der Schuppen gestanden hatte - das seltsame Grabmal Thomas Belolaveks. Weder im Haus noch im Inneren des Schuppens waren DNA-Spuren gefunden worden, kein Blut, nirgends. Möglicherweise war der Garten also der Tatort. Das war aber nach der Liegezeit und dem vielen Regen selbst mit den neuesten Methoden nicht mehr verifizierbar.
Bevor das Wetter im September urplötzlich umgeschlagen hatte, war es ein heißer, trockener Sommer gewesen. War es denkbar, dass eine Frau ihren körperlich sicherlich kräftigeren Mann im Garten erstach - etwa an einem Spätsommerabend, wo sie damit rechnen musste, dass sich das halbe Viertel im Freien befand?
Was war mit dieser unauffälligen, freundlichen Familie passiert und ihrem unspektakulären Dasein? Wer von den Mitgliedern hatte den Keim der Zerstörung gelegt? Einer, beide, alle drei? Oder doch Fremdverschulden? Ein Racheakt oder ein Raubmord, bei dem der Mörder kalte Füße bekommen hatte und deshalb Geld und Wertsachen unberührt ließ? Mona kniete sich neben die mit Plastikplanen überdeckte flache Vertiefung, in der noch Abdrücke eines menschlichen Körpers zu erkennen waren. Beine, Arme, Rumpf und Kopf. Madenfraß. Mona überkam eine leichte Übelkeit. Er hatte hier gelegen wie ein moderndes Stück Holz, so, als hätte es ihn nie gegeben. Tot und vergessen von der Welt. Von niemandem vermisst. Das Gesicht nicht mehr zu erkennen, die Augenhöhlen leer, die Lippen bis über die Zähne verwest. Ausdruckslos. Zerfressen. Ein würdeloses Ende.
Mona fühlte sich plötzlich sehr allein in diesem Garten, in dem Tod und Verwesung auf so aufdringliche Weise Einzug gehalten hatten. Am Himmel ballten sich schwarze Wolkengebirge. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Dieser Garten, dachte sie plötzlich, war ein verzauberter Garten. Er strahlte Unglück und Gefahr aus, aber die Belolaveks hatten das zu spät gemerkt. Da war das Gift bereits in ihren Adern, eroberte ihr Wesen, tötete...
Mona schüttelte den Kopf und schlug die Gartentür hinter sich zu.