Kapitel 3
Nachts fuhr sie hoch, von Entsetzen überwältigt. Nichts existierte mehr in ihr außer der Angst. Angst: ein tosender Wasserfall, ein hysterischer Strudel, der sie nach unten zog, mitten in jene Gebiete, die man wohlweislich mied, wenn man gesund und wach war. Angst wovor? Sie wusste es nicht, denn für diese Frage war es längst zu spät. Sie stöhnte laut und gequält auf und kam dann langsam wieder zu sich.
Aus der Dunkelheit schälten sich die vertrauten Dinge ihres Schlafzimmers. Bettdecke, Spiegel, Kommode, Stuhl, Schrank. Sie war am Leben, und ihr fehlte nichts. Es war nur ein Traum gewesen. Ihr Atem beruhigte sich, sie stand auf und sah nach Lukas. Vor zwei Tagen war sie ebenfalls ohne Grund aufgewacht, und dann hatte man sie vom Mordversuch an Bauer in Kenntnis gesetzt, und sie war, wie schon hunderte von Malen zuvor, in irgendwelche nach kaltem Rauch stinkende Kleidungsstücke geschlüpft, hatte sich noch im Halbschlaf die Zähne geputzt, hatte die Wohnungstür leise hinter sich geschlossen, um Lukas nicht zu wecken, war die Treppe heruntergestolpert und hatte auf der Straße minutenlang überlegen müssen, wo ihr Auto diesmal stand: wie immer. Und doch ganz anders.
Mona schaute auf Lukas, der tief schlief, in derselben Position wie schon in der vorvorigen Nacht. Ein gespenstisches Déjà vu. Sie ging in ihr Zimmer zurück, legte sich ins Bett und schaltete die Nachttischlampe ein. Es war vier Uhr morgens, aber sie wollte nicht mehr schlafen. Sobald sie einschlafen würde, würde das Telefon läuten, und es gäbe eine neue Hiobsbotschaft, zum Beispiel die, dass Bauer seinen Verletzungen erlegen sei. Wenn sie wach blieb, dachte sie, würde Bauer vielleicht überleben. Sie musste das Muster durchbrechen. Sie musste verhindern, dass diese Nacht einen ähnlichen Verlauf nahm wie die vorvorige.
Sie legte sich auf den Rücken und bettete ihren Kopf auf den rechten Unterarm. Sie starrte auf die Decke wie auf eine Filmleinwand. Ihr übermüdetes Gehirn spielte ihr seltsame optische Streiche. Die Decke schien überzogen mit Schlangenlinien, dann wieder war sie voller bunter Punkte und Sterne. Mona zwang sich, die Augen offen zu halten, denn fielen sie jetzt zu, würde sie in ihrer derzeitigen Verfassung in einen todesähnlichen Schlaf versinken, aus der sie erst der Wecker reißen würde - oder das Telefon.
Sie musste wach bleiben. Wenn sie wach blieb, würde Bauer überleben. Sie war sich ganz sicher.
Sie dachte an Fischer, der vielleicht befördert werden würde. Vielleicht würde sie dann versetzt werden, irgendwohin auf eine ländliche Polizeidienststelle, wo nichts passierte außer Fahrraddiebstählen und Nachbarschaftsstreitigkeiten. Und Todesfälle auf den Bundestraßen natürlich, auf dem Heimweg von der Disko. Zerfetzte Leichen jugendlicher Beifahrer, vom Fahrer ganz zu schweigen.
Auf dem Land war es nicht idyllischer als hier. Da bringen sich die Leute selber um, hatte der Insektenforscher gestern gesagt, und eine kleine Schilderung fantasievoll geglückter Suizide angefügt. Manche täuschten sogar einen Mord vor. Fügten sich selbst bei vollem Bewusstsein schwerste Verletzungen zu, um nicht mit dem Stigma des Selbstmörders erinnert zu werden.
Macht Ihnen das Spaß?, hatte Mona ihn anschließend gefragt.
Was? Die Leichenarbeit? Die Arbeit mit Insekten?
Sie war sich dumm vorgekommen. Ja. Ich meine, wir alle hier haben eine Menge mit Leichen zu tun...
Eben. Deswegen kommt mir diese Frage etwas laienhaft vor.
Es waren die Insekten, erkannte sie jetzt. Es gab kaum etwas, das sie widerlicher und abstoßender fand als Insekten jeder Art, fliegend oder kriechend, klein oder groß. Niemals würde sie diesen Job machen können.
Phobisch?, hatte Selisch gefragt, als sei das ganz normal.
Ein bisschen. Manchmal, hatte sie gelogen.
Selisch war in ihrem Büro gewesen, um Bericht zu erstatten. Er hatte die Leiche gründlich untersucht, konnte aber noch keine genauen Zeitangaben machen. Während er kleine Schlucke von seinem dampfenden Yogitee nahm, erklärte er ihr auf seine schnoddrige, beiläufige Art sein weiteres Vorgehen. Es ging, soweit Mona verstand, in erster Linie um verlässliche Temperaturdaten, die er an einer nahe gelegenen Wetterstation für den Zeitraum der Liegezeit erfragen wollte.
Dann muss ich mir ein, zwei Tierleichen beschaffen.
Wie bitte?
Das ist kein Problem, Tierärzte sind über jeden froh, der ihnen ihre eingeschläferten Patienten abnimmt.
So.
Ja. Ich brauche schätzungsweise eine Woche.
Wozu?
Um zu sehen, welche Insekten die Tiere wann besiedeln. Das Ganze muss natürlich am Fundort passieren, sonst bringt es nichts. Am besten wäre ein Schwein.
Ein ...
Oder man legt eine frische menschliche Leiche aus. Aber das ist ja hier wohl nicht drin.
Warum ein Schwein?
Ideal ist immer ein Tier mit vergleichbarer Biomasse wie die Leiche. Und Schweine unterscheiden sich genetisch kaum vom Menschen. Außerdem haben sie wie diese kein Fell.
Sie wollen ein totes Schwein in den Garten der Belolaveks legen?
So ungefähr. Ja genau.
In dieser Sekunde hatte Mona beschlossen, Berghammer über das Vorgehen des neuen Mitarbeiters im Unklaren zu lassen. Sollten die Ergebnisse eine überzeugende Sprache sprechen, konnte man ihm immer noch die Sache mit dem Schwein erklären.
Ich hoffe, Sie können das so machen, dass die Nachbarn...
Nichts merken? Ich werd mir Mühe geben.
Die Decke über ihr löste sich in zerfallende Quadrate auf. Ihre Augen fielen zu. Das Telefon klingelte nicht, wohl aber zwei Stunden später der Wecker.
Als Mona am nächsten Morgen ihrem mürrischen Sohn gegenübersaß, fasste sie einen Entschluss.
»Ich möchte, dass du bei Papa übernachtest. Die nächste Zeit jedenfalls. So lange, bis dieser Fall ad acta gelegt ist.«
Lukas' Gesicht hellte sich mit einem Schlag auf. Es tat fast weh zu sehen, wie er sich freute.
»Jede Nacht? Ich darf richtig bei ihm wohnen?«
Mona rührte in ihrem Kaffee. »Ja. Jetzt erst mal.«
Sie hatte Anton nicht einmal gefragt. Aber sie wusste, es würde kein Problem sein. Es war noch nie eins gewesen, außer sie hatte es dazu gemacht - diese Erkenntnis war bitter und gleichzeitig eine Erleichterung. Lukas' Vater hatte eine kriminelle Vergangenheit, doch von der Gegenwart wusste sie, wenn sie ehrlich war, nichts. Dachte sie zu lange darüber nach, zählte sie eins und eins zusammen, sprachen die Fakten zwar eine deutliche Sprache. Aber wer, verdammt noch mal, zwang sie eigentlich dazu? Sie war nicht verantwortlich für Antons Geschäfte, und so viel sie wusste, tat er niemandem etwas zu Leide, außer dass er möglicherweise den Profit einiger großer Autofirmen etwas herabsenkte. Und? Was interessierte sie das? Interessierte es überhaupt irgendwen, dass er - vielleicht - Luxuswagen auf nicht ganz konventionelle, sprich: legale Art in den Osten »exportierte«?
Sie wusste natürlich, dass sie sich etwas vormachte. Lukas seinem Vater zu überlassen war wieder einmal eine kurzfristige Scheinlösung. Lukas konnte nicht bei Anton leben, weil Mona nicht bei ihm leben konnte. Die ewig gleiche Sackgasse, aus der es kein Entkommen gab.
Mona fuhr sich durch ihren ungekämmten Haarschopf. Sie war müde und abgespannt. Es war sicher nicht gut für Lukas, dass er seine Mutter so sah. Andere Mütter sahen adrett und ausgeruht aus, wenn sie ihren Kindern Frühstück servierten. Mona nahm sich vor, dass das in Zukunft so sein würde. Sie würde ihren Alltag besser in den Griff bekommen. Sie wusste nur noch nicht wie. Aber manchmal reichte ja schon der feste Wille, um Dinge grundlegend zu ändern.
»Wenn ich bei Papa schlafe...«
»Ja?« Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch und sah Lukas an, der strahlte wie schon seit Wochen nicht mehr.
»Dann muss ich doch einen Koffer mit all meinen Sachen packen, oder?«
»Äh - ja, klar.«
Lukas sprang auf, als hätte er auf diese Antwort nur gewartet.
»Dann mach ich das mal.«
»Ja«, sagte Mona langsam. »Tu das.«
Aber er war schon in seinem Zimmer verschwunden. Sie hörte das hektische Aufklappen einer Schranktür und legte ihre Stirn stützend in die Hand. Der Kaffee vor ihr wurde zu einer kalten, bitteren Brühe. Ihr Blick fiel auf Lukas' halb gegessenes Müsli. Sie stand auf, goss den Kaffee in den Ausguss und gab die Müslireste in den Abfall, dann stellte sie das Geschirr in die schon fast volle Spülmaschine. Handgriffe so vertraut wie Zähneputzen und so langweilig, dass man sich schon zwei Sekunden später nicht mehr daran erinnern konnte. Sie nahm eine Reinigungstablette aus dem Karton neben dem Mülleimer, legte sie in die dafür vorgesehene Plastikmulde der Spülmaschine und drückte den Deckel zu. Sie schloss die Maschine, drehte den Bedienungsknopf einen Millimeter nach rechts und hörte das leise Brummen, als sie ansprang.
Plötzlich dachte Mona an Karin Belolavek. Die Belolavek hatte nichts gehabt außer Hausfrauenarbeit und ihren ehrenamtlichen Job, und das war ihr zu wenig gewesen. Sie hatte etwas anderes gewollt und vielleicht geglaubt, dass Farkas ihr das geben konnte. Eine intelligente, gebildete Frau hatte den Sinn des Lebens in einer Affäre mit einem Halbwüchsigen gesucht. Konnte jemand wie Karin Belolavek wirklich so naiv sein?
Aber Mona dachte an jene Frauen - oftmals intelligente, leidenschaftliche, tüchtige Frauen -, die nichts Besseres zu tun hatten, als Jahre ihres Lebens im Engagement für männliche Strafgefangene zu verschwenden. Sie hatte Briefe dieser Frauen gelesen, schwärmerisch alberne Traktate über wahre Liebe in Zeiten gesellschaftlichen Widerstandes. Kein Delikt schien schlimm genug, um sie abzuschrecken, im Gegenteil. Je brutaler und perverser der Geliebte in Freiheit gewesen war, desto höher die Anzahl williger Therapeutinnen und fanatischer Heiratsanwärterinnen. Nette Frauen im Allgemeinen. Warum taten sie solche Dinge? Was hatten sie davon?
Die meisten sind einsam, dachte Mona, während sie ein feuchtes Putzschwämmchen mit Spülmittel beträufelte, Krümel und Butterreste vom Tisch wischte und mit einem Handtuch die Platte nachpolierte. Sie erschauerte vor einem plötzlichen Gefühl elementarer Leere: Einsamkeit. Aber Karin Belolavek hatte einen fleißigen Mann und eine begabte, hübsche Tochter gehabt. Was war also ihr Motiv gewesen, all das aufs Spiel zu setzen? Ihre Familie hatte ihr nicht genügt, etwas Wesentliches hatte gefehlt. So musste es gewesen sein, denn niemand hatte sie gezwungen, diese riskante Beziehung zu beginnen. Es war ihre freie Entscheidung gewesen, die wichtigsten Menschen in ihrem Leben zu hintergehen.
Warum hatte sie das getan? Warum musste ihr Mann sterben? Und: Wo waren sie und ihre Tochter jetzt? Ebenfalls tot? Auf der Flucht - und wenn ja: vor wem liefen sie davon?
Keine einzige dieser Fragen konnten sie beantworten. Trotz all ihrer Aktivitäten hatte sich noch immer nichts voranbewegt. Stattdessen war ein Verdächtiger flüchtig, und ein Kollege lag im Koma.
Mona wusch sich die Hände in der Spüle und cremte sie mit einer Lotion ein, die billig war und auch so roch, aber ihren Zweck erfüllte. Sie musste an Anton denken, der nichts lieber tat, als ihr teure Sachen zu schenken, die sie nicht annehmen wollte, denn sie erkannte sehr wohl, dass es sich dabei um einen Deal handelte. Ich gebe dir, was du dir wünschst, dafür lässt du mich leben, wie es mir passt, lauteten Antons Bedingungen, und es verstand sich von selbst, dass Mona darauf niemals eingehen würde.
Mona zog ihren Parka über und scheuchte Lukas aus seinem Zimmer. Er hatte ihren größten Koffer und noch eine Reisetasche voll gepackt. Mona beschloss, gar nicht erst hineinzusehen und ihm stattdessen die wichtigen Dinge - Unterhosen, Waschzeug, frische T-Shirts - heute Abend mitzubringen. Lukas nahm die Reisetasche, sie den Koffer, und gemeinsam schleppten sie alles die Treppe hinunter. Lukas würde zu früh da sein, weil ihre Dienstzeiten nicht mit seinen Unterrichtszeiten korrespondierten, aber daran war er gewöhnt.
Als sie auf dem noch leeren Schulhof ankamen, wollte er Koffer und Reisetasche aus dem Kofferraum wuchten. Herbstlich kalte Luft zog in das Auto.
»Lass drin«, sagte Mona. »Ich bring dir das heute Abend zu Papa.«
Lukas nickte und schoss davon, ohne sich zu verabschieden. Mona wendete und fuhr durch eine kleine Allee mit Kastanienbäumen zum schmiedeeisernen Hauptportal. Ein einzelner Schüler kam ihr entgegen, ein stämmiger Junge mit munterem, rotbackigem Gesicht. Mona lächelte ihm durch die Windschutzscheibe zu, aber sein konzentrierter Blick war auf den asphaltierten Weg vor ihm gerichtet. Als Mona langsam an ihm vorbeifuhr, bückte er sich. Im Rückspiegel sah Mona, dass er ein paar Kastanien aufsammelte, die noch in ihren stachligen grünen Schutzmänteln steckten. Mona erinnerte sich daran, wie schön der Moment war, wenn man die Kastanien herausgeschält und sie dann in der Hand liegen hatte - kühl, glatt und glänzend wie poliert. Die erste Lektion im Fach Nichts-bleibt-wie-es-ist: Schon nach einem halben Tag wurden die braune Schicht matt und der leuchtend weiße Stempel grau.
Die Konferenz fand diesmal in Berghammers Büro statt. Schmidt, Forster, Fischer und Mona saßen an seinem ovalen Besuchertisch, Berghammer hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Es gefiel Mona nicht, dass sie nun als Gleiche unter Gleichen saß, aber sie sagte nichts. Es war vielleicht keine Absicht gewesen. Andererseits war Berghammer für subtile Botschaften bekannt. Diese hier lautete, wenn es denn eine war: Deine Position musst du dir neu verdienen.
»Erst die gute Nachricht«, sagte Berghammer, und alle sahen hoch. »Bauer ist wieder bei Bewusstsein.« Mona schloss die Augen. Ein leichter Schwindel überkam sie. »Er ist über dem Berg, sagen die Ärzte, aber wir dürfen ihn derzeit noch nicht befragen. Mona, alles okay?«
»Ja.« Ein schwerer Stein fiel ihr vom Herzen. Dieser Tag fing gut an, so gut wie schon lange keiner mehr.
Als Mona eine Stunde später in ihr Büro kam, saß dort eine Frau mit kurzen, brennend roten Haaren. Sie trug enge Jeans, einen breiten, fransenbesetzten Ledergürtel und darüber eine dicke, fast knielange graue Strickjacke. Ihr Gesicht war sehr hell geschminkt mit einem dunklen, scharf gezeichneten Mund.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Mona.
Merkwürdigerweise begann ihr Herz zu klopfen, auf eine ganz ähnliche Weise wie vor zwei Tagen im Krankenhaus, als ihr der Arzt gesagt hatte, wie schlimm es um Bauer stand. Dabei war an dieser Frau, bis auf die extrem gefärbten Haare, nichts sichtbar Besonderes oder Beängstigendes. Sie war etwa dreißig Jahre alt, sehr blass, saß mit krummem Rücken auf dem Besucherstuhl und wirkte, als hätte es sie Überwindung gekostet, hierher zu kommen.
»Was wollen Sie?«, fragte Mona erneut, und wieder überfiel sie dieses merkwürdige Gefühl. Bevor die Frau antwortete, ahnte - nein: wusste - sie, dass jetzt der eine entscheidende Hinweis kam. Sie hat etwas damit zu tun. Aber was?
»Ich bin eine Hexe«, sagte die Frau mit heiserer, ausdrucksloser Stimme. Mona setzte sich hin. Das Gefühl war mit einem Schlag vorbei; selbst ernannte Hexen kamen öfter im Dezernat vorbei, um ihre Dienste anzubieten. Sie hatte sich geirrt, manchmal war die Hoffnung eben stärker als die Vernunft. Als Erstes würde sie in Erfahrung bringen müssen, wer der Frau erlaubt hatte, sich in ihr Büro zu setzen, noch dazu während ihrer Abwesenheit.
»Und?«, fragte sie trocken. »Hier gibt's nichts zu verzaubern.«
Die Rothaarige ließ sich nicht beirren. »Ich kann Dinge sehen, die Sie nicht sehen können. Ich kann Verschwundene finden und so weiter.«
Mona dachte, wie oft einen scheinbar untrügliche Ahnungen und Visionen täuschen konnten. Deshalb hielt sie auch so wenig von der so genannten Intuition, die in ihrem Beruf angeblich so wichtig war. Intuition war das letzte Mittel, Intuition musste herhalten, wenn einem gar nichts Substanzielles mehr einfiel.
»Warum erzählen Sie mir das?« Sie musste Theresa Leitner, Pfarrer Grimm und die Schriftstellerin Carola Stein anrufen und neue Termine mit ihnen vereinbaren. Manchmal brachte es Erkenntnisse, wenn man alte Zeugen in einem gewissen zeitlichen Abstand ein zweites Mal vernahm. Es handelte sich dabei um ein Geduldsspiel mit ungewissem Ausgang. Es kostete Zeit, ein bis zwei weitere Nachmittage mindestens, und vielleicht kam nichts dabei heraus, aber sie musste es riskieren. Sobald sie diese Frau draußen hatte.
»Ich habe etwas gesehen, das für Sie interessant sein könnte«, sagte die Rothaarige. Sie zündete sich eine Zigarette an, ohne zu fragen, ob sie hier rauchen durfte. Mona stellte fest, dass sie auffallend helle Augen hatte. Sie waren mit breiten Kajalstrichen betont, und die Wimpern waren kräftig getuscht.
»Danke, wir sind nicht interessiert. Wir arbeiten grundsätzlich nicht mit ... äh... Leuten wie Ihnen.« Sie schob ihr einen Aschenbecher hin.
»Sie wissen doch gar nicht, was ich Ihnen sagen will.«
»Es interessiert mich nicht. Wir arbeiten nicht mit Hexen. Wir machen das einfach nicht.«
»Ich habe jemanden gesehen«, sagte die andere hartnäckig.
Mona seufzte. »Was heißt gesehen? Im Schlaf? Haben Sie was geträumt?«
Die Frau lächelte leicht und antwortete nicht.
»Wie heißen Sie?«
»Leila.«
»Leila und wie weiter?«
Kurzes Zögern. »Svatek.«
»Leila Svatek.«
»Nein. Paula Svatek. Leila ist mein...«
»Hexenname?«
»Ja. Wenn Sie so wollen.«
»Okay, Frau Svatek. Dann würde ich sagen, Sie werden entweder etwas deutlicher, oder Sie lassen mich hier meine Arbeit machen.«
Paula Svatek lächelte wieder. Ihre Schneidezähne sahen seltsam fleckig aus, wahrscheinlich hatte ihr dunkler Lippenstift abgefärbt. Die Hand, die die Zigarette hielt, begann leicht, dann immer stärker zu zittern. Als Paula Svatek den Blick Monas registrierte, drückte sie hastig den halb gerauchten Stummel aus und versteckte ihre Hand in den Ärmeln ihrer voluminösen Jacke, als sei ihr kalt.
Sie war nervös. Oder sie hatte Angst.
»Was haben Sie gesehen und bei welcher Gelegenheit?«, fragte Mona noch einmal.
»Einen Mann. Jung. Er ist tot.«
»Wer und wo?«
»Ich weiß nicht. Es war vorgestern, während einer Session. Sein Gesicht... Er hat tot ausgesehen.«
»Aber Sie kennen ihn nicht.« Vielleicht eine Verrückte?
»Nein.«
»Dann können wir wohl nicht viel tun.« Mona überlegte, wie sie sie wieder los wurde. Vielleicht sollte sie Fischer rufen.
»Aber es gibt ihn! Wirklich!«
»Ah ja?« Fischer würde der Frau den Marsch blasen. Bei richtig kaputten Typen wie der da schaffte das Mona meistens nicht.
»Ja. Wirklich.«
Mona legte ihre Hand auf den Telefonhörer. »Das kann schon sein. Aber Sie kennen seinen Namen nicht, Sie wissen nicht, wo er ist, sondern nur, dass er tot ist. Er könnte sonst wo liegen... hier, in Italien, im Kosovo...«
»Er ist hier.«
»Wo hier?«
Die Frau begann zu weinen. »Sehr nah. Sehr nah bei mir.«
»Bei Ihnen?«
»Bitte helfen Sie mir«, schluchzte die Frau. »Ich hab solche Angst vor diesem Gesicht. Es verfolgt mich Tag und Nacht.«
»Frau ... äh... Svatek. Ich weiß nicht, was wir da tun sollen. Nah bei mir - was heißt das?«
»Bei meinem Haus. Irgendwo da in der Nähe. Bitte schicken Sie jemanden, der nachschaut.«
»Auf derart vage Angaben können wir nicht tätig werden. Das müssen Sie verstehen.«
»In meinem Garten! Bitte! Wenn Sie mitkommen, werde ich ihn finden, ich schwöre es. Bitte.«
»Ein Mann. In Ihrem Garten.«
»Ja.«
»Der wie aussieht?«
»Jung. Vielleicht... Mitte zwanzig. Dunkler Typ, hübsches Gesicht. Sieht irgendwie... ich weiß nicht... italienisch aus. Dunkle Augen.«
Mona wusste nicht, warum sie das tat, aber in der nächsten Sekunde hielt sie Farkas' Fahndungsfoto in der Hand.
»Dunkel, italienischer Typ?« Das traf auf tausende Männer zu. Es gab nicht den geringsten Grund...
Mona öffnete eine Schublade in ihrem Schreibtisch. Dort lagen, so weit sie sich erinnerte, noch die Fotos all jener jungen Männer, die bei Carola Steins Lesung im letzten Herbst anwesend waren. Sie suchte die mit den »dunklen, italienischen Typen« heraus, mischte Farkas' Foto dazwischen und legte sie dann wie einen Fächer vor Paula Svatek auf den Schreibtisch.
»Ist er darunter? Der Mann, den Sie gesehen haben?«
Paula Svatek putzte sich die Nase, stand auf und beugte sich über die Bilder, ihr zerknülltes Tempo noch in der Hand. Sie betrachtete die ersten drei sorgfältig und zögerte dann beim vierten. Etwas zu demonstrativ, wie Mona fand.
»Das ist er.« Ihre Stimme klang überrascht - genauso überrascht wie die einer miserablen Schauspielerin. Ihre Tränen waren versiegt, nicht einmal das Augen-Make-up sah verschmiert aus. Sie zog das Foto aus dem Stapel und legte es vor Mona hin.
»Er ist es. Ganz sicher. Woher wussten Sie das?« Auch diese Frage hörte sich ganz falsch an. Mona nahm das Foto in die Hand und warf einen Blick darauf, obwohl das nicht notwendig war. Sie wusste, dass es das von Farkas war.
»Okay«, sagte sie langsam. »Ich denke, das ist jetzt doch ganz interessant für uns. Macht es Ihnen was aus, wenn ich einen Kollegen dazuhole?«
Paula Svatek schüttelte den Kopf. Sie hatte sich wieder hingesetzt und schien sich wie zu Hause zu fühlen.