Kapitel 11

Bauer hatte noch nie eine leibhaftige Schriftstellerin gesehen. Anfangs war da eine gewisse Ehrfurcht gewesen, die sich aber rasch verloren hatte. Zuerst hatte nur Fischer die Fragen gestellt, auf seine schnelle, rotzige Art nach der Jeder-hat-irgendwo-Dreck-am-Stecken-Devise. Die Schriftstellerin schien er damit kaum zu beeindrucken. Sie antwortete mit ruhiger, tonloser Stimme und nahm sich alle Zeit der Welt. Nach gerade mal fünf Minuten war Fischer plötzlich ziemlich bleich geworden. Mit erstickter Stimme wies er Bauer an, er sollte jetzt weitermachen, bis er wieder zurückkäme, und hatte dann den Vernehmungsraum ziemlich überstürzt verlassen.

Tatsächlich kam Fischer aber nicht wieder, und so musste Bauer, obwohl er ganz neu in der MK1 war, die Zeugenvernehmung allein durchführen, was völlig unüblich war und ihn sehr verunsicherte. Andererseits, dachte er, konnte er nicht viel falsch machen, denn sie wusste ohnehin nicht gerade viel.

Carola Stein hieß eigentlich Cordula Faltermeier. Sie war neununddreißig, groß und mager, mit knochigen breiten Schultern unter ihrem schwarzen Rollkragenpullover. Ihre Haare waren ebenfalls schwarz, ziemlich lang und glatt und sahen gefärbt aus. Ihr Gesicht war blass. Sie rauchte fast ununterbrochen, wirkte dabei aber überhaupt nicht nervös. Vielmehr schien sie Zigaretten so notwendig und selbstverständlich zu brauchen wie andere Leute Nahrung und Luft. Das Vernehmungszimmer war klein, und Bauer musste mehrmals das Fenster öffnen.

Methodisch arbeitete er sich gemeinsam mit ihr durch den Verlauf der Lesung. Ja, an Karin Belolavek könne sie sich erinnern, sie war ja schließlich die Veranstalterin. Aber sonst an niemanden im Speziellen. Auch an keinen der Insassen. Doch, einer habe ihr einen Blumenstrauß auf die Bühne gebracht. Hatte schweißfeuchte Hände dabei, was sie süß fand. Für Schwerkriminelle hätten die Jungs übrigens ganz gut ausgesehen. Sie zwinkerte bei dieser Bemerkung, und Bauer wurde rot.

Ob ihr aufgefallen sei, dass sich einer der Insassen mit Karin Belolavek unterhalten habe?

Nein. Sie habe auch überhaupt nicht darauf geachtet. Da seien über fünfzig Leute in dieser Aula gewesen. Ihr seien die vielen Türen aufgefallen, die man aufsperren und wieder abschließen musste, um überhaupt irgendwohin zu gelangen. Die JSA sei ihr wie ein Labyrinth vorgekommen. Verwirrend, aber insgesamt viel weniger schlimm, als sie sich ein Gefängnis vorgestellt hatte. Ach, und eine Frau hätte einen Schwächeanfall bekommen.

»Welche Frau? Kannten Sie sie?«

»Äh... Nein. Sicher nicht. Die Luft war ziemlich schlecht. Kein Wunder.«

»Lesen Sie Krimis?«, fragte sie ihn zum Schluss.

»Na ja...«, sagte Bauer unschlüssig. Eigentlich las er gar nichts außer Fachliteratur.

»Ich war übrigens schon mal hier. Hab mit Ihrem Chef gesprochen. Für Recherchen.«

»Martin Berghammer?«

»Genau der. Ein netter Mann. Würden Sie ihn von mir grüßen?«

»Klar.«

Sie beugte sich vor. Ihm fiel auf, dass sie um die Augen herum ziemlich stark geschminkt war. »Mal ehrlich, war Ihnen mein Name ein Begriff?«

»Hab ich schon irgendwo gehört«, log er.

Sie lächelte. »Wenn Sie wollen, schick ich Ihnen ein Buch.«

»Ja, also... Das wäre toll.«

»Sind wir jetzt fertig?« Sie unterschrieb das Protokoll und ging, ohne sich von ihm oder der Protokollantin zu verabschieden. Auch nach seiner Adresse fragte sie nicht, obwohl sie ihm doch ein Buch schicken wollte. Welchen Eindruck er wohl auf sie gemacht hatte? Eine Weile saß Bauer ganz allein im Vernehmungszimmer, ohne sich zu rühren. Es roch nach viel Rauch und einer schwachen Ahnung von Parfüm. Schließlich stand er auf und ging in sein Büro zurück. Glücklicherweise war er allein. Bauer setzte sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf in beide Hände.

Seine Freundin war vor ein paar Tagen ausgezogen. Das war zu erwarten gewesen, nachdem sie keinen Sex mehr wollte, keine Liebkosungen, nicht einmal Küsse. Ich halt das nicht mehr aus. Dieses Gerede von Tod und wie Leichen wirklich aussehen und wie der ... Dingsda das Blut der ... Dings in den Ausguss...

Ich weiß.

Es ist so eklig.

Ich weiß. Tut mir Leid. Ich bin erst eine Woche dabei. Ich gewöhn mich schon daran, und dann rede ich auch nicht mehr drüber.

Ich halt das nicht mehr aus. Du riechst schon danach.

Ich rieche nicht. Ich dusche und wasche meine Klamotten. Jeden Abend. Weißt du genau.

Das nützt nichts. Du riechst nach Tod.

Sie hatte ihren Koffer aus rotblauem Lederimitat aus dem gemeinsamen Kleiderschrank geholt und dann ganz ohne Hast, sorgfältig und methodisch begonnen, einzupacken. Erst ihre Hosen, dann die ordentlich zusammengelegten T-Shirts, dann die Blusen, dann die Kleider. Da war ihm klar gewesen, dass es ihr ernst war. Merkwürdigerweise kamen ihm erst die Tränen, als sie den braunen Ledermini im Koffer versenkte, den Rock, den er an ihr besonders liebte und nun wahrscheinlich nie wieder sehen würde.

Völlig bescheuert, wegen eines Kleidungsstücks zu heulen.

Dann aber fielen ihm die ganzen anderen Sachen ein, die nun nie mehr stattfinden würden, und er musste noch mehr weinen. Gemeinsam frühstücken an den Wochenenden, gemeinsam einkaufen, gemeinsam wegfahren, gemeinsam ihre Eltern besuchen, die ihn nicht ausstehen konnten, weil er so wenig verdiente und so schlechte Aussichten hatte, jemals weiterzukommen.

Ihre Augen waren völlig trocken geblieben. Sie hatte den Koffer zugemacht und danach in aller Ruhe ihre Reisetasche aus dem Kellerabteil geholt, um darin Schuhe und Waschzeug zu verstauen. Er verlegte sich aufs Flehen.

Ich könnte was anderes machen. Ich könnte wieder zur Schupo gehen.

Ach ja, toll.

Ich könnte...

Polizei ist Polizei, Patrick, verstehst du? Ist doch egal, in welcher Abteilung. Da geht's immer nur um schlechte Sachen. Wenn nichts Schlechtes passiert, braucht euch kein Mensch.

Und das war die Wahrheit. In guten Zeiten brauchte niemand Leute wie ihn. Sie wollte einen Mann für gute Zeiten. Konnte man ihr eigentlich nicht übel nehmen.

Seit drei Tagen aß Bauer fast nichts mehr. Seine Rippen standen heraus, sein Schädel war knochig und hohlwangig geworden. Manchmal betrachtete er sich im Spiegel des Waschraums und fuhr mit den Fingerspitzen die hageren Linien seines Gesichts ab.

Sein Telefon klingelte, und er schrak schuldbewusst zusammen.

»Patrick, Konferenz!«

»Komme schon.«

Konferenz. Diese Zwangsveranstaltungen mit all den schrecklichen Leuten, die sich Kollegen nannten und sicher schon längst hinter sich hatten, womit er sich zum ersten Mal abquälte.

Dieses ewige Gequalme.

Diese öden Witze, immer bevor Mona den Raum betrat.

Mona Mördertitte.

Er stand auf und nahm seine Unterlagen.

Diesmal gab es keine Mördertitten-Witze, denn Mona war schon da und klopfte ungeduldig mit einem Kugelschreiber auf ihren Block. Links neben ihr lümmelte Forster, wie üblich mit Kippe im Mund, rechts saß Fischer, nicht mehr so blass wie vorhin, aber ausnahmsweise ohne Chipstüte, neben Fischer saß Schmidt. Berghammer lehnte am Fensterbrett. Als Bauer hereinkam, drückte Berghammer sich ab und schloss das Fenster, sperrte den Straßenlärm, die Sonne und den warmen Wind aus.

»Geht's dir gut, Patrick?«

Berghammers väterlich besorgte Stimme löste Alarmsignale in Bauers Kopf aus. Gehtsdirgutpatrickwiuuwiuuuwiiiuuu.

»Ja«, sagte Bauer. »Alles okay.« Sie würden ihn wieder zurück zur Schupo schicken, wenn er sich nicht zusammenriss. Und dann hätte seine Freundin für gar nichts mit ihm Schluss gemacht.

»Gerade auf Diät?«

Bauer schaffte es zu lächeln. »Kommt alles wieder drauf.«

»Wieso? Sieht doch gut aus. Stehen die Mädels drauf.« Die anderen lachten. Bauer dachte, leckt mich, ihr Arschlöcher. Er setzte sich neben Schmidt, der ihn nicht ansah, obwohl er immer noch lachte. (Über ihn. Und dann traute er sich nicht mal, ihm ins Gesicht zu sehen.)

»Es kommen drei in Frage«, sagte Mona auf ihre übliche sachliche Art, als hätte sie gar nicht mitbekommen, was hier ablief. Das Gelächter verstummte aprupt.

»Drei«, wiederholte Mona. »Das ist schon mal ein guter Anfang.« Welche drei? Er hatte irgendwas verpasst.

»Milan Farkas, heute dreiundzwanzig«, fuhr sie fort, »hat mit sechzehn seine Freundin umgebracht. Totschlag, sechs Jahre Jugendstrafe, vier Jahre später auf Bewährung entlassen. Zur Zeit der Lesung war er kurz in U-Haft wegen einer anderen Sache, nämlich Körperverletzung mit Todesfolge. Ihm konnte nichts nachgewiesen werden. Verhandlung und Entlassung aus der JSA zwei Wochen später. Wolfgang Heiermann, heute achtundzwanzig, zehn Jahre Jugendstrafe wegen Mord, Eifersuchtsdelikt, war vier Monate nach der Lesung frei. Hanno Jindjic, heute zwanzig, schwerer Raub mit Körperverletzung, Jugendstrafe, auf Bewährung entlassen.«

»Alle andern sitzen noch?«, fragte Berghammer.

»Ja. Zwei sind verlegt worden. Unwichtig für uns.«

»Und wenn sie zu den Weib... den Frauen gehört, die an Strafgefangene Liebesbriefe schreiben?«

Mona sah Berghammer verständnislos an.

»Du weißt schon«, sagte Berghammer, »diese...«

»Ich hab schon verstanden. Die Leitner hat aber klar gesagt, es war eine Affäre. Mit allem Drum und Dran. Keine läppischen Briefchen hin und her.«

»Ist ja gut«, sagte Berghammer. Bauer wusste nie so genau, woran man mit ihm war. Wegen seiner massigen Statur und seiner tiefen Stimme wirkte er schwerfällig, friedfertig und langsam. Aber er konnte unvermutet scharf schießen.

»Ich denke, wir sollten gar nicht lange reden«, erklärte Mona. »Wir nehmen uns die Typen vor. Jetzt sofort. Wir rufen nicht an, wir laden nicht vor, wir fahren hin und führen die Vernehmungen vor Ort. Ich will nicht, dass einer von denen plötzlich nie mehr zu Hause ist.« Sie sah Berghammer an. »Was hältst du davon?«

Berghammer nickte und machte gleichzeitig ein Gesicht, als wollte er dazu noch etwas sagen. Dann aber ließ er es sein.

»Wer von denen ist noch auf Bewährung?«, fragte Fischer.

»Jindjic und Heiermann. Farkas war ja bloß in U-Haft, also keine Bewährung. Ich hoffe, seine Adresse stimmt noch. Ist immerhin gut ein Jahr her. Gemeldet ist er da jedenfalls.«

»Und wenn die ausgeflogen sind?«

»Dann observieren wir.«

»Die ganze Nacht?«, fragte Schmidt entsetzt.

»Immer mit der Ruhe. Vielleicht sind sie ja da.«

Als das große Stühlerücken einsetzte, stand Fischer plötzlich neben Bauer. »Geht's dir besser?«, fragte Bauer.

»Danke, geht schon. Hast du der Seiler...« Fischer senkte seine Stimme, bis er fast flüsterte. Gemeinsam gingen sie zur Tür.

»Nein.«

»Das war... sehr fair von dir. Echt superfair. Ich wär schon wiedergekommen, wenn mir nicht so übel gewesen wär. Totaler Dünnschiss. Hat die Alte noch was gesagt?«

»Die Stein? Nee. Nichts Interessantes.«

»Wo ist das Protokoll?«

»Bei der Seiler, wo sonst?«

»Okay. Ähh...«

»Ich werd schon nichts erzählen. Wenn ich nicht muss«, sagte Bauer mit einem leise triumphierenden Unterton. Es war nicht schlecht, jemanden wie Fischer in der Hand zu haben.

»Milan Farkas, Wolfgang Heiermann oder Hanno Jindjic«, sagte Mona ins Telefon. »Sagt Ihnen einer dieser Namen was?«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Sie hörte Theresa Leitner leise atmen. Dann: »Nein, ich glaube nicht. War einer von denen der junge Mann, der mit Karin...«

Mona seufzte. »Das wissen wir noch nicht«, sagte sie.

»Karin hat mir seinen Namen leider nicht gesagt, nicht mal seinen Vornamen.«

»Okay.«

»Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?«

»Ist Ihnen noch irgendetwas nach unserem Gespräch eingefallen? Etwas, das Karin betrifft?«

Wieder gab es eine Pause am anderen Ende der Leitung. »Na ja, nicht wirklich. Ich habe sie sehr gern gemocht. Ich muss noch mal sagen, ich bin sicher, dass Karin nichts mit dieser entsetzlichen Sache zu tun hat.«

»Tja. Die meisten Mörder benehmen sich nicht, wie wir denken, dass Mörder sich benehmen.«

»Sie war so liebevoll. Nie laut. Immer nett.«

»Viele Mörder waren vorher richtig nett. Das sagt gar nichts.«

»Tja, also...«

»Eine Frage noch. Hat Karin Belolavek oder ihr Mann... Haben die ein Ferienhaus oder so was in der Art? Irgendeine Möglichkeit unterzuschlüpfen?«

»Nicht dass ich wüsste. Keine Ahnung. Tut mir sehr Leid.«

»Macht nichts. Vielen Dank.«

»Herr Zimmermann? Hier ist Mona Seiler.«

»Wie? Ach so, ja. Von der Kripo.«

»Ja. Ich habe noch eine Frage.«

»Ja?«

»Wissen Sie etwas von einem Ferienhaus? Ich meine, hatten die Belolaveks ein Ferienhaus oder Wochendhaus?«

»Puh. Da fragen Sie mich was. Ich glaube nicht. Sie sind, glaube ich, mal in ein Ferienhaus von Freunden gefahren, an die Ostsee.«

»Wer waren diese Freunde?«

»Keine Ahnung. Ich bin mir auch gar nicht sicher. Sie kannten ja eigentlich nicht sehr viele Leute. Sagte ich Ihnen ja schon.«

Nach diesem Abend weiß Maria, dass sie die Party ihr Leben lang nicht mehr vergessen wird. Die Eltern des Gastgebers sind nicht zu Hause, und entsprechend ufert das Ganze aus. Haus und Garten sind voller Leute, von denen Maria mindestens die Hälfte noch nie gesehen hat. Es wird getrunken, gekifft, getanzt und herumgeknutscht. Anfangs fühlt sie sich unsicher unter den vielen Fremden. Sie kann ihre Freundinnen nicht entdecken und geht hinaus in den dämmerigen, von Fackeln erleuchteten Garten. Die abendliche Luft ist kühler als gedacht, und sie fröstelt.

Dann fällt ihr Blick auf ein Mädchen, das sie ansieht, als sei sie die Einzige hier, die wirklich zählt. Sie ist ein paar Jahre älter als Maria, hat helle, lange Locken und ein sehr blasses Gesicht.

Sie sieht interessant aus. Maria wendet den Blick ab und wartet mit ihrer Cola in der Hand. Eine Minute später steht sie neben ihr.

»Hallo, meine Schöne.« Ihre Stimme ist rau und samtig, und sie wirkt kein bisschen verlegen. Sie benimmt sich vielmehr mit einer Selbstverständlichkeit, als würden sie sich schon ewig kennen. Und in der nächsten Sekunde kommt es Maria bereits so vor, als sei das wahr. Als seien sie Geschwister im Geiste.

»Was trinkst du da?«, fragt sie das Mädchen. Es hält ein Glas mit einer weißlichen, undurchsichtigen Flüssigkeit in der Hand.

»Ricard. Willst du mal probieren?«

Maria nickt und nimmt einen Schluck. Ein ekelhafter Alkohol-Lakritz-Geschmack, von dem ihr fast schlecht wird, aber sie zwingt sich, den Mund voll hinunterzuschlucken.

»Schmeckt's dir?«, fragt das Mädchen. Fast ist Maria enttäuscht, dass sie ihr die Antwort nicht ansieht. Sie schüttelt den Kopf, und das Mädchen lächelt, als wüsste sie es besser. Es wird immer dunkler. Der Schein der Fackeln tanzt auf ihrem Gesicht, modelliert ihre scharfen, feinen Züge. Das Mädchen sieht sie immer noch an, direkt und unverschämt. Ihre Augen sind mit schwarzem Kajal umrandet. Maria hat noch nie solche Augen gesehen. Sie sind groß und tief. Sie sind weise und still, und gleichzeitig haben sie etwas Beunruhigendes.

»Wie heißt du?«, fragt Maria. Sie weiß, dass ihre Haare sie im Licht der Fackeln umrahmen wie ein Heiligenschein, aber ausnahmsweise denkt sie einmal nicht daran, wie sie wirkt.

»Kai.«

Kai nimmt sie bei der Hand, und gemeinsam gehen sie ins Haus. Im Wohnzimmer legt ein DJ House und Hiphop auf, aber es tanzen nur wenige. Trotz der ohrenbetäubenden Rhythmen stehen die meisten in der Nähe der Boxen herum und schreien sich gegenseitig ins Ohr. Kai führt sie durch dieses akustische Inferno in die Diele, die ebenfalls voller Leute ist. Dann geht es rechts herum, eine Treppe hinauf. Sie scheint sich hier gut auszukennen. Sie halten sich immer noch an den Händen. Kais Hand fühlt sich glatt und kühl an.

»Ich würde dir gern was zeigen«, sagt Kai. Ihre leise, dunkle Stimme wird fast übertönt von dem ausgelassenen Lärm um sie herum, aber trotzdem erreicht Maria jedes Wort. Sie nickt und sieht zu ihr hoch.

»Du hast wirklich keine Angst? Wenn du Angst hast, gehen wir woanders hin.«

Maria versteht nicht, aber sie sagt: »Nein, ich hab überhaupt keine Angst.« Und das zumindest ist wahr.

Sie gehen gemeinsam die Treppe hoch, lassen die Party hinter sich, mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Oben im ersten Stock ist niemand mehr. Kai zieht Maria hinter sich her zu einer schmalen Holztür, die aussieht wie die Tür zu einer Abstellkammer. Sie öffnet sie, und Maria sieht eine weitere, diesmal sehr einfache Holztreppe, die nach oben führt. Es riecht trocken und auf undefinierbare Art muffig.

»Der Speicher«, erklärt ihr Kai. »Oben ist noch ein Zimmer.« Sie lässt Marias Hand los, macht das Licht an und steigt, ihr voran, die Treppe hoch. Es ist mühsam, denn die Treppe ist steil. Oben stehen verstaubte Regale, mit Folie abgedeckte, ausrangierte Möbel und uralt aussehende Schrankkoffer. Der Holzboden knarzt unter ihren Füßen. Die Musik, das Geschrei der anderen sind kaum noch hörbar: Sie sind wie in einer anderen Welt. Kai öffnet vorsichtig eine weiß lackierte Tür, dreht sich um und legt den Finger auf den Mund. In der nächsten Sekunde stehen sie in einer völlig verrauchten Dachkammer. Auf dem Boden, unter einer der Schrägen, liegt eine Matratze, über die eine blaue Überdecke geworfen wurde. Am Fenster befindet sich ein kleiner Schreibtisch und davor ein Stuhl. Ansonsten ist das Zimmer unmöbliert.

Drei Jungen und vier Mädchen, unter ihnen der Gastgeber, sitzen im Kreis auf den hellen Dielen, vor sich ein quadratisches Ding, das aussieht wie ein x-beliebiges Spielbrett. Sie gönnen Kai und Maria keinen Blick und wirken vollkommen konzentriert. Ihre Fingerspitzen ruhen auf einer schwarzen Plakette mit einem Loch in der Mitte, die sich sehr langsam und ruckartig bewegt. Maria kennt das Brett, ein Ouija-Brett, aus dem Fernsehen. Man kann mit Hilfe der Plakette angeblich mit dem Jenseits kommunizieren. Sie hat nie daran geglaubt.

»Willst du mitmachen?«, fragt Kai sie flüsternd. Ihr Atem streift Marias Haar, ihren Hals, und Maria fühlt ein leises Schaudern. Sie hat nie daran geglaubt, aber plötzlich ist sie im Zweifel.

»Ja«, flüstert sie zurück, ohne nachzudenken. Sie hat das Spiel immer für Kinderkram gehalten. Jetzt ist sie bereit für etwas Neues.

Sie kniet nieder, und die Gruppe rückt wortlos enger zusammen, öffnet ihr und Kai den Kreis.

»Leg deinen Zeigefinger auf die Plakette«, sagt Kai dicht an ihrem Ohr. »Dann fühlst du die Kraft.«

Vorsichtig tut Maria, wie ihr geheißen. Als ihre Fingerkuppe die Plakette berührt, schießt ein Strom aus reiner Energie durch ihren Körper. Die Plakette fühlt sich schweißig-feucht an. Sie macht einen plötzlichen Ruck, sodass Marias Finger ihr kaum folgen kann. Ihre Bewegungen werden schneller und zielgerichteter. Sie fährt, scheinbar von allein, zu eingestanzten Buchstaben und Zahlen. Sie bildet auf diese Weise ein Wort.

M-A-C-H-T.

»Du hast total viel Power«, sagt Kai zu Maria, diesmal in normaler Lautstärke. Ihre Stimme hört sich verblüfft und beinahe neidisch an.

»Das bin doch nicht ich«, sagt Maria. Eine leise Angst erfasst sie.

»Doch«, sagt einer der anderen Jungen. Sie kennt ihn nicht. »Wir machen hier schon seit 'ner halben Stunde rum. Und kaum bist du da, tut sich was.«

»Stell ihm eine Frage«, sagt Kai.

»Wem?«

»Das ist der Hilfsgeist. Er redet mit uns durch die Plakette. Frag ihn, was du wissen willst, er wird dir antworten. Du kannst die Frage auch denken.«

Maria schließt die Augen. Sie würde lieber gehen, aber gleichzeitig ist etwas an dem Spiel, was sie fasziniert. Sie denkt die erste Frage, die ihr in den Sinn kommt.

Wer ist Kai?

Unter dem tiefen Schweigen aller rutscht die Plakette hin und her und bildet schließlich ein neues Wort.

G-E-F-A-H-R.

Ihr bricht der Schweiß aus. »Was hast du gefragt?«, will der Gastgeber wissen.

»Das ist geheim«, sagt Maria. Die Blicke der anderen sind ihr lästig. Sie will weiterspielen, aber nicht als Hauptperson. Sie glaubt nicht an diesen angeblichen Hilfsgeist. Kai ist alles andere als gefährlich, das weiß sie einfach. »Ich könnte Fragen stellen, die von euch kommen«, schlägt sie vor. Zu ihrer Überraschung verfängt der Vorschlag sofort. Auch die Atmosphäre entspannt sich. Der Gastgeber sagt: »Also, ich will wissen, ob eine gewisse Du-weißt-schon-wer auf mich steht.« Er grinst und sieht Maria an, und sie kapiert mit Verzögerung, dass mit Du-weißt-schon-wer sie gemeint ist. Aber sie lässt sich nichts anmerken. Sie schließt die Augen und stellt die Frage im Geist noch einmal.

H-A-H-A.

Die Gruppe explodiert vor Gelächter. Ein Junge ruft: »Hey, und ich will wissen, ob Barbie gut poppt!«

B-E-S-S-E-R-O-H-N-E-D-I-C-H.

Gefeixe, Gelächter. Der Junge produziert ein schiefes Grinsen.

»Ihr seid so kindisch«, sagt Kai plötzlich. Gelassen nimmt sie ihren Finger von der Plakette und zieht den anderen das Brett darunter weg.

»Hey! Was soll'n das?«

»Für den Scheiß gebe ich das Ding nicht her!« Kai legt das Brett in aller Ruhe zusammen. Es gibt noch ein paar vereinzelte Proteste, dann stehen schließlich alle auf, gähnend. Nach ein paar Sekunden ist das Zimmer leer bis auf Maria und Kai. Kai öffnet das Fenster, damit der Rauch abziehen kann. Musik und ausgelassene Stimmen dringen mit der frischen Nachtluft in den Raum, und Maria ertappt sich bei dem Gedanken, dass sie gern wieder unten wäre bei den anderen.

»Willst du runter?« Kai stellt diese Frage in einem ganz normalen Ton, so als sei ihr jede Antwort recht. Aber Maria spürt, dass sie sie auf die Probe stellt. Wenn sie jetzt ja sagt, hat sich ihre Verbindung erledigt. Dann wird es keine Freundschaft geben.

»Ich würde lieber hier bleiben«, sagt sie also. Kai heftet ihren hypnotischen Blick aus ihren schwarz umrandeten Augen auf Maria. Einen so schönen Menschen hat Maria noch nie gesehen. Kai ist schlank, hat einen kleinen Busen, ihre Lippen sind voll und scharf geschnitten, ihre Wangen, ihre Stirn so perfekt geformt wie bei einer Statue. Maria lächelt unwillkürlich. Die anderen können ihr gestohlen bleiben.

»Ist das dein Brett?«

»Ja.«

»Warum hast du's eingepackt?«

Kai streicht ihr mit dem Handrücken ganz leicht über die Wange. »Wieso? Willst du weitermachen?«

Eigentlich nicht. Aber dann wieder doch. »Ja.«

Kai kniet sich hin, packt das Brett wieder aus und legt es zwischen sie beide. »Weißt du, wie alt dieses Spiel ist?«

»Nein«, sagt Maria vorsichtig. Das Brett wirkt zwar abgegriffen, aber keineswegs antik.

»Ich meine nicht das Ding da speziell. Das haben mir Leute aus Amerika mitgebracht. Dort gibt's so was in jedem Drugstore. Ich meine insgesamt.«

»Keine Ahnung.« Sie legen beide ihre Zeigefinger auf die Plakette.

»Jahrhunderte. Es stammt aus Frankreich und Deutschland. Deshalb heißt es Ouija. Abtrünnige Mönche haben es erfunden. Sie hassten Gott und nahmen durch das Brett Kontakt zu den gefallenen Engeln auf.« Die Plakette bewegt sich nicht.

»Warum haben sie das getan?«

»Gott hatte sie enttäuscht. Sie haben andere Wege gesucht, mit der Meta-Welt zu kommunizieren.« Die Plakette bewegt sich, ruckartig, unschlüssig. »Die Power ist da«, sagt Kai. »Stell eine Frage.«

»Mir fällt keine ein. Stell du eine.«

»Das glaube ich dir nicht«, sagt Kai ruhig. »Du hast eine Menge Fragen. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Da schließt Maria die Augen, und sie spürt überraschend Tränen dahinter brennen.

Warum mag ich meine Mutter nicht?

Sie will gerade diese Frage nicht denken. Sie kommt ihr einfach so in den Sinn, ohne eigenes Zutun, und sie versucht verzweifelt, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Aber es ist schon zu spät. Die Plakette beginnt, sich um sich selbst zu drehen, immer schneller. Dann fegt sie plötzlich in rasender Geschwindigkeit über das Brett. Hin und her, hin und her, über die eingestanzten Buchstaben und Zahlen hinweg. Schließlich schießt sie über das Brett hinaus, und der Kontakt bricht ab.

»Was hast du gefragt?«, fragt Kai. Sie wirkt nicht erschrocken, sondern eher animiert. Ihre Augen leuchten, ihr Mund ist halb geöffnet.

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich würde gern, aber ich kann nicht.«

Kai zuckt die Achseln. »Willst du's noch mal probieren?«

Maria schüttelt den Kopf. Sie hat Angst. Sie steht auf. »Ich muss hier raus.«

»Warte!« Kai erhebt sich ebenfalls, das Brett liegt vergessen auf dem Boden. »Bitte, bitte warte auf mich.« Sie nimmt Maria in den Arm. Ihr Körper ist biegsam und fest zugleich. »Du brauchst Hilfe«, flüstert sie. »Ich kenne Leute, die dir helfen können.«