Kapitel 17

Ich mache Fehler, immer mehr Fehler. Ich bin in vielen Momenten nicht mehr zurechnungsfähig. Wenn ich einkaufe, das Geschirr in die Spülmaschine räume, die Betten frisch beziehe, Gemüse schneide, Fleisch anbrate, Reis aufsetze, sind meine Gedanken bei dir und den entsetzlichen Problemen, die unsere Beziehung aufwirft und vor denen ich nicht mehr länger die Augen verschließen kann. Ich bin nervös, was ich früher nie war. Anfangs war die Liebe zu dir wie ein Energieschub, jetzt saugt sie mich aus, macht mich verrückt und hässlich.

Ich stehe vor einem Regal mit Putzmitteln und kann mich nicht entscheiden, welche Sorte Haushaltschwämme ich nehmen soll. Ich bin vollkommen ratlos, und schließlich kommen mir die Tränen, weil mich solche läppischen Fragen früher niemals tangiert haben, weil ich immer stolz darauf war, nicht zu jenen Hausfrauen zu gehören, die aus dem Haushalt eine Wissenschaft machen. Aber jetzt will ich alles richtig machen. Es ist meine Form der Abbitte. Ich bin dabei, meine Familie zu zerstören, aber sie sollen saubere Zimmer, saubere Bäder haben und jeden Tag ein wohl schmeckendes Essen auf dem Tisch. Als ob sie mir im Rückblick dann eher verzeihen würden, was ich vorhabe zu tun.

In Wirklichkeit passiert das Gegenteil. Beide spüren meine seelische Abwesenheit, und sie bestrafen mich dafür, weil sie nicht verstehen, was in mir vorgeht. Und damit treiben sie mich zurück in deine Arme.

Oder ist es ein ganz anderer Prozess der Entfremdung, einer, den ich gar nicht wirklich durchschaue? Manchmal, und du bist der Einzige, dem ich das sagen kann, habe ich regelrecht Angst vor meinem eigenen Mann, seinem starren Gesicht, seiner beherrschten Art, seinem trockenen, explosiven Gelächter, das nichts Lustiges, nichts Befreiendes hat. Mein Mann erzählt nichts. Wenn er redet, doziert er.

Nie verliert er die Haltung - Contenance hätte es meine Großmutter genannt -, nie kommt es zum Streit zwischen uns, nie wird ausgesprochen oder wenigstens versucht, zu ergründen, was unsere Ehe derart veröden ließ, obwohl wir doch einmal ineinander verliebt waren. Wir hatten gemeinsame Träume, es gab leidenschaftliche Auseinandersetzungen, die sich in Tränen oder Gelächter auflösten, sein Körper hatte damals nicht immer diese Steifheit und Härte, die jede zärtliche Berührung abprallen lässt.

Vielleicht hat er mittlerweile selbst eine Freundin, die - vielleicht - ebenso jung ist wie du. Überall liest man, dass das für Männer ab einem bestimmten Alter normal ist. Aber, um ehrlich zu sein, ich traue es ihm nicht zu. Er strahlt so wenig Lebensfreude und Sinnlichkeit aus, dass ich mir keine junge Frau vorstellen kann, die Lust hätte, sich mit ihm abzugeben. Er arbeitet lieber viele Stunden täglich in der Firma und oft noch am Wochenende zu Hause.

Ich koche und denke an dich. Ich gebe die Zutaten für italienisches Pesto in ein Gefäß und schalte den Stabmixer ein. Alles fliegt mir lärmend um die Ohren, weil ich das Olivenöl vergessen habe. Ich lache und weine und denke an dich. Ich bin in einem ewigen Rausch. Ich werde es nicht fertig bringen, dich zu verlassen. Ich habe wieder Striemen am Körper, aber mein Mann bemerkt sie nicht. Will er sie nicht sehen? Ich werde leichtsinniger, ziehe mein Nachthemd in seiner Gegenwart aus, setze mich seelenruhig seinen Blicken aus, bevor ich in die Dusche steige, aber er reagiert nicht. Bin ich unsichtbar für ihn? Ist es ihm egal? Fühlt er sich nicht wenigstens in seiner Männerehre getroffen?

Er fragt nicht. Meine nun schon Monate andauernde Lustlosigkeit scheint ihn nicht zu beschäftigen. Warum soll ich also bleiben? Warum nicht ein neues Leben anfangen - mit einem Mann, der mich wenigstens wahrnimmt?

Ich wische die Basilikumflecken von Spüle und Herd, fege die Parmesanbrösel und die Pinienkerne zusammen und beginne von vorn: Basilikum, Parmesan, Knoblauch, Pinienkerne, Öl, Salz. Ich mixe die Zutaten zu einer glatten grünen Masse. Sie schmeckt scharf und würzig. Ich stelle das Wasser für die Pasta auf den Herd. Wir essen um acht Uhr zu Abend wie jeden Tag. Heute werde ich draußen decken, denn der Abend ist mild. Ich nehme die steif gewordene Mousse au chocolat aus dem Kühlschrank. Ich stelle sie auf das große Holztablett, das mir meine Mutter geschenkt hat. Teller, Besteck, Gläser, eine Flasche Mineralwasser, eine Flasche spanischer Rotwein kommt dazu. Ich reiße mit den Zähnen die Plastikverpackung der Fertiggnocchi auf, die nur zwei Minuten sieden müssen. Gleich ist das Wasser heiß genug. Gleich ist alles fertig. Wir werden zusammen sitzen, wir drei, und wir werden wie üblich wenig reden, weil die entscheidenden Dinge ungesagt bleiben müssen.

Ich sehe mir von außen zu. Ich funktioniere wie eine Maschine. Es gibt diese eigentümliche Befriedigung, die mechanische Handlungsabläufe in sich bergen. Ich könnte vielleicht gar nicht mehr darauf verzichten. Wie wäre es für dich, wenn ich immer um dich wäre? Für dich kochen würde, deine Sachen waschen würde, dich umsorgen würde? Würdest du es genießen oder hassen? Könntest du es, mit der Last deiner Vergangenheit, überhaupt ertragen, gut behandelt zu werden, und das jeden Tag?

Gestern habe ich dich gesehen. Ich war zu früh dran, und du hast es nicht gemerkt. Du bist auf der Straße gestanden im Gespräch mit einem deiner so genannten Freunde. Also einem jener Männer, die dich daran hindern, ein Leben zu führen, das wirklich Zukunft hat. Ich saß im Auto und konnte nichts verstehen. Ich habe beschlossen, dich künftig ab und zu zu überwachen. In unregelmäßigen Abständen, einfach, damit ich sehe, woran ich mit dir wäre, falls... Sollte ich mich wirklich entschließen, uns beiden eine Chance zu geben, muss ich wissen, wer du bist - außerhalb unserer Rendezvous, die zeitlich nur einen so winzigen Teil deines Leben ausmachen.

Ich werde es dir irgendwann erzählen, und du wirst dann gemeinsam mit mir darüber lachen. Vielleicht. Später einmal. Es gibt im Moment Menschen und Umstände, die sich uns in den Weg stellen. Es ist sehr wichtig, aus dem Weg zu räumen, was uns belastet. Ich bin... sehr müde. Aber gleichzeitig immer wach und aufmerksam. Das ist kein Widerspruch. Ich muss für uns beide denken.

Bauer hielt sich dicht hinter Farkas. In seiner Anoraktasche hatte er eine Wollmütze gefunden, die er sich über den Kopf zog. Mehr Vorsichtsmaßnahmen hielt er für überflüssig. Er war sicher, dass Farkas gar nicht mehr genau wusste, wie er aussah.

Farkas hielt sich ein Mobiltelefon ans Ohr und sprach im Gehen leise, aber erregt hinein. Bauer rückte näher auf, verstand aber nichts. Farkas bog in eine kleine, leere Seitenstraße, und gezwungenermaßen ließ sich Bauer zurückfallen. Sie waren jetzt seit etwa zwanzig Minuten quer durch die Stadt unterwegs und kamen nun in ein Viertel, in dem Bauer noch nie gewesen war. Hohe, etwas heruntergekommene Altbauten säumten eine breite, menschenleere Straße. Bauer hatte vorsorglich einen Stadtplan mitgenommen, aber noch keine Gelegenheit gehabt, einen Blick hineinzuwerfen.

Farkas sah sich nicht um. Er telefonierte noch immer, machte wilde Gesten mit der freien rechten Hand und schien seine Umgebung überhaupt nicht zu beachten. Erst als die Straßenlaternen aufflammten, fiel Bauer auf, wie dunkel es mittlerweile geworden war. Wieder bog Farkas ab, und Bauer begann schneller zu laufen, um ihn nicht zu verlieren. An der Querstraße hielt er an und spähte vorsichtig um die Ecke. Die Straße war leer, kein Auto unterwegs, kein Fußgänger. Auch Farkas war nirgendwo mehr zu sehen.

Bauer lief die Straße, in der Farkas spurlos verschwunden war, hinauf und hinunter. Er sah in Toreinfahrten hinein und versuchte, Haustüren aufzudrücken. Es gab keine Seitenstraße, keine Unterführung, keine schmale Abkürzung zwischen den Häusern hindurch. Farkas musste in einem der Häuser sein. Bauer überlegte. Er hatte Farkas höchstens zehn, zwanzig Sekunden aus den Augen verloren. Es war also eins der Häuser am Anfang der Straße. Bauer joggte wieder zurück und nahm die Klingelschilder, eins nach dem anderen, in Augenschein. Kein Name sagte ihm etwas, und er konnte nicht überall klingeln.

Er musste hier warten, ausgerechnet an einer Stelle, wo es nicht einmal einen Imbiss gab. Er faltete seinen Stadtplan auseinander und legte ihn auf ein Mäuerchen. Er fand zumindest das Viertel, wenn auch nicht die Straße auf dem entsprechenden Planquadrat. Aber selbst wenn - was würde ihm diese Information nützen?

Mit fortschreitender Dunkelheit wurde es kalt. Bauer stellte sich in einen der verschatteten Hauseingänge, versenkte die Hände in den Hosentaschen und trat von einem Fuß auf den anderen. Ein Auto näherte sich und fuhr röhrend an ihm vorbei. Die Räder knatterten über das Kopfsteinpflaster wie Maschinengewehrfeuer. Das Geräusch des Motors war noch zu hören, als der Wagen schon längst abgebogen war. Stille Gegend hier, dachte Bauer. Die Kälte des Bodens zog langsam seine Beine empor, machte eine Pause in seiner Blasengegend und bewegte sich dann Richtung Magen.

Eine heiße Suppe wäre jetzt das Richtige. Ausgerechnet jetzt, wo er endlich wieder einmal Hunger hatte, gab es nirgendwo etwas zu essen. Bauer dachte an seine Eltern und seine zwei jüngeren Schwestern, die jetzt wahrscheinlich am weiß lackierten Esstisch saßen und sich fragten, was ihr Patrick wohl so treibe. Sie würden schön dumm schauen, wenn sie ihn hier sehen könnten.

Bauer hörte das Klacken hoher Absätze. Eine Frau mit einem Hund kam den Bürgersteig entlang, dicht an seiner Einfahrt vorbei. Er zog sich in die Tiefe des Torbogens zurück. Wenn die Frau ihn hier entdeckte, so wie er da stand, mit seiner tief in die Stirn gezogenen Mütze, würde sie ihn für einen Sittenstrolch halten.

Bei dem Gedanken musste Bauer grinsen. Fast lockte es ihn, die Frau zum Schein zu verfolgen - nur so, nur um zu sehen, wie sie reagieren würde. Zum ersten Mal erkannte er, wie ungemein einfach es war, jemandem Angst zu machen. Er hätte nichts anderes zu tun, als immer ein paar Schritte hinter der Frau zu bleiben. Mehr wäre nicht nötig, um ihr den Schrecken ihres Lebens einzujagen. Er erinnerte sich an die häufig erzählte Geschichte seiner Exfreundin, die eines Nachts nach einem Spätfilm eingeschlafen war und vom Klingeln des Telefons geweckt wurde. Eine Männerstimme flüsterte ihr mehrere obszöne Drohungen ins Ohr und hängte anschließend auf. Das Ganze hatte höchstens anderthalb Minuten gedauert und sich nie wiederholt, aber der Effekt war enorm gewesen. Wochenlang hatte sie danach unter Schlafstörungen gelitten, und wenn Bauer Nachtdienst hatte, musste er sie stündlich anrufen und stets für sie erreichbar sein.

Mit einem normalen Mann hätte sie diese Probleme nicht gehabt. Ein normaler Mann war gegen sechs zu Hause, jeden Tag, bis zur Rente.

Bauer schlotterte inzwischen vor sich hin. Er war zu dünn geworden, hatte keine Fettreserven mehr. Die Kälte schwächte ihn so sehr, dass selbst sein Hunger verschwand. Er sah auf die Uhr: Mehr als eine halbe Stunde stand er jetzt hier. Was, wenn Farkas bei jemandem übernachtete und den Rest des Abends nicht mehr vor der Haustür erschien? Bauer konnte nicht die ganze Nacht hier stehen, das brachte er nicht fertig, das musste Mona verstehen...

(Sie würde schon verstehen. Dass er ein Versager war, der nicht einmal einen Überwachungsjob auf die Reihe bekam.)

Ein leichter Wind kam auf, strich durch die mageren, mit Stöcken abgestützten Bäumchen, die die Stadt hier hatte einpflanzen lassen, auf dass sie sich eines Tages vielleicht zu einer Allee auswachsen würden, wenn sie die Abgase nicht vorher verdorren ließen. Wieder fuhr ein Auto an ihm vorbei, dann noch eins, dann ein drittes. Dann erneut Stille. Dann hörte er ein Geräusch, das klang, als ob eine Haustür zufiel. Bauer löste sich aus dem Torbogen und sah in die Richtung, aus der er glaubte, etwas gehört zu haben.

Jemand verließ tatsächlich das Nachbarhaus in die andere Richtung. Ein Mann, der von hinten jung aussah. Es war nicht zu erkennen, ob es sich um Farkas handelte. Bauer prägte sich rasch die Nummer des Hauses ein, aus dem der Mann gekommen war; sie würden später immer noch überprüfen können, wer hier wohnte. Dann folgte er der Gestalt, weil er, wie er sich in einem Anfall von Verzweiflung eingestand, einfach nicht mehr stehen konnte. Wenn es nicht Farkas war, dann hatte er ihn eben verloren. Dann musste er zu seinem Auto zurückkehren, und zu Farkas' Wohnhaus fahren. Irgendwann würde Farkas dort schon wieder erscheinen.

Doch von Schritt zu Schritt wurde Bauer sicherer, dass es sich doch um Farkas handelte. Der Mann vor ihm trug zwar nicht die Jacke, die Farkas eben noch angehabt hatte, sondern einen längeren Mantel, aber etwas an seinem Gang erinnerte dennoch an ihn. Die Größe stimmte und auch die geradezu demonstrativ zur Schau gestellte Hast, die angespannt hoch gezogenen Schultern, die tief in den Manteltaschen vergrabenen Hände - eher Fäuste, dachte Bauer.

Was hatte er in dem Haus wohl gewollt, überlegte Bauer. Wen hatte er getroffen? Karin Belolavek etwa? Versteckte sie sich dort? Und warum hatte er nun einen Mantel an? Die Gedanken schwirrten Bauer durch den Kopf, aber er konnte keine Erklärung, keine Antwort auf seine Fragen finden. Er war viel zu erschöpft, um noch klar denken zu können. Im Gehen rieb er sich seine kalten Finger, schon längst hatte er wieder jede Orientierung verloren. Der Mann bewegte sich mit einer Schnelligkeit und Sicherheit durch die Straßen, dass zumindest feststand: Er war hier schon öfter gewesen. Er kannte sich hier richtig gut aus.

Schließlich erreichten sie eine belebte Hauptstraße. Der Mann bewegte sich auf ein blau erleuchtetes U-Bahn-Schild zu, Bauer folgte ihm. Eine lange Rolltreppe führte ins Tiefgeschoss, auf der sich eine Gruppe Teenager lärmend aneinander drängte. Bauer verlor den Mann für ein paar Sekunden aus den Augen, sah ihn aber wieder, als er am Ende der Rolltreppe zu den Zugängen zu den Bahnstreifen strebte. Bauer zwängte sich durch die Gruppe und rannte die Rolltreppe herunter. Er verlangsamte seine Schritte gerade noch rechtzeitig, denn Farkas - jetzt konnte Bauer sehen, dass er es tatsächlich war - stand nun ganz entspannt mit dem Profil zu Bauer an einem Fahrkartenautomaten und zog sich ein Ticket.

Bauer hielt sich hinter ihm und hoffte, dass Farkas sich nicht aprupt umdrehen würde. Aber Farkas schien sich sicher zu fühlen. Langsam, fast schlendernd, begab er sich zu einem der Zugänge, entwertete sein Ticket und ging auf den halb leeren Bahnsteig. Der Zug fuhr ein paar Sekunden später ein; Bauer stieg ins gleiche Abteil wie Farkas und versteckte sich hinter einem dicken Jungen mit blauer Fliegerjacke. Der Zug fuhr an. Bauer sah sein eigenes Gesicht, das sich undeutlich in den Scheiben spiegelte. Es wirkte alt und gestresst mit dunklen Ringen unter den Augen, schmalen Lippen und einer Nase, die hervorsprang wie ein Schnabel. Bauer wandte sich ab. Bei diesem Licht, dachte er, sahen alle so aus. Aber er wusste, dass das nicht stimmte.

Farkas stand am anderen Ende des Abteils, die Hand an einer Haltestange, und ließ sich durchschaukeln. Er wirkte ruhig, beinahe schlaff. Das Treiben um ihn herum, die lärmenden Jungencliquen, die herausgeputzten, kichernden Mädchen, schien ihn völlig kalt zu lassen. Er fährt die Strecke oft, dachte Bauer. Vielleicht ergab das später einmal einen Hinweis.

Am Hauptbahnhof stieg Farkas aus. Menschenmassen drängten sich auf den Bahnsteigen, es roch nach Dieselöl, Gebäck, Burgerlokalen, Schweiß und Leder. Bauer ignorierte seinen wieder ständig wachsenden Hunger und folgte Farkas weiter. Es war mittlerweile neun Uhr. Bauer fixierte Farkas' Hinterkopf, der vor ihm auf und ab schaukelte und immer wieder für Sekundenbruchteile in der Menge verschwand. Farkas war jetzt sein Führer, und Bauer war der Hund, den Farkas an einer unsichtbaren Leine hinter sich herzerrte, ohne es zu wissen. Alle Sinne Bauers fokussierten sich auf die Person Farkas', dessen Ziele, Ängste und Pläne. Wieder liefen sie auf eine Rolltreppe zu, die ein Stockwerk tiefer fuhr. Eine weitere Rolltreppe führte auf den Bahnsteig einer S-Bahn-Station.

Langsam überwältigte Bauer die Müdigkeit. Er hatte anderthalb Wochen kaum geschlafen, nur wenig gegessen und viele Stunden gegrübelt. Er war am Ende seiner Kräfte. Was sollte er tun, falls Farkas tatsächlich in dem Wohnblock verschwand und nicht mehr auftauchte? Durfte er dann wagen, sein Auto zu holen, das mindestens zehn Fußminuten entfernt parkte? Bauer stieg in den Zug und setzte sich auf einen freien Platz, ohne Farkas im Auge zu behalten. Sein Blick blieb an den braunen Kunstlederbezügen hängen, wanderte weiter zur braunen Holzimitatbeschichtung der Lehnen, und für ein paar Momente vergaß er einfach, warum er hier war. Seine Augen schlossen sich ganz langsam, sein Kopf schwankte im Rhythmus der Gleise, die unter dem Zug wegschossen, sich teilten und wieder zusammengeführt wurden, nach einem unergründlichen Plan... Er nickte ein.

Bauers Gegenüber, eine ältere Frau, sah einen blassen jungen Mann mit blonden Bartstoppeln, der so erschöpft aussah, dass er ihr beinahe Leid tat.

»Spürst du die Power?«

»Ja.«

»Gib sie uns.«

»Ja.«

»Gib alles, was du hast.«

»Ja. Ja.«

Die Plakette bewegt sich in unruhigen Zickzacklinien über das Brett. In Marias Ohren klingt ein leises, fernes Rauschen, wie immer, wenn sie mit der anderen Welt kommuniziert.

»Frag!«

»Ja. Warte.«

»Frag es jetzt.«

Und Maria schließt die Augen und stellt sich ihre Mutter vor, konzentriert sich auf ihr Gesicht mit den schmalen Lippen, der feinen Nase, den umschatteten blauen Augen. Irgendwo in diesem Gesicht ist der Grund für Marias Hass versteckt, aber sie findet ihn nicht. Einen Moment lang fühlt sie sich schwindlig wie im freien Fall. Sie hat gelernt, in dieser Situation die Augen nicht zu öffnen, aber sie spürt, wie ihr der Schweiß auf die Stirn tritt.

»Nicht aufgeben, du bist ganz nah dran.«

»Ja.«

Wie aus weiter Ferne hört Maria nun die Stimme der Frau mit den kurzen roten Haaren. Maria versteht nicht, was sie sagt, aber sie registriert einen beunruhigten Unterton. Dann schaltet sich wieder Kai ein, ruhig und streng. Sie lässt sie nicht im Stich.

»Was siehst du?«

Maria öffnet langsam die Augen und senkt sie auf das Brett. Die Plakette bewegt sich jetzt schnell und zielgerichtet.

TÖTE SIE.

Maria erstarrt vor Entsetzen. Sie springt auf, schleudert das Brett auf den Boden und läuft quer durch den großen, dunklen Raum. Sie findet nicht gleich die Tür in dem fremden Haus, und einen schrecklichen Moment lang glaubt sie, es gäbe keine, sie sei hier für immer gefangen. Doch dann stößt sie die schwere Tür auf und stürzt auf die Wiese, zu Kais verwaist dastehendem Auto. Der Wind ist noch stürmischer geworden, die Landschaft wirkt demgegenüber seltsam starr und unbewegt. Maria bleibt keuchend stehen, mit dem Rücken zum Haus.

Etwas stimmt nicht. Mit ihr. Etwas ist nicht richtig an dieser ganzen Situation. Jemand berührt sie an der Schulter, und sie macht vor Schreck einen Satz zur Seite. Es ist Kai, die neben sie tritt, ohne sie anzusehen. Sie legt ihre Hand auf Marias Nacken, eine der intimsten Berührungen, die sie sich je gestattet hat. Langsam beruhigt sich Maria. Unter Kais warmer Hand spürt sie, wie steif und kalt ihr Körper ist. Die Panik durchzieht sie in Wellen, die allmählich schwächer werden. Kai ist wie Medizin für sie.

»Leila macht sich Sorgen«, sagt Kai. Maria zuckt die Schultern. Leilas Gefühle sind ihr egal.

»Ich mir auch«, sagt Kai. Langsam wendet sie sich ihr zu und nimmt sie in den Arm, das zweite Mal seit jenem Abend, an dem sie sich kennen gelernt haben. Auch ihr Körper fühlt sich warm an, beinahe heiß.

»Sag mir, was es ist«, sagt sie.

Und Maria sagt es ihr. Sie hat schon früher mit Kai über ihre Mutter gesprochen, über die Abneigung, die sie in letzter Zeit empfindet, wenn ihre Mutter sie anfasst oder auch nur ein Gespräch sucht, das über die üblichen Mutter-Tochter-Informationen hinausgeht, über das Gefühl, dass ihre Mutter nicht mehr da ist für sie, obwohl der Augenschein dagegen spricht, über den Ärger, den Maria in solchen Momenten empfindet. Den ... Hass. Kai hat in solchen Momenten über Eltern an sich gesprochen und über die Anmaßung, die darin liege, zu glauben, sie seien fähiger, intelligenter oder lebenstüchtiger als ihre Kinder. Wir sind stärker, flexibler und lernfähiger als sie. Sie müssten bereit sein, von uns zu lernen. Ihre Erfahrung ist das Einzige, was sie glauben, uns voraus zu haben. Aber das ist lächerlich. Die Geschichte wiederholt sich niemals, auch wenn sie das behaupten.

Das ist ihre Einstellung. Sie klingt auf seltsame Weise durchaus vernünftig und besonnen, aber sie hat nichts mit Marias Problem zu tun. Ihre Mutter ist da und auch wieder nicht. Sie macht sich Sorgen um Maria und scheint gleichzeitig mit ihren Gedanken woanders zu sein. Sie ist wie ein Geist, der durch das Haus schwebt. Sie wird jeden Tag ungreifbarer. Manchmal wirkt sie wie durchsichtig. Man kann nicht mit ihr streiten. Man kann sich nicht auf sie verlassen. Ihr Lächeln ist unsicher, ihre Stimme wird immer leiser. Sie strahlt keine Stärke, keine Autorität aus. Vielleicht geht sie eines Tages, und dann bleibt Maria mit ihrem Vater zurück. Ihrem intelligenten Vater, den sie so bewundert und in dessen Gegenwart sie sich trotzdem nie wirklich wohl fühlt.

»Ich will nach Hause«, sagt sie, den Kopf an Kais Brust gelehnt. Ihr Pullover aus rauer Lambswool fühlt sich tröstlich an. Sie schließt die Augen und atmet Kais Geruch ein.

»Nein, Maria.« Sanft wiegt Kai sie hin und her. »Das wäre jetzt ganz falsch. Du musst mit uns darüber reden. Leila hat sehr viel Erfahrung mit solchen Sachen. Du kannst ihr vertrauen.«

Jedem traut Maria mehr als dieser Leila, aber sie will das Kai nicht sagen. Schließlich ist es eine Freundin von ihr, sie hat Maria extra hergebracht, damit sie sich kennen lernen... Sie muss Leila eine Chance geben. Langsam löst sie sich von Kai und geht zurück zum Haus. Jemand in ihr sagt, dass sie einen Fehler macht, dass die Geschichte zwischen Kai und ihr hier ein Ende haben sollte, aber sie hört nicht hin. Kai ist ihre Freundin. Sie kann ihr gar nichts Böses tun.