Kapitel 1

Milan Farkas lag mit offenen Augen im feuchten Gras und spürte, dass das Leben aus ihm entwich wie Gas aus einem defekten Ballon. Er glaubte, es zu hören. Ein leises, unheimliches Fffffhhhh. Es gab so viele brennende Schmerzherde an und in seinem Körper, er konnte sie gar nicht zählen. Mühsam versuchte er, den Kopf zu heben. Er suchte nach Licht, einer Spur von Wärme, einer tröstlichen menschlichen Stimme, aber um ihn herum waren nur Nacht und Kälte und ein bedeckter Himmel, der Mond und Sterne abschirmte. Milan wimmerte leise. Ihm war übel. Er hätte gern etwas gesagt, etwas gefragt, aber die Einsamkeit um ihn war total. Er wandte seinen Kopf nach links und sah den bewegten Schattenriss eines Menschen. Wieder wimmerte er. Er hatte keine Angst mehr, aber er fühlte sich so unendlich allein.

Der Mensch beachtete ihn nicht. Er stand mit dem Rücken zu ihm und war keuchend damit beschäftigt, ein Loch zu graben. Milan konnte das nicht sehen, aber er hörte das trocken schabende Geräusch, das entsteht, wenn sich eine Schaufel in harten Boden arbeitet. Langsam kam ihm die Erkenntnis, dass dieses Loch für ihn bestimmt war. Erde zu Erde. Er stöhnte entsetzt. Adrenalin schoss durch seine Adern und verlieh ihm trügerische Energie: Er setzte sich auf. Sofort begann der Schmerz wieder zu toben. Seine Stirn war im Nu schweißnass, ihm wurde schwindelig und schlecht. Rasch legte er sich wieder hin. Er begann nachzudenken, vielmehr: sich in rasender Geschwindigkeit alle Optionen vor sein inneres Auge zu rufen. Darin war er gut, das wusste er. Nur waren seine Handlungsmöglichkeiten derart eingeschränkt, dass man geradezu von ihrer Nichtexistenz sprechen konnte. Es waren rein hypothetische Überlegungen, die er sich da leistete, matt gesetzt und völlig wehrlos, wie er war.

Er konnte seinem Schicksal nicht entkommen. Noch einmal dachte er daran, wie verführerisch sein Verderben angefangen hatte. Der Gott der Liebe, dachte er ironisch, war in Wirklichkeit sein Todesengel gewesen. Diese Formulierung gefiel ihm; sie war poetisch und dramatisch. Er hörte das Rauschen hoher Bäume um sich herum. Ein leiser Windzug kühlte seine Wangen. Ihm wurde plötzlich ganz warm. Blutrote Schleier wallten vor seinen Augen; im Hintergrund erkannte er einen breiten, sich gegen Ende verjüngenden Lichttunnel. Noch einmal packte ihn die Angst vor dem, was nun kommen würde, egal, ob es nun entsetzlich oder wunderschön sein würde.

Freunde tauchten vor ihm auf. Sie sagten: Hey, Milan, Alter, ist ja total scheiße gelaufen bei dir, tut mir echt Leid. Ich muss weiter, ich hab diese krasse Sache am Laufen, totales Risk, aber maximale Möglichkeiten, bist du noch mit der Alten zusammen? Zahlt sie gut? Er sah seine Mutter, diese fiese, fette Kuh, die ihn verprügelte, um sich anschließend in ihrem Selbstmitleid zu suhlen. Milan, mein Junge, ich will doch nur, dass du mal hier rauskommst aus diesem Loch. Ich liebe dich, aber wenn du nicht wärst - man sieht's nicht mehr, aber ich war damals die schärfste Braut im Viertel, ich hätte jeden haben können, aber dann fall ich auf deinen Vater rein, dieses Schwein, diesen Lügner... Er hatte alte Fotos von ihr gesehen, scharfe Braut, guter Witz! Fett war sie schon immer gewesen mit viel zu großen Brüsten und gefärbter blonder Mähne.

Schließlich sah er Karin B. So hatte er sie genannt, Karin B. Ihre Liebe war sein Tod, so einfach war das. Liebe konnte mörderisch sein. Er war ihr nicht mehr böse. Er war kurz davor, sich damit abzufinden. Ihr Bild verschwamm, und ein letztes Mal riss er die Augen auf, versuchte, sich an etwas Lebendigem zu orientieren - irgendetwas, und sei es nur ein Grashalm. Aber die Welt um ihn herum war pechschwarz. Er glaubte, jemanden neben sich zu spüren, er versuchte, etwas zu sagen, aber kein Laut verließ seine Kehle. Er wusste, ohne es wahrhaben zu wollen, dass es keinen Weg zurück gab und dass jetzt die Zeit gekommen war, Abschied zu nehmen. Langsam kamen ihm die Tränen. Er nahm es ihr und all den anderen nicht übel, er wollte nun ihr und all den anderen verzeihen: Vielleicht würde diese noble Geste Gott rühren und ihn noch einmal umstimmen. Aber Gott ließ sich nicht bestechen. Er bestand darauf, dass sich Milan auf den Weg ins Licht machte, in eine schöne oder entsetzliche Zukunft, ganz wie es Gott gefiel. Milan lächelte nun trotz seiner Schmerzen und ließ endlich los. Der Tunnel war inzwischen ganz nah.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Eine Studentin. Wohnt gegenüber von den Belolaveks bei ihren Eltern. Kam um vier nach Hause.«

»Zu Fuß?«

»Mit dem Auto«, sagte der Polizist. »Sie hat ihn bloß zufällig auf dem Gehweg liegen sehen. Sie hat angehalten und...«

Er verstummte, weil er merkte, dass sie ihm nicht zuhörte. Warum war Bauer da draußen gewesen, ging es ihr durch den Kopf. War er Farkas dorthin gefolgt? Hatte der ihn zum Grundstück der Belolaveks gelockt, um ihn dort umzubringen? Aber warum? Und was hatte Farkas sonst dort gewollt? Hatte er in Wahrheit mehr mit dem Mord an Thomas Belolavek zu tun, als er ihr gegenüber zugegeben hatte? Hatte er sie tatsächlich nur angelogen, wie Wilhelm Kaiser von Anfang an behauptet hatte? Mona stützte den Kopf in die Hände. Alles schwarz, hoffnungslos schwarz. Bauer sei schwer verletzt, hatte ihr eine der OP-Schwestern mitgeteilt. Innere Blutungen. Leber, Lunge, Milz sind geschädigt. Wir schauen halt, was wir tun können. Der Dienst habende Arzt, mit dem sie anschließend sprechen konnte, hatte erschöpft gewirkt, als sei er schon seit vielen Stunden auf den Beinen. Er hat viel Blut verloren. Schlechter Allgemeinzustand übrigens. Geschwächt und zu mager für seine Größe.

Es war halb sechs Uhr morgens, die Notaufnahme war jetzt fast leer. Von irgendwoher hörte man gedämpftes, qualvoll langes Husten. Ein Rollbett stand auf dem Gang, als hätte es jemand dort vergessen. Darin lag eine alte stumme Frau, eine kaum sichtbare Erhebung unter einer dünnen weißen Decke. Niemand sah nach ihr, niemand kümmerte sich um sie. Vielleicht lebte sie gar nicht mehr.

Mona war schuld. Sie hatte Bauer allein losgeschickt, obwohl Observierungen der Regel nach nur zu zweit erledigt wurden. Sie war schuld, sie würde für ihren Fehler bezahlen müssen. Zu Hause lag ihr Sohn allein in hoffentlich tiefem Schlaf. In einer halben Stunde war es sechs, dann konnte sie bei Lin anrufen und sie bitten, Lukas zu holen, damit er wenigstens ein Frühstück bekam. Mona dachte, dass es ihr schlechter nicht mehr gehen konnte. Bauer war zu jung und zu unerfahren für diese Aufgabe gewesen, und sie hatte das gewusst. Wenn er jetzt starb, war sie dafür verantwortlich.

Der Polizist, der die Aussage der Studentin aufgenommen hatte, räusperte sich. Mona sah hoch, direkt in sein kindlich eifriges Mondgesicht.

»Kann ich dann gehen?«, fragte er. »Ich hab noch zwei Stunden Dienst.«

»Ja. Sicher. Du musst ein Protokoll schreiben, das weißt du ja.«

»Bei Dienstschluss um acht. Wer kriegt das?«

»Ich. Und KD Berghammer.«

»KD...«

»Berghammer. Leiter vom Dezernat 11.«

Und wer noch alles? Das würde sich erweisen. Vielleicht beim Disziplinarverfahren, das man ihr anhängen würde.

»Also, dann geh ich jetzt.«

»Ja, sicher.«

Aber der Polizist zögerte noch. »Alles klar mit dir? Ich meine...«

»Du kannst ruhig gehen«, sagte Mona. »Bei mir ist alles in Ordnung.«

Am anderen Ende des Ganges sah sie zwei Männer, einer im Mantel mit wehenden Schößen, einer in Lederjacke auf sich zukommen. Es waren Berghammer und Fischer. Sie schloss kurz die Augen und wappnete sich. Dann sah sie ihnen gefasst entgegen.

»Wie geht's ihm?«, fragte Berghammer.

»Sie operieren gerade. Schwere innere Verletzungen. Sie wissen nicht, ob sie ihn durchbringen.«

Berghammer nickte, ohne Mona anzusehen. Schwerfällig setzte er sich auf einen der Klappstühle neben ihr. Das Neonlicht ließ seine sonst schwammigen Züge schärfer und klarer erscheinen. Vielleicht hatte er auch ein paar Pfund abgenommen. Fischer blieb vor ihnen beiden stehen, mit undefinierbarem Gesichtsausdruck. Das war seine Chance, sie zu beerben. Wenn er auf ihren Posten scharf war, bot sich jetzt eine erstklassige Gelegenheit.

Und wenn schon.

»Der Auftrag kam von mir«, sagte Mona, bevor Berghammer fragen konnte.

»Der Auftrag wofür?«

»Bauer sollte Farkas observieren. Wir hatten keine Leute frei, das hast du selber gesagt, und wir kommen anders nicht weiter, wir...«

»Ist schon gut. Also, du schickst ihn allein los, Farkas zu überwachen, und was dann?«

»Ja.«

»Und dann? Hat er sich zwischendrin gemeldet?«

»Nein. Keine Ahnung, was los war. Wir hatten ausgemacht, er meldet sich. Ich hab zweimal versucht, ihn anzurufen, aber sein Handy war entweder aus oder kaputt oder was weiß ich. Ich hab jedenfalls keinen Empfang bekommen.«

»Vielleicht war er grade an ihm dran und hat's deshalb ausgeschaltet«, sagte Fischer plötzlich. Sein Ton war weder mürrisch noch aggressiv, sondern einigermaßen sachlich. Mona fühlte sich eine Spur erleichtert.

»Wir hatten Vibrationsalarm vereinbart«, sagte sie.

»Aha«, sagte Berghammer.

»Wir hatten vereinbart, dass Bauer, sollte er gerade nicht reden können, sein Handy vibrieren lässt, bis die Mailbox anspringt, und mich dann zurückruft, sobald er wieder kann.«

»Warum hat er sich nicht von selber mal gemeldet?«

»Weiß ich nicht.«

»Du hast keine Ahnung, was passiert ist«, fasste Berghammer zusammen. Er nickte vor sich hin, als sei nun alles klar.

»Nein, keine.«

Nichts war klar, und Berghammer schien, ein seltenes Ereignis, nicht mehr recht weiterzuwissen. Er bewegte sich unbehaglich auf dem für seine Figur zu schmalen und klapprigen Stuhl. Ein Arzt kam aus der Notaufnahme und blieb bei ihnen stehen. »Sie sind die Kollegen von Herrn Bauer?«

»Was ist mit ihm?«, fragte Mona. Ihr Herz begann zu hämmern, von Sekunde zu Sekunde unangenehmer und schmerzhafter, so als würde es unaufhörlich wachsen und irgendwann den Brustkorb sprengen.

Der Arzt sah sie prüfend an. »Ich hab mal ein Praktikum in Chicago in einer No-Go-Area gemacht«, sagte er. »Da hatte die Hälfte der Patienten unter fünfundzwanzig solche Wunden. Die andere hatte Schussverletzungen.«

»Was für Wunden?«

»Messerstiche. Ein kleines, scharfes Messer, die Klinge war vielleicht zehn Zentimeter lang. Der Täter hat gut getroffen, zwischen den Rippen durch. Ist gar nicht so einfach.«

»Wie geht's ihm?«, fragte Berghammer mit scharfem Unterton in der Stimme.

Der Arzt ließ sich nicht beirren. »Kann hier noch keiner sagen. Er kriegt Blutkonserven. Wir müssen sehen, wie sich die Organe regenerieren. Nach der OP kommt er auf die Intensiv.«

»Wird man mit ihm reden können?«, fragte Fischer.

»Erst mal nicht. Bitte halten Sie sich dran. Haben Sie die Telefonnummer seiner Eltern? Frau oder Freundin?«

»Eltern«, sagte Mona. Sie kramte einen Zettel aus ihrer Tasche und reichte sie dem Arzt. Der steckte sie in seine Kitteltasche und ging. Er sah nicht so aus, als würde er sich sofort auf die Suche nach dem nächsten Telefon machen.

»Wir müssen eine Großfahndung nach Farkas einleiten«, sagte Berghammer. Er stand auf und dehnte sich.

»Ja«, sagte Mona. Sie stand ebenfalls auf, obwohl sie am liebsten sitzen geblieben wäre, so lange, bis sie wusste, was mit Bauer sein würde. Es gab nichts Wichtigeres im Moment als die Gewissheit, dass Bauer wieder gesund werden würde. Wenn nicht, wäre alles vorbei für sie. Ihr Beruf, ihre Karriere, ihre ganze Arbeit, für die sie so viel geben und so viel einstecken musste und die sie dennoch liebte. Aber vielleicht wäre ein Schlussstrich sogar das Beste.

Für sie. Und für die Allgemeinheit.

»Du kannst nicht hier bleiben«, sagte Berghammer. »Tut mir Leid.«

»Ich weiß.«

»Wir müssen die Fahndung...«

»Ich weiß. Aber kann nicht einer von der Schupo kommen?«

»Hab ich schon veranlasst«, sagte Berghammer. »Wir halten hier Kontakt. Wir erfahren alles, was - äh - passiert.« Langsam gingen sie zu dritt auf den Ausgang zu. Draußen war es neblig und kalt. Gelbbraune Blätterhaufen lagen auf der Kastanienallee vor der Klinik.

»Kann ich dich mitnehmen?«, fragte Berghammer.

»Danke, ich bin mit meinem Wagen da.«

»Okay. Bis gleich.« Fischer und Berghammer gingen zu Berghammers Auto, das er auf dem Parkplatz neben der Notaufnahme abgestellt hatte, obwohl den nur Angestellte des Krankenhauses benutzen durften.

»Martin!« Mona lief hinter ihnen her. Berghammer drehte sich überrascht um. Mona blieb vor ihm stehen, trotz der Kälte mit erhitzt roten Wangen.

»Wird das... Wirst du mich...«

»Nein«, sagte Berghammer nur.

»Also...«

»Es gibt kein Nachspiel, Mona, du bist weiter dran. Bei Nachfragen nehm ich das auf meine Kappe. Wir haben dem Fall zu wenig Luft gegeben, das war nicht bloß deine Schuld.«

»SoKo Vanessa...«

Berghammer lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen. »Wir haben ihn gestern Abend geschnappt. Bei den DNA-Reihenuntersuchungen war er dabei. SoKo Vanessa wird heute oder morgen aufgelöst. Jetzt hat dein Fall Hauptpriorität.«

»Das ist...«

»Aber mach das nie wieder, solche Extratouren. Und das mein ich ernst, Mädchen.«

»Mach ich nicht. Aber dann muss sich was ändern.«

»Was meinst du damit?«

»Wir müssen alles probieren, alles. Wir müssen noch mal von vorn anfangen. Die Zeugen befragen und so weiter. Alles noch mal von vorn.«

»Von vorn? Und dann?«

»Einen dieser Insektenforscher. Er kann vielleicht den Todeszeitpunkt bestimmen. Ich will, dass wir einen von ihnen engagieren.«

Berghammer und Fischer verharrten an den offenen Wagentüren und sahen sie an, als hielten sie sie für nicht ganz normal.

Schließlich stieg Fischer ein. Berghammer blieb stehen. »Wie du meinst«, sagte er schließlich.