Kapitel 15
Marias Leben verändert sich mit einer Geschwindigkeit, die sie in stillen Stunden atemlos macht. Von der Schule mit ihren Anforderungen abgesehen, existiert nichts mehr für sie außer Kai und die geheimnisvolle Welt, in die sie sie einführt. Sie lernt jeden Tag Neues dazu. Sie liebt Kai, die wie sie nicht hierher gehört. Sie berühren sich kaum. Sie seien Seelengeschwister, sagt Kai, sie seien auf spirituelle Weise miteinander verbunden.
Kai schnallt ihre Räder auf ihren alten Polo und fährt mit ihr in Gegenden, die Maria bislang nicht einmal vom Hörensagen kannte. Verzauberte Regionen voller natürlicher Magie. Kai scheint jeden Winkel zu kennen, und das seit langer Zeit. Sie muss nie nach dem Weg fragen und nie eine Karte konsultieren. Mit ihren Mountainbikes radeln sie an Wasserläufe, so entlegen, dass man sie erst sieht, wenn man schon fast hineingefallen ist, und zu geheimnisvoll modrigen Erdhöhlen, verdeckt von dichtem, dornigem Buschwerk.
Dort rufen sie Geister wie den Kobold Puka, der sich in Tiere verwandeln kann und auf diese Weise Menschen an der Nase herumführt. Sie kommunizieren mit Waldnymphen, die unsichtbar bleiben müssen, weil sie so schön sind, dass man ihnen sonst in die tiefsten Tiefen von Seen und Flüssen folgen würde. Die Natur, lehrt Kai Maria, ist voller Mysterien, die man nutzen kann. Sie bringt ihr bei, die flüsternden Stimmen der Geister aus dem Rauschen der Bäume, dem Windhauch über den Gräsern heraus zu filtern. Die Geister erzählen von jahrtausendealten Bräuchen im Reich zwischen der sichtbaren und der toten Welt, von gefährlichen Verstrickungen jener, die sich nicht an die Regeln dieses magischen Universums halten wollten, von verbotenen Lüsten und tödlicher Wissbegier.
Maria ist erst skeptisch, dann fasziniert. Sie glaubt die Geister zu hören und stellt ihnen Fragen über die Zukunft, die sie beantworten oder auch nicht. Ihre Fantasie treibt die üppigsten Blüten, und die Welt um sie herum, nicht nur die, die sie durch Kai kennen lernt, wird plötzlich farbig und spannend. Sie sieht und spürt Dinge, die normale Menschen nicht wahrnehmen. Sie hört Gedanken, die nicht die ihren sind. Sie durchschaut alle Lügen. Sie fühlt sich unbesiegbar.
Nachdem sie sich einen knappen Monat lang kennen, nimmt Kai sie zum ersten Mal zu einer Freundin mit. Bislang haben sie ihre Zeit zwischen Hausaufgaben und Abendessen immer nur zu zweit verbracht. Maria hat, wovon ihre Eltern nichts ahnen, die Kontakte zu all ihren anderen Freunden praktisch eingestellt. Es gibt niemanden, der sie so interessiert wie Kai. Es gibt niemanden, von dem sie so viel weiß und den sie andererseits so wenig kennt. Ohne Kai kann sie nicht mehr sein.
»Ich möchte dich jemandem vorstellen«, sagt Kai eines Tages. Sie sitzen in ihrem Auto, wie so oft, und Kai sieht Maria von der Fahrerseite aus forschend an, so als wollte sie sich noch einmal vergewissern, ob Maria es wirklich wert ist, eine Person kennen zu lernen, die ihr wichtig ist. Maria erwidert Kais Blick mit großen Augen. Sie ist nicht aufgeregt, nur gespannt auf das, was heute zum ersten Mal passieren wird. Nie in ihrem Leben hat sie sich so sicher und gut gefühlt wie in Kais Gegenwart. Kai scheint all ihre Gedanken zu akzeptieren und zu verstehen. Sie ist nie schockiert, nicht einmal über ihre abwegigsten Ideen.
Kai startet den Wagen ohne ein weiteres Wort. Niemand sieht sie und Maria, denn Kai parkt nie direkt vor Marias Haus, sondern immer eine Straße weiter. Kai will ihre Eltern nicht kennen lernen. Eltern sind in ihren Augen eine überflüssige Belastung, sobald man die Geschlechtsreife erreicht hat. Sie selbst spricht auch kaum über ihre Eltern. Es ist, als gäbe es sie nicht. Allerdings kennt Maria, die ihr einmal heimlich gefolgt ist, ihre Adresse: ein enttäuschend normales, sogar recht hübsches Haus im selben Viertel wie sie, nur zehn Radminuten von ihrem Zuhause entfernt. Im Garten schnitt ein Mann mit kräftigen grauen Haaren an einem Busch herum. Auf dem Türschild steht Lemberger.
Kai Lemberger. Maria würde ihr das nie erzählen. Es würde alles zerstören.
»Wo fahren wir hin?«, fragt sie, obwohl sie mittlerweile weiß, dass Kai solche Fragen nicht beantwortet. Kai sagt nichts, und sie sieht aus dem Fenster. Es ist ein windiger, sonniger Frühsommertag. Altes gelbes Laub vom letzten Herbst fegt über die Straßen der Siedlung. Marias letzte unbeschwerte Monate sind angebrochen, aber das ahnt sie noch nicht. Die Unglücksboten, das wird sie später sehen, stehen bereits vor der Tür, aber sie haben ihre Gesichter maskiert, und Maria erkennt sie nicht.
Sie fahren aus der Stadt hinaus in Richtung Norden. Kai sagt wenig, wie immer, wenn sie am Steuer sitzt. Maria ist das gewohnt, und dennoch vermisst sie zum ersten Mal während ihrer intensiven Bekanntschaft ihre anderen Freundinnen. Besonders an Jenna muss sie plötzlich denken. Jenna mit den dunklen Locken und dem Mundwerk, das nie stillsteht. Sie spielt keine Rolle mehr in Marias Leben, sie grüßen sich kaum noch. Von anderen hat Maria aber gehört, dass Jenna vielleicht nach diesem Schuljahr, also schon im kommenden Herbst, auf ein Internat gehen wird. Es hat ihr einen Stich versetzt, eine kleine, brennende Wunde, die sie beharrlich ignoriert.
Kai verlässt die Autobahn und folgt einer kleinen, schlecht geteerten Straße, die sich kilometerweit durch Maisfelder zieht. Die Landschaft wirft hier seltsam erstarrte Wellen, riesige Strommasten stehen mitten in den Feldern wie Mahnmale. Am Himmel türmen sich weiße Wolkengebirge, in der Ferne sieht man einen Gewitterguss niedergehen. Kai biegt auf einen schmalen, holprigen Feldweg ab. Sie fährt schnell und ohne Rücksicht, der schlecht gefederte Wagen hüpft über Stock und Stein, einmal stößt Maria mit dem Kopf beinahe an der Decke an.
Aber sie beschwert sich nicht. Das alles gehört zu ihrem Abenteuer.
Eine halbe Ewigkeit geht das so weiter, dann schließlich kommen sie an einem baufällig aussehenden Holzhaus vorbei. Kai schlägt scharf rechts ein, und sie bleiben abrupt auf einer ungepflegten Grasfläche voller Maulwurfshügel stehen. »Wir sind da«, sagt sie. Maria antwortet nicht. Eine leichte Übelkeit hat von ihr Besitz ergriffen. Sie öffnet mit zitternden Händen die Beifahrertür und steigt aus.
Draußen greift kühler Wind nach ihren Haaren. Sie nimmt sich eine Strickjacke aus dem Fond des Wagens und hüllt sich hinein. Dann schlägt sie die Tür zu und sieht sich suchend um. Kai hat nicht auf sie gewartet, sondern befindet sich bereits auf dem Weg zum Haus. Maria folgt ihr, ohne nachzudenken. Sie ist Kais wegen hier, sie wird wissen, was zu tun ist.
Das Haus ist in besserem Zustand, als es vom Auto aus wirkte. Es ist zwar alt, aber es sieht bewohnbar aus. Das Holz der Wände ist grau und verwittert, aber intakt. Maria holt Kai kurz vor der Tür ein. Kai beachtet sie nicht, sondern betätigt einen glänzend polierten Messingklopfer. Das laute Pochen lässt die schwere Tür erzittern und scheint sich bis ins Innere des Hauses fortzupflanzen.
Nach ein paar Sekunden öffnet ihnen eine sehr schlanke Frau, die vielleicht dreißig oder noch älter ist. Sie trägt Jeans, ein langes schwarzes Hemd und darüber einen breiten Ledergürtel mit einer großen, mit türkisfarbenen Steinen besetzten Silberschnalle. Sie hat brennend rot gefärbte kurze Haare. Aber das Auffälligste an ihr sind die Augen. Sie sind groß, umrahmt von Kajal und schwarz getuschten Wimpern und von einem so hellen Blau, dass ihr Blick wie der einer Blinden wirkt: leer und gleichzeitig unangenehm stechend.
»Kommt rein«, sagt sie zur Begrüßung. Sie umarmt Kai und übersieht Maria.
»Stören wir dich?«, fragt Kai.
»Nein.« Sie geht voraus in ein geräumiges Zimmer voller Kissen und Polster. Es gibt einen niedrigen braunen Holztisch voller Schnitzereien, aber keinen Stuhl. Die Überzüge sind orientalisch gemustert, die Fenster halb zugehängt mit silbrig durchwirkten Tüchern.
»Setzt euch«, sagt die Frau und nimmt eine Teekanne vom Tisch. Noch immer hat sie Maria nicht angesehen. Kai tritt neben Maria und nimmt sie am Arm. »Leila?«
Die Frau dreht sich um, mit unwilligem Gesichtsausdruck.
»Leila, das ist Maria, meine Freundin. Maria - Leila.« Maria sagt leise »Hallo, Leila« und lächelt sie an. Ihr ist völlig egal, ob diese Vogelscheuche sie mag oder nicht, aber sie spürt, dass Kai die Sache wichtig ist.
»Hi«, sagt Leila, die Teekanne in der Hand. »Was will sie hier?«, fragt sie, an Kai gewandt.
»Sie hat Power«, sagt Kai.
Farkas sah nicht so aus, als ob ihn die Nacht im Gefängnis mürbe gemacht hätte. Ein Beamter in Uniform brachte ihn ins Vernehmungszimmer, wo Mona, Bauer, Fischer und im Hintergrund eine Protokollantin warteten. Farkas setzte sich mit einer so ungezwungenen Miene auf den ihm zugewiesenen Stuhl, als sei er zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Kein Schatten eines Vierundzwanzig-Stunden-Bartes, keine trüben Augen, die von schlechtem Schlaf auf einem engen, harten Pritschenbett zeugten. Stattdessen wirkte er so frisch wie nach einer ausgiebigen Dusche und einer gründlichen Rasur.
»Ich will einen Anwalt«, sagte Farkas, kaum dass er Platz genommen hatte.
»Kein Problem«, sagte Mona. »Sie haben das Recht auf einen Pflichtverteidiger, der Ihre Interessen wahrnimmt. Oder wollen Sie Ihren eigenen Anwalt verständigen?«
Farkas zögerte. Natürlich war allen Beteiligten klar, dass er keinen Anwalt hatte. »Wann kann der hier sein? Der Typ, von dem Sie gerade geredet haben?«
Mona lehnte sich zurück. »Oh, in ein, zwei Stunden. Wir können hier so lange sitzen, wenn Sie wollen. Oder ich lasse Sie zurückbringen in Ihre Zelle.«
Farkas senkte den Kopf. Die Vorstellung, einen weiteren Vormittag hier oder im Gefängnis zu verbringen, machte ihm nicht gerade Laune. Schließlich sagte er: »Fragen Sie schon!«
»Wir können anfangen?«
»Von mir aus. Bringt Ihnen eh nichts.«
»Sie kennen Karin Belolavek seit wann?«
Farkas zögerte. »Seit der Lesung in der JSA«, sagte er dann.
»Wie kam es zum Kontakt?«
Farkas wischte sich mit der rechten Hand über das Gesicht. Mona las in ihm wie in einem Buch. Sie hatten ihn überrumpelt, und jetzt gab es keinen Weg mehr zurück. Es ging ihm zu schnell, er hatte sich nicht richtig vorbereitet, er wusste nicht, was er sagen durfte und wie viel. Umständlich zog er seine Lederjacke aus und hängte sie über seine Stuhllehne. Er tat das, um Zeit zu schinden, aber es wirkte wie eine freiwillige Entwaffnung. Vor ihnen saß nun ein Junge mit schmalem Goldkettchen um den Hals, gut aussehend, teuer angezogen, selbstsicher. Aber eben doch ein Junge, trotz seiner dreiundzwanzig Jahre. Einer von vielen, die Mona und Fischer hier schon sitzen hatten, als Täter, als Opfer, als Zeugen. Aber egal, welchen Part sie übernahmen - so oder so musste man ihnen fast jede Information mühsam entwinden, und nicht selten scheiterten sinnvolle Ermittlungsarbeiten an hartnäckigem Schweigen oder beredten Nonsens-Geschichten voller unfreiwillig komischer Widersprüche. Mona hatte sich einmal mit Berghammer über die Frage unterhalten, warum die meisten Befragten sich nicht einmal die Mühe gaben, mit einem Minimum an Fantasie und Intelligenz zu lügen.
Es ist ihnen egal, hatte Berghammer gesagt. Erwischt zu werden gehört mit zum Spiel. Welches Spiel, hatte Mona gefragt. Keine Ahnung, hatte Berghammer geantwortet. Sicher ist nur, dass sie nicht mehr aussteigen können. Alles, was bei denen zählt, ist ihr Kodex. Keine freiwillige Kooperation. Unter keinen Umständen.
»Also, die Lesung«, sagte Mona. »Was passierte da?«
»Weiß ich nicht mehr so genau.«
»Dann erzählen Sie genau das, was Sie noch wissen. Okay? Von Anfang an.«
Farkas tat so, als ob er nachdachte. »Also, da war diese Frau - diese Schriftstellerin. Die hat aus ihrem Buch gelesen. Vorher gab's noch eine Rede vom Chef.«
»Wilhelm Kaiser, Chef der JSA?«
»Ja, der. Der hielt also 'ne Rede. Dann hielt sie 'ne Rede.«
»Die Schriftstellerin?«
»Ja. Carolin Irgendwas. Weiß nicht mehr, wie die hieß. Wir saßen jedenfalls alle da und hörten zu. Es waren sehr viele Leute da. Bestimmt an die sechzig.«
»Ja. Und?«
»Das ging 'ne knappe Stunde oder so. Dann hörte die wieder auf zu lesen, und wir sollten Fragen stellen.«
»Haben Sie Fragen gestellt?«
»Ich nicht. Ein paar Leute schon. Mir ist keine eingefallen. Dann hat ihr einer von uns einen Strauß Blumen auf die Bühne gebracht. Weiß nicht mehr, wer das war. Dann gab's was zu essen.«
»Und bei der Gelegenheit sind Sie mit Karin Belolavek ins Gespräch gekommen.«
Farkas antwortete nicht. Er räkelte sich in seinem Stuhl, als wollte er die Sache spannender machen. Schließlich sagte er: »Ich will nicht, dass die beiden da dabei sind. Wenn die dabei sind, erzähl ich nichts.« Er zeigte auf Bauer und Fischer. Fischer, in dem schon die ganze Zeit sichtbar der Zorn brodelte, herrschte ihn an: »Bild dir ja nichts ein. Hier machen wir die Bedingungen.«
»Ganz ruhig«, sagte Mona. Sie überlegte. »Geht raus«, sagte sie dann. »Beide.«
»Du spinnst!«, rief Fischer. »Das ist gegen die Regeln! Das machen wir nie so!«
»Geht raus. Beide.« Mona sah Fischer an. Sie wusste, was sie tat und dass Berghammer das erfahren würde. Sie verteidigte sich in Gedanken. Es war eine enorm wichtige Vernehmung. Vielleicht gab es eine Chance.
Fischer war gut in einer bestimmten Sorte von Vernehmungen, aber wenn es um Liebe ging, würde Farkas einer Frau im gleichen Alter wie Karin Belolavek mehr erzählen. Sie hätte auch Bauer gerne dabehalten, denn Bauer war unaggressiv, sensibel und so alt wie Farkas - er und Mona hätten ein Paar abgegeben, das wie ein Spiegelbild der Konstellation Farkas - Belolavek hätte wirken können. Aber es war sinnlos, das Fischer jetzt zu erläutern, solche Argumente würden ihn erst recht zornig machen. Sie hätte früher daran denken und vorab mit ihm reden sollen. Am besten gestern Abend, anstelle der Exkursion zu Farkas' Wohnung, die auch noch beinahe böse ausgegangen wäre. Mona fasste sich an den Hals, den ein Rollkragenpullover bedeckte und der immer noch schmerzte.
Auch ohne Erklärungen war es schlimm genug. Fischer stand auf, knallte seinen Stuhl gegen die Wand und verließ ohne ein Wort den Raum. Bauer trottete mit unglücklichem Gesicht hinter ihm drein, wobei ihm Fischer beinahe die Tür ins Gesicht schlug. Die Protokollantin zuckte zusammen.
Farkas sah zufrieden aus.
»Jetzt aber raus damit«, sagte Mona.
Farkas hatte nie eine strenge, aber gerechte Mutter gehabt, und vielleicht sehnte er sich nach einer - nach jemandem, der ihm endlich vernünftige Grenzen setzte. Vernehmungen waren Rollenspiele. Man musste sich in die Befragten hineinversetzen, genau den Ton finden, der sie zum Reden brachte. Die strenge, aber gerechte und letztlich vertrauenserweckende Mutter zu geben gehörte zu Monas Standardrepertoire und war meistens wirksam.
Auch in diesem Fall. Farkas hatte diese Mischung aus Trotz und Schuldbewusstsein im Blick, die zeigte, dass es wirkte.
»Ich warte«, sagte Mona. »Du hast hier einen Mordswirbel veranstaltet, alle sind stinksauer auf dich und mich. Ich hoffe, das lohnt sich für uns beide.«
»Wieso duzen Sie mich plötzlich? Ich mag das nicht.«
»Du kannst dich gern beschweren.«
Farkas schwieg.
»Wenn du dich beschweren willst, kann dir die Protokollantin ein Formular holen.«
Farkas schwieg.
»Also gut«, sagte Mona nach einer Pause. »Karin Belolavek. Sie hat dich nach der Lesung angesprochen, nehme ich mal an.«
»Ja.« Mehr ein Seufzer als ein Wort: Sie hatte gewonnen. Fürs Erste.
»Wie ist das abgelaufen?«
»Wir standen an diesem Tisch, wo es Cracker, Saft, Limo und so Zeug gab. Die Saftbar. Also, ich stand hinter der Saftbar und habe ausgeschenkt. Das war mein Job. Und sie stand davor. Und sie hat gesagt: Einen Orangensaft, bitte.«
»Und? Dann?«
»Sie hat mich so angelächelt.«
»Ja? Wie?«
»So - schüchtern. Als ob sie sich was aus mir macht, nur aus mir, nicht aus den anderen. Ich hab ihr gesagt, dass ich sie hübsch finde... Da wurde sie ganz rot.«
»Und das fandst du... irgendwie süß?«
Farkas sah Mona an, zum ersten Mal an diesem Morgen. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, das Trotzige war daraus verschwunden. »Ja«, sagte er. »Ich fand sie echt süß.«
Der Anfang. Allem Anfang wohnt ein Zauber inne... Ich habe mich als Erstes in deinen Gesichtsausdruck verliebt. Du hast mich angesehen, als sei ich kostbar und einzigartig. Du wirktest, als ob du offen für alle wunderbaren Gefühle seist, neugierig auf das Leben, die Liebe und auf mich. Ich glaubte zum ersten Mal vor einem Mann kein Theater spielen zu müssen. Die Männer, die ich vor dir hatte - besonders mein Mann -, hatten schon in jungen Jahren diese Härte, diese Kälte, diese ängstliche Distanz in den Augen. Lenk mich nicht ab, ich habe Wichtiges zu tun. Sie sagten es nicht direkt, aber ich habe sie immer verstanden: wenn sie sich viel zu früh aus einer Umarmung zurückzogen, wenn sie unwillig den Kopf wegdrehten, um nicht geküsst zu werden. Lustschreie mussten hübsch gedämpft sein, um sie nicht aus dem sexuellen Konzept zu bringen, Kritik ertrugen sie nicht, Komplimente machten sie misstrauisch.
Weißt du, was das Schlimmste an unserer Beziehung ist? Dass es nach dir für mich keinen anderen Mann mehr geben kann. Ich meine, wo sollte ich anfangen, nach jemandem wie dir zu suchen? In Jugendstrafanstalten? Entschuldige, ich will diesen Gedanken nicht weiterführen. Er ist geschmacklos, ich hasse mich dafür.
Ja, es wird ein Danach geben, ich kann mir nicht länger vormachen, dass ich es nicht weiß. Jede große Liebe will die Ewigkeit und stößt doch immer wieder auf die Endlichkeit aller Gefühle. Ich weiß, eines Tages wirst du gehen oder ich, und wir werden das nicht »in aller Freundschaft« tun. Unsere Trennung wird schrecklich sein, eine auf Leben und Tod, denn wir sind so weit gegangen, dass sich unsere Schicksale unentwirrbar ineinander verhakt haben. Der letzte Tag wird kommen, und wir werden beide bluten für unser Vergehen. Wenn es denn eins ist. Ist es statthaft, wegen einer Obsession die eigene Familie vollkommen in den Hintergrund zu verbannen und seinem eigenen Mann nicht mal mehr die Chance einer erneuten Annäherung zu geben? Die Antwort, sage ich mir immer häufiger - dann, wenn ich mich selbst quälen will -, liegt doch schon in der Frage. Ich hatte nie ein Recht, es so weit kommen zu lassen. Ich hatte dagegen jede Möglichkeit, alles rechtzeitig im Keim zu ersticken. Dann könnte der verheißungsvolle Anfang heute eine schöne, nostalgische Erinnerung sein, so ähnlich wie gepresste Rosenblätter in einem Poesiealbum. Süß und ein wenig ältlich duftend und für niemanden gefährlich.
Ich spreche nicht mit dir über diese Grübeleien. Du reagierst empfindlich auf jede Äußerung, die so etwas wie Zweifel beeinhaltet. Du verlangst von mir das, was auch eine jüngere Frau von ihrem älteren Liebhaber verlangen würde: souveräne Sicherheit in jeder Situation. Du wirst aggressiv, wenn ich Verzagtheit zulasse, und damit ist der Beweis erbracht, dass ich auch in deiner Gegenwart bestimmte Gefühle unterdrücken muss. Das ist nicht nur schlecht. Es diszipliniert mich. Ich verstehe plötzlich, wie es Männern zu Mute sein muss, die abhängige Frauen haben. Sie können sich an ihrer Seite stärker fühlen, als sie sind, und dafür zahlen sie willig den hohen Preis, nicht schwach sein zu dürfen, außer wenn sie krank sind.
Man muss seinen Ausstieg langsam vorbereiten, vielleicht gelingt es dann, die Katastrophe doch noch zu vermeiden. Ich beginne damit, die Realität außerhalb unseres Kokons wieder wahrzunehmen. Ich versuche es zumindest und merke mittendrin - wenn ich koche, einkaufen gehe, mich an Diskussionen beteilige -, wie alle meine Gedanken und Gefühle aufgesogen werden von einem Vakuum, das ich nicht benennen kann. Ich denke nicht einmal bewusst an dich und mich, aber ich kann mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Mein Alltag ist wie ein endloser, mühsamer Hürdenlauf, den ich kaum noch bewältige, weil mir der tiefere Sinn all dieser Anstrengungen abhanden gekommen ist. Wozu leiste ich das alles, wer liebt mich dafür und warum?
Ich weiß es nicht mehr. Ich habe Angst. Vor dir, vor mir, vor der Strafe, die mich als Frau ereilen wird, wenn irgendwann doch alles von uns beiden bekannt wird, jedes schmutzige Detail. Wenn wir uns sehen, stürze ich mich auf dich, ersticke dich mit Umarmungen, errege dich und mich, um wieder in diesem Strudel unterzugehen, in dem nur wir beide überleben. Mein Körper trägt deine Male, ich kann sie kaum noch verbergen, und es gibt diese fatale Begierde, sie jemandem zu zeigen - damit anzugeben. Ich muss das beenden, denn sonst tue ich etwas, das nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Nur wir beide! Anfangs warst du eine Bereicherung meines Lebens, ich glaubte damals, einen dunklen, engen Tunnel hinter mir zu lassen und vor mir eine endlose Ebene zu haben, einen weiten Horizont, in dessen umfangreichen Grenzen alles möglich ist. Aber jetzt reduziert sich mein neuer Kosmos nur auf dich und mich.
Das ist nicht das, was ich will und brauche!
Ich will das Ende und könnte es gleichzeitig niemals herbeiführen. Wann immer ich mir vorstelle, ohne deinen Körper, deine Haut, deine Arme (deine Bisse, deine Schläge) auszukommen, überfällt mich eine Panik, als würde mir jemand die Luft zum Atmen entziehen.
Darauf läuft also alles hinaus. Ein junger, starker Körper, dem man Geist und Charakter andichtet, um die eigene banale Gier nach Jugend und Schönheit seelenvoll zu bemänteln. Ich weiß jetzt, dass ich dich brauche, aber über die Gründe mache ich mir keine Illusionen mehr. Dieser Zustand ist so furchtbar, dass ich ihn nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünsche. Diese Frau will ich nicht sein, ich will sie nicht einmal kennen. Sie ist nicht sympathisch und schon gar nicht bemitleidenswert. Aber ich komme nicht heraus aus ihrer Haut.