Kapitel 16
»Sie hat gesagt, es geht nicht mehr«, sagte Farkas und verstummte. Er war sehr blass, wie ausgelaugt von seiner Beichte. Zwei Stunden waren vergangen, seit er begonnen hatte, über seine Beziehung zu Karin Belolavek zu reden. Mona hatte gar nicht viel fragen müssen, es war alles nur so herausgeströmt aus ihm, als sei sein Bedürfnis, zu reden und Verständnis zu finden, tiefer als sein sorgsam antrainiertes Misstrauen. Nun saßen sie voreinander, ein Mann und eine Frau, und es entstand ein Gefühl der Peinlichkeit. Farkas hatte seine Seele entblößt, und Mona hatte ihm dabei zugesehen.
»Kann ich jetzt gehen?« Langsam baute sich die Schutzschicht wieder auf, die Farkas brauchte, um in seiner Welt zu überleben.
Mona antwortete nicht sofort. Als hätte sie sich die letzten zwei Stunden in einem schalldichten Raum befunden, hörte sie plötzlich wieder die Geräusche der Straße, das Tippen der Protokollantin, das Surren des Tonbandgeräts auf dem Tisch zwischen ihr und Farkas.
»Du hast sie wirklich... geliebt?« Ihre Stimme klang heiser in ihren Ohren.
»Ich schwör's, dass es so war. Ich liebe sie immer noch. Wenn sie zurückkommt, dann werde ich wie ein Hund vor ihrer Tür sitzen und auf sie warten.«
»Aber da gab's doch bestimmt eine Menge Probleme zwischen euch. Ich meine, Karin Belolavek war viel älter als du, die hatte einen ganz anderen Hintergrund.«
»Na und?«
»Jetzt tu nicht so naiv. Ich meine, worüber habt ihr zum Beispiel geredet? Ich meine, wenn ihr mal nicht... also...«
Farkas stand auf und reckte sich, und Mona ließ ihn gewähren. Er ging ein paar Schritte, steifbeinig, als müsste er sich erst wieder daran gewöhnen. Dann stützte er sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Sie könnten sich das nicht vorstellen, was? Mit einem wie mir was zu haben, oder?«
Mona sagte nichts. Sie konnte sich das ja eben nur zu gut vorstellen. Vielleicht war sie deshalb so - berührt. Anton war nicht jünger als sie, aber auch er ließ sich nicht in ihr Leben integrieren, nicht vollständig jedenfalls. Und dennoch war sie nie von ihm losgekommen, und das lag nicht nur an ihrem gemeinsamen Sohn.
»Sie hatte die Probleme, nicht ich. Sie hat das alles nicht gepackt, ich schon. Sie hat ständig nachgedacht, sich alle möglichen Sorgen gemacht, und dann wurde ich sauer... Ich hätte nicht sauer werden dürfen. Ich hätte sie verstehen müssen. So. Ist das jetzt klar? Kann ich jetzt gehen?«
»Noch nicht. Wir müssen noch mal über den Mord an ihrem Mann reden.«
»Scheiße, ich weiß da nichts drüber!«
»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«
Widerwillig setzte sich Farkas wieder hin und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Was war das jetzt? Dachte er etwa über den Zeitpunkt nach? Wollte er ihr weismachen, dass er sich daran nicht mehr erinnern konnte?
»Wann?«, fragte Mona mit harter Stimme.
Erstaunt registrierte sie, wie wichtig ihr Farkas' Antwort war. Sie wollte ihm seine Geschichte glauben. Sie mochte ihn und wollte glauben, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Wenn er jetzt anfing, sich zu winden und herauszureden, dann hätte sie sich eingestehen müssen, dass die vorangegangenen Anstrengungen Zeitverschwendung gewesen waren. Wenn nicht, konnte sie sich einreden, dass die Vernehmung ein Erfolg war (und sie brauchte einen Erfolg, oh, wie sie ihn brauchte!). Dabei hatte Farkas keinerlei Beweise für seine Behauptungen geliefert. Er war nach wie vor verdächtig, egal, was er sagte oder wie er es tat. Es hatte sich nichts geändert.
»Der 30. August«, sagte Farkas und hob die Hände in einer Gebärde, die sagen sollte: Der Klügere gibt nach. »Ein Dienstag. Am Nachmittag. Sie war bei mir, in meiner Wohnung. Sie hat mir gesagt, dass es aus ist.«
»Wie? In welchen Worten?«
»Wie, wie! Ist doch egal, wie! Es ist aus, ich kann nicht mehr, ich kann das vor meiner Familie nicht verantworten. Ich liebe dich, aber es geht nicht mehr.«
»Wie hast du reagiert?«
»Geheult. Dann gebittet und gebettelt. Ich hätte alles gemacht, verstehen Sie? Ich hätte sie geheiratet, alles.«
»Du hast sie nicht etwa bedroht?«
»Nein!«
»Du hast schon mal ein Mädchen...«
»Ich weiß, aber das war ganz anders.«
»Wie anders?«
Farkas suchte nach Worten. »Sie war ganz anders. Karin war eine ... richtige Frau, kein Mädchen. Ich hab sie verstanden. Sie hat es mir ganz ruhig erklärt, und ich hab es verstanden. Irgendwie.«
»Verstehst du, dass du im Moment trotzdem der Hauptverdächtige bist?«
»Nein, versteh ich nicht! Ich kenn ihren Mann gar nicht. Ich weiß nicht mal, wie der aussieht. Wieso soll ich den umbringen? Hab ich doch nichts von.«
»Nach deinen eigenen Worten hast du sehr wohl was davon. Karin Belolavek wäre frei gewesen. Für dich. Plus eine Erbschaft.«
Farkas schüttelte den Kopf, resigniert. »Das hätte die Karin doch nie gemacht. Nie!«
»Also, Karin Belolavek macht Schluss mit dir. Dann fährt sie weg.«
»Ja. Seitdem hab ich sie nicht wieder gesehen. Ganz, ganz ehrlich nicht. Ich hab versucht, sie anzurufen, aber da lief immer nur das Band. Das Handy hatte sie ausgestellt.«
»Und das Nächste, was du hörst...«
»In der Glotze. Ich sehe den Garten, alles total versaut. Sie war so stolz auf ihren Garten. Ich hab dann wieder versucht anzurufen. Aber nichts. Sie ist weg. Dann saß ich da und hab nachgedacht. Soll ich zu den Bullen gehen oder nicht?«
»Und dann kamst du zum Ergebnis, ach nee, ist mir zu viel Stress.«
»Nein. Ich wollte wirklich kommen. Ehrlich.«
»Guter Plan. Hätte uns viel Arbeit erspart.«
»Ja, Ihnen vielleicht. Ich sitze jetzt hier als Verdächtiger. Und wenn ich hier weggehe, werden Sie mich überwachen lassen.«
»Mach dir keine Gedanken, für so was haben wir gar nicht die Leute.«
»Keine Leute! Klar! Haha!«
Es war zu Ende. Mona war müde und hungrig, und Farkas sah aus, als ob er jeden Moment vom Stuhl fallen würde. Sie mussten ihn gehen lassen. Sie hatten keine Handhabe, ihn länger festzuhalten, und bei der schwachen Indizienlage brauchten sie sich nicht mal um einen Haftprüfungstermin zu bemühen. Schon diese eine Nacht im Gefängnis war nicht koscher gewesen. Und sie hatten tatsächlich niemanden übrig, um ihn zu beschatten. So lange die MK3 den Mörder der kleinen Vanessa nicht hatte, gab es eine dreißigköpfige SoKo und keinen freien Mann für den Fall Belolavek.
»Ich glaub ihm«, sagte Mona mit vollem Mund zu Kaiser. Sie saßen auf einem Mäuerchen vor dem Stamm-Döner des Dezernats 11. Wilhelm Kaiser verschlang sein zweites Kebab mit einer Geschwindigkeit, als wäre das seine erste Mahlzeit seit einer Woche.
»Du glaubst ihm«, sagte er mit neutraler Stimme, nachdem er seinen Mund mit einer Papierserviette abgewischt hatte.
»Ja. Na ja. Die Sache mit dem Garten ist komisch. Er hat gesagt, dass er den Garten im Fernsehen gesehen hat. Ich sehe den Garten, alles total versaut. Sie war so stolz auf ihren Garten. Ich meine, sie wird ihn doch nicht mit nach Hause genommen und ihm den Garten gezeigt haben, oder?«
Kaiser grinste. Sein Kinn glänzte immer noch ölig. »Weiß ich doch nicht. Warum hast du ihn nicht gefragt?«
»Ist mir zu spät eingefallen. Außerdem... Abgesehen davon...«
»Und dennoch glaubst du ihm?«
»Ja. Eigentlich ja.«
»Darf ich fragen, wieso?«
»Er hat sie geliebt. Das hat man gesehen.«
»Mann, Mona. Du bist seit wann im Geschäft?«
»Warte mal... zehn Jahre? Ja, mindestens. Warum fragst du das?«
Kaiser nahm einen Schluck Cola aus der Flasche. Die Sonne schien heiß auf sie herunter, eine Gruppe türkischer Schülerinnen drängte an ihnen vorbei, der Verkehr dröhnte.
»Also zehn Jahre. Ich bin jetzt seit sechzehn Jahren in der JSA. Und ich sag dir eins, da verlierst du alle Illusionen. Ist einfach so. Du magst die Jungs irgendwann, das schon, das gehört dazu. Die Jungs, die haben nämlich Charme. Die sind oft ganz schön pfiffig...«
»Aber man kann ihnen nichts glauben, ich weiß schon. Aber in dem Fall...«
»Mona, ich will gar nicht behaupten, dass die Jungs immer lügen wie gedruckt. Das tun sie nicht, warum sollten sie auch? Du verstehst nicht, was ich sagen will. Weißt du, die Jungs, die kommen aus unterschiedlichen Ländern, haben unterschiedliche Sitten und ich weiß nicht was.«
»Aber?« Mona pickte mit einer Plastikgabel kleine Fleischstückchen aus ihrem Sandwich. Aus den beiden Hälften quoll weiße Joghurtsoße, und sie legte das Brot auf eine Serviette neben sich, damit es ihre Hose nicht voll tropfte. Kaiser reckte sein Gesicht in die Sonne. Mit geschlossenen Augen sagte er: »Aber trotzdem sind sie in gewisser Weise alle gleich.«
»Das kannst du doch so nicht sagen...«
»Hör doch auf, Mona! Diese Jungs, die haben keine Chance, von Anfang an nicht. Und warum? Weil sie null Frustrationstoleranz haben. Verstehst du, die fangen was an, sind total begeistert, und dann kommt der erste Rückschlag, und sie kneifen oder schlagen zu. Sie wollen alles - Kohle, Erfolg, Prestige, geile Karre, hübsche Mieze, tolle Klamotten - und zwar sofort.«
»Das weiß ich, aber...«
»Die kannst du nicht mit Visionen ködern à la: Wenn du dich hübsch anstrengst, dann gibt's in zehn Jahren vielleicht mal ein gebrauchtes Cabrio. Da hören die gar nicht hin. Die nehmen immer den schnellsten Weg. Und der schnellste Weg ist eine Bruch- oder Hehlerkarriere. Mit Knast als Endstation.«
»Also, Willi...«
»Wilhelm.«
»Also, Wilhelm, das kann schon sein. Ich will dir da nicht dreinreden, und du hast da sicher deine Erfahrungen, aber ...«
»Jemand wie Milan Farkas... Der erzählt dir alles, was du hören willst, weil das der einfachste Weg ist, wieder rauszukommen. Ich hab sie wirklich geliebt, sie war die Einzige für mich, ich hätte ihr nie was getan... Diese Jungs haben das Schmus- und Kitschrepertoire drauf wie kein anderer, weil sie auf diese Weise schnell an die Mädels rankommen. Es... äh... spart sozusagen Zeit, es artet nicht in Arbeit aus...«
»Wilhelm...«
»Die können sogar Sex haben und dabei lügen. Je hässlicher und älter die Frau, desto größer ihre Potenz. So sehen die das. Ich weiß, dass ihr Frauen das nicht versteht...«
»Doch, aber...«
»Wahrheit, Mona. Die wissen gar nicht, was das ist. Komm denen mit Wahrheit, und die gucken dich an und nicken und sagen: Ja, ehrlich, Mann. Ich sag dir voll die Wahrheit, echt. Und da gibt's kein Zucken im Gesicht, nur ein gerader Blick direkt in deine Augen, und du glaubst ihnen jedes Wort. Aber was du siehst, ist kein ehrliches Gesicht, sondern ein Mensch, der in ganz anderen Kategorien denkt und fühlt als du.«
»Mhm.«
»Wahr ist wirklich wahr, ganz ehrlich für den Moment. Morgen ist was anderes wahr. Oder auch nicht.«
»Aha.«
»Okay. Was ich also meine, ist nicht unbedingt, dass Farkas von A bis Z gelogen hat. Er hat das erzählt, von dem er glaubt, dass du das hören wolltest und dass ihm das weitere Nächte im Knast erspart. Vielleicht war's ja rein zufällig die Wahrheit. Verstehst du?«
Mona knüllte die Serviette zusammen und legte sie neben einen völlig überfüllten Abfallkorb. Wilhelm hatte die Augen immer noch geschlossen und wirkte völlig entspannt. Er hatte ja auch keinen Fall am Hals, der die seltsamsten Haken schlug und trotzdem immer wieder in einer Sackgasse landete.
»Kannst du dich an Farkas erinnern?«, fragte sie ihn.
»Sicher. Er war ja vier Jahre bei uns.«
»Und?«
»Er war wie die anderen, Mona. Lustig, temperamentvoll, charmant und verlogen. Das versuch ich dir die ganze Zeit zu erklären.«
»Sonst war da nichts?«
»Tut mir Leid. Er hatte seine Freundin umgebracht, aber er hat sich in keiner Weise wirklich mit seiner Tat auseinander gesetzt. Es gab psychologische Angebote. Er hat sie nicht angenommen. Keiner von denen tut das. Sie sitzen in der Gruppentherapie rum, blödeln. Es bringt alles nichts.«
»Hat er nicht... bereut?«
»Klar. Und wie. Und er war sich ganz sicher, dass ihm so was nie, nie wieder passieren wird. Nie. Ganz sicher. Sind sie alle.«
»Was?«
»Ganz, ganz sicher. Sie vergessen schnell. Sie denken nicht... in die Zukunft.«
»Aha.«
»Tut mir Leid. Du würdest lieber was anderes hören, aber...«
»Macht ja nichts. Ist eben deine Meinung.«
»Ich muss los«, sagte Wilhelm. Er half Mona auf, und sie schlenderten die sonnendurchflutete Straße hinunter.
»Bist du mit dem Auto da?«, fragte Mona.
»Klar. U-Bahn fahr ich nicht mehr. Treff ich zu viele Bekannte von früher.« Er zwinkerte ihr zu. »Was hast du heute noch vor?«
»Weiß nicht«, sagte Mona geistesabwesend. »Weißt du was, ich werd doch jemanden auf ihn ansetzen.«
»Auf Farkas? Ich denke, ihr habt keine Leute.«
»Er ist unsere einzige Chance. Vielleicht hat er noch Kontakt zur Belolavek.«
»Wie kommst du da drauf?«
Mona zog ihren Rollkragen nach unten und wandte sich Wilhelm zu. Der blieb abrupt stehen und sah auf die blauroten Würgemale an ihrem Hals. Ein Mann rempelte ihn beinahe an und warf ihm einen wütenden Blick zu. Wilhelm beachtete ihn nicht. »Wer war das?«
»Keine Ahnung. Ich war gestern Abend in Farkas' ... Wohnhaus. Bin nur mal so durch die Flure, wollte mir das alles mal anschauen. Und da hat mich einer angegriffen. Vor Farkas' Wohnungstür.«
Wilhelm sah so entgeistert aus, dass Mona ihm einen Schubs gab. »Guck nicht so, wir müssen weiter. Vielleicht war es irgendein Typ, der dachte, ich hätte Geld.« Sie setzten sich wieder in Bewegung.
»Oder?«
»Es könnte auch eine Frau gewesen sein. Ich bin mir nicht sicher. Sie oder er hat mich total überrumpelt.«
»Scheiße. Diese Belolavek?«
»Keine Ahnung.«
»Weiß das einer in deinem Verein?«
»Wozu denn? Krieg ich nur Ärger. Ich hoffe, du hältst den Mund.«
»Was ist bloß mit dir los, Mona. Ich fass es nicht.«
»Ich denke, ich werde Patrick Bauer einsetzen. Der ist ganz neu bei uns, kommt von der Schupo. Bisschen sensibel, aber ich denke, der macht sich noch. Der muss sowieso mal raus hier, weg von den anderen.«
»Wird er schikaniert?«
Mona warf ihm einen Blick zu und seufzte. »Sicher. Wie alle am Anfang. Das gehört dazu.«
»Du folgst ihm«, sagte Mona zu Bauer. »Es ist keine ideale Überwachung, weil er dich schon kennt, aber besser als nichts.«
Bauer nickte und versuchte, nicht begeistert auszusehen. Er hatte mittags eine Currywurst gegessen und sich danach beim Bäcker zwei Apfelkrapfen genehmigt. Es ging ihm zumindest körperlich endlich wieder gut. Überwachung war ein langweiliger Job, aber alles war besser als das Dezernat und seine Kollegen. Er würde ganz für sich sein. Er würde nachdenken können über sich und das Leben und hatte dabei trotzdem etwas zu tun. Das war ihm sehr wichtig: etwas zu tun zu haben. Sein Vater war genauso. In ihrer Familie wurde nicht gefaulenzt. Sie wussten gar nicht, wie man das machte.
»Du wirst es allein tun müssen«, sagte Mona. »Heute, den Rest des Tages und die ganze Nacht. Morgen müssen wir dann weitersehen.«
»Okay. Macht nichts.«
»Packst du das?«
»Ja.«
»Sicher?«
»Ja!«
»Bis morgen früh, sieben Uhr. Dann löst dich jemand ab. Ich weiß noch nicht, wer, aber ich finde jemanden, und wenn's Forster oder Schmidt ist.«
»Mhm.«
»Du kannst dann heimfahren und dich hinlegen.«
»Ja.«
»Forster hasst so was. Aber das interessiert mich nicht.«
»Ich fahr dann mal los«, sagte Bauer. »Am besten stell ich mich vor sein Haus, oder?«
»Klingel vorher bei ihm. Am besten von drinnen, vom Gang aus, du weißt schon. Das Apartment ist so klein, du hörst dann, ob er da ist. Wenn ja, verschwindest du und stellst dich vor die Haustür und wartest da. Ich hab das beim Hausmeister gecheckt, es gibt keinen zweiten Ausgang. Wenn nicht, probier's im Billardsalon. Was hast du bei seiner Festnahme angehabt, weißt du das noch?«
Bauer überlegte. »Schwarze Lederjacke«, sagte er dann. Heute trug er einen hellen Stoffanorak.
»Gut. Dann besteht die Chance, dass er dich nicht erkennt. Kannst du nicht noch was mit deinen Haaren machen?«
Bauer musste lachen, zum ersten Mal seit einer guten Woche. Es hörte sich merkwürdig in seinen Ohren an, wie ein trockener Husten. Er hörte rasch wieder auf damit, weil ihn Mona todernst ansah.
»Was soll ich mit denen machen? Grün färben?«
»War eine blöde Idee«, gab die Mona zu, und er verabschiedete sich hastig. Er musste nicht allein in seine Wohnung zurück, und er musste sich auch nicht mit Forster und den anderen abgeben. Das war einfach perfekt. Er summte leise vor sich hin, als er mit dem Lift hinunter in die Tiefgarage fuhr. You give me so much pleasure / you cause me so much pain... Er drehte den Song voll auf, als er aus der Tiefgarage fuhr, auf die sonnige, belebte Straße. I keep on falling / in love / with - a - you... Ob er sich jemals wieder verlieben würde? Ob Milan Farkas wirklich eine Frau geliebt hatte, die knapp seine Mutter hätte sein können? ...falling, falling, falling... Würde er, Patrick Bauer, das fertig bringen? ...sometimes I feel good, sometimes I feel used... Er dachte an Mona, ihre kühle, selbstsichere Art. Nein, in die bestimmt nicht. Mona hatte nichts an sich, das ihn reizte, nichts Weiches, Charmantes, Nachgiebiges. Andererseits hätte sie ihn nicht einfach so sitzen gelassen mit seinen Problemen.
Vielleicht war es das, was Farkas an der Frau geliebt hatte. Sie hatte ihm Sicherheit gegeben, sie hatte nicht alles ernst genommen, was er sagte, sie hatte nicht so viel Angst gehabt wie die Mädchen in seinem Alter. Bauers Exfreundin hatte sich vor zahlreichen Dingen gefürchtet, und manche waren so lächerlich gewesen, dass er sich darüber lustig machen musste.
Scheiße, ich hab bei der einen Kundin die falsche Schattierung genommen. Hazelnut statt darkblonde.
Na und? Wenn's die Kundin nicht gemerkt hat, ist es doch egal.
Vielleicht hat sie's aber zu Hause gemerkt. Weißt du doch nicht. Die Weiber stehen zu Hause vor dem Spiegel, und plötzlich gefällt ihnen der Schnitt nicht mehr und die Farbe auch nicht, und dann beschweren sie sich. Ist zigmal passiert.
Und wenn schon. Dann beschwert sie sich halt. Ist doch nicht schlimm. Deswegen wirst du nicht gefeuert.
Das ist wohl schlimm. Die Chefin hat mich auf dem Kieker. Die hasst mich.
Ach komm.
Doch!
Wieso soll sie dich hassen?
Weil sie eine scheißfrustrierte Kuh ist.
Nie würde Mona so reden. Das tat man in ihrem Alter einfach nicht mehr. Als er an einer roten Ampel halten musste, öffnete Bauer das Seitenfenster, legte seinen Arm auf den Rahmen, ließ den warmen Wind in das Auto wehen und war beinahe glücklich. Der Verkehr floss träge dahin, die Luft roch nach Auspuffgasen und aufgeheiztem Asphalt. Bauer betrachtete junge Mädchen in engen Hüfthosen, die sich mit wiegenden Hüften an den Schaufenstern vorbeibewegten und immer wieder einen Blick hineinwarfen, als könnten sie es nicht glauben: Dass sie hübsch waren, dass sie jeden Mann haben konnten, dass jetzt ihre beste Zeit war. Eine Blonde mit hochgedrehter Bananenfrisur warf ihm einen Blick zu, der ihn leicht erschauern ließ. Er lächelte und hob ganz leicht die Hand. Sie wandte gespielt hochmütig den Kopf ab.
Die Ampel wurde grün, und er fuhr so langsam an ihr vorbei, dass hinter ihm gehupt wurde. Sie trug einen wadenlangen Jeansrock, Turnschuhe und ein weißes Wickelshirt. Ganz zum Schluss, als er sich schon widerwillig auf der Linksabbiegerspur eingeordnet hatte, winkte sie ihm zu und lächelte.
Er lächelte zurück und sah im selben Moment Milan Farkas. Farkas kam dem Mädchen entgegen, mit langen, schnellen Schritten und verschlossenem Gesicht. So ein großer Zufall war das gar nicht, seine Wohnung lag nicht weit weg. Bauer fluchte. Sein Wagen war von anderen eingekeilt, keine Chance, dass er hier schnell genug rauskam. Er behielt Farkas durch den Rückspiegel im Auge. Wenn er ein rasches Wendemanöver hinlegen konnte, hatte er noch eine Chance. Er würde das Auto irgendwo abstellen und Farkas zu Fuß folgen müssen. Der Gedanke gefiel ihm. Zum ersten Mal in seinem Leben würde er jemanden beschatten. Die Sonne ging unter, Dämmerung senkte sich auf die Stadt. Noch war Farkas gut zu sehen. Bauer hatte wieder freie Fahrt und schaffte die Kehrtwendung.
»Du hast die Schule geschwänzt«, sagte Mona. Lukas saß am Küchentisch, diesmal endlich wieder in ihrer Wohnung, krumm wie ein Alter, mürrisch. Er antwortete nicht.
»Hast du mit diesem Dennis zusammen geschwänzt?«
»Nö.«
»Das stimmt doch nicht. Deine Lehrerin...«
»Diese verfickte Kuh!«
Mona verstummte. Wie redete man mit einem Sohn, der sich so äußerte? Musste sie solche Schimpfworte normal finden, weil eben alle heute so waren? Sie dachte an die Jungs im Wohnhaus von Milan Farkas - sie wollte nicht, dass Lukas so wurde. Im Gegensatz zu ihnen hatte er Eltern, die sich kümmerten. Sie waren nicht perfekt, aber sie liebten ihn. Er hatte kein Recht, so zu werden. Oder lag das ohnehin nicht in ihrer Hand?
Sollte sie lachen oder einfach darüber hinweggehen? Sollte sie Lukas eine runterhauen? Und was würde das bringen?
Mona sagte nichts. Sie wandte sich zum Herd und warf die Spaghetti ins sprudelnd kochende Wasser.