Kapitel 3
Sie landeten um dreizehn Uhr fünfzig. Es war ein unruhiger Flug gewesen mit vielen Turbulenzen. Lukas hatte sich gefürchtet, aber es um keinen Preis zeigen wollen, und irgendwann hatte er sich beinahe übergeben müssen. Schließlich hatte sich der Pilot mit einer launigen Ansage gemeldet. Wir befinden uns gerade über den Alpen, und da kann's noch mal ein paar Minuten lang ruppig werden, also bleiben Sie bitte angeschnallt. Wir landen in zirka vierzig Minuten. Uns erwartet leider kein schönes Wetter, und die Temperaturen sind auch nicht ganz so angenehm wie auf Ihrer wunderschönen Urlaubsinsel...
Das Wetter war schrecklich. Sie hatten das gewusst, und trotzdem war es ein Schock. Es war nicht gut, um diese Jahreszeit Urlaub in einem warmen Land zu machen. Man konnte sich dann so schwer wieder eingewöhnen: an Regen und niedrige Temperaturen und an den herbstlichen Lichtmangel. Für Lukas war Lichtmangel nicht gut. Sie hatten in der Klinik festgestellt, dass Lichtmangel seine Symptome verschlimmerte. Mona verstand nicht ganz, worum es dabei ging. Manche Menschen, so hatte man ihr erklärt, reagierten mit Depressionen, wenn sie zu wenig Licht abbekamen. Bei Lukas schien das jedenfalls so zu sein. Die nächsten Monate würde er deshalb jeden Tag eine Stunde lang vor einer Tageslichtlampe verbringen. Lichttherapie nannte sich das, und Mona konnte kaum glauben, dass eine simple Glühbirne etwas bewirken konnte, woran bislang alle mehr oder weniger gescheitert waren: Lukas wieder zu einem gesunden Jungen zu machen.
Kaum standen sie an der Gepäckausgabe, klingelte ihr Handy. Im selben Moment begann sich das Förderband rumpelnd in Bewegung zu setzen. Anton und Lukas wandten sich in einer fast synchronen Bewegung von ihr ab und den Koffern zu, die langsam an den Passagieren vorbeiglitten. Jetzt war wieder jeder für sich, allein mit seinen Problemen und Hoffnungen und Ängsten.
Das Klingeln kam von ihrer Mailbox.
Hallo, Mona, hier ist Hans. Hans Fischer. Ruf mal an. Dringend. Danke, bis dann.
Ihr Blick fiel auf die Titelseite einer aktuellen Abendzeitung, die sie im Flugzeug wohlweislich nicht hatte lesen wollen. Grausiger Mord in Luxusvilla. Komplette Familie ausgelöscht?
»Kann Lukas heute Nachmittag bei dir bleiben?«
Anton sah auf sie herunter. »Du musst doch nicht heute schon wieder da hin.«
»Na ja. Ich muss wenigstens mal anrufen.«
»Mona, die wissen doch nicht, wann du ankommst. Die haben keine Ahnung, dass du schon da bist. Nütz das doch aus. Tu doch nicht immer so, als wärst du unentbehrlich.«
»Ich...«
»Ruf sie heute Abend an. Dann kannst du immer noch hin, wenn sie dich brauchen.«
»Es ist was passiert. Ich muss mich wenigstens melden.«
»Es ist immer was passiert. Immer. Wenn du dich jetzt meldest, kannst du auch gleich bei denen aufkreuzen, das weißt du genau. Jetzt nimm dir doch noch diesen einen Nachmittag.«
»Anton! Kann Lukas heute bei dir bleiben?«
Er nahm seinen Koffer vom Förderband und stellte ihn zu ihrem auf den Gepäckwagen. Sein Gesicht verschloss sich. »Sicher. Kein Problem.«
Niemand, der sich nicht auskannte, hätte in dem Sechziger-Jahre-Bau, eingezwängt zwischen einem Pizza-Hut und einem Kebab-Lokal, eine Polizeidienststelle vermutet. Dabei gab es sogar deren vier. Die Dezernate 11 bis 14 bearbeiteten Tötungsdelikte, organisierte Kriminalität, Menschenhandel, Prostitution - alles unter einem Dach. Einem provisorischen Dach, wie ihnen schon seit ewigen Zeiten versprochen wurde. Bald, so hieß es Jahr für Jahr, würden sie umziehen. In eine bessere Gegend, in größere, hellere, besser ausgestattete Büroräume.
Mona parkte ihren Astra in der Tiefgarage. Sie hasste die Garage, in der sie einmal überfallen und entführt worden war, und das trotz Lichtschranken, elektronisch gesicherter Absperrungen und angeblich hochmoderner Überwachungskameras. Immerhin war der Vorfall - wie ihn Berghammer gern bezeichnete - zum Anlass genommen worden, stärkere Lampen zu installieren, die betongrauen Wände schneeweiß zu streichen und an jedem Parkplatz Alarmknöpfe anzubringen, die an schwarzen Kabeln von der Decke herabbaumelten. Was sehr merkwürdig aussah und einen zu allem entschlossenen Täter bestimmt von nichts abhalten würde, denn Kabel konnte schließlich jeder abklemmen.
Aber immerhin, es war jetzt taghell hier unten. Jede Ecke perfekt ausgeleuchtet. Keine Schatten mehr, kaum noch Versteckmöglichkeiten. Trotzdem waren da die gleichen Beklemmungen, die sie seit dem Überfall immer befielen.
Mona stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu. Es gab ein hallendes Geräusch, das sie ignorierte. Sie fühlte, wie sie unter ihrer Bräune blass wurde. Sie fror und konnte sich nicht einreden, dass das nur an den herbstlichen Temperaturen lag. Hastig bewegte sie sich an den anderen parkenden Autos entlang dem Ausgang entgegen. Opel, Ford, Opel, Opel, Opel, und einer älter als der andere. An den Dienstwagen wurde immer als Erstes gespart, Dienstwagen mussten ja auch nicht repräsentativ aussehen, geschniegelt und gelackt wie die Streifenwagen, sondern sollten, so das Standardargument gegen jegliche Investition in diesem Bereich, zu Überwachungszwecken unauffällig sein. Dumm nur, dass sie mittlerweile Letzteres gerade nicht mehr waren - schließlich fuhr kaum ein normaler Mensch freiwillig solche antiquierten Modelle spazieren.
Mona beschleunigte ihre Schritte, bis sie fast lief. Ihr war bewusst, dass die Überwachungskameras ihre Panik registrierten, und sie hasste diesen Gedanken.
Nur noch ein paar Meter zum Lift.
Es war der Urlaub. Jedes Mal nach einem Urlaub überfielen sie die Ängste wie alte, hartnäckige ungeliebte Bekannte. Als gehörten sie für immer zu Mona, ob es ihr nun passte oder nicht. Als hätte der Vorfall eine Tür geöffnet, die sich nicht mehr schließen ließ.
Ein Polizeipsychologe hatte sie damals behandelt und ein leichtes Trauma konstatiert. Und ihr gleichzeitig klar gemacht, dass das überhaupt nichts Besonderes sei in ihrem Job.
Als sie endlich im Lift stand, atmete sie auf.
Zwei Minuten später hatte sie alles vergessen.
»Alles okay mit dir?«
»Klar«, sagte Bauer. Er streckte sich unwillkürlich, weil ihn Fischer fast um Haupteslänge überragte.
»Du bist aber ziemlich blass.«
»Mir geht's gut.«
»Hier.« Fischer reichte ihm eine halb leere Chipstüte über den Schreibtisch hinweg und setzte sich, ohne Bauer einen Platz anzubieten. Bauer warf einen Blick in die Tüte. Die Chips waren so ölig, dass sie an der Innenseite einen dünnen Fettfilm hinterließen. Der Geruch nach Paprika, Fett und Salz bedrängte seinen Magen.
»Nee danke.«
»Dir ist doch schlecht«, stellte Fischer fest.
Bauer schloss für eine Sekunde die Augen, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er kam von der Schutzpolizei. Er hatte theoretisch gewusst, was ihn bei der Mordkommission erwartete, aber es war seine erste Leiche gewesen, und schon der Gedanke daran löste Brechreiz aus. So durfte einfach kein Mensch aussehen, tot oder nicht. Zerfleddert wie einer dieser uralten kaputten Pennerschuhe, die man manchmal am Flussufer fand, mit einem Rest Schnürsenkel dran. Die verbliebene Haut braunfleckig und ledrig, das Gesicht bis auf ein paar Fetzen nicht mehr vorhanden. Die weiß hervorschimmernden Knochen. Der süßlich-eklige, durchdringende Geruch, den seltsamerweise keiner von den Nachbarn wahrgenommen hatte, was vielleicht an dem frühen Kälteeinbruch und dem ständigen eisigen Regen lag. Man ging nicht mehr in den Garten, wenn es sich vermeiden ließ.
Bauer dachte an den erleuchteten Garten, an die Hektik, an die unkoordinierten Grabungsarbeiten mitten in der verregneten Nacht, an die klebrige schwarze Erde an seinen schmutzigen Handschuhen. Er hatte Herzog die Lampe halten müssen, als der die Erstuntersuchung an der Leiche vornahm.
Gehirn fast weggefressen... hey, komm mal tiefer runter mit dem Licht. Tiefer, weiter rechts, verdammt! Ich kann nichts sehen!
Okay, Verwesung weit fortgeschritten, wahrscheinlich weil Objekt nur dünn mit Erde und losen Balken bedeckt... Jetzt den Brustkorb... Junge! Nicht die Beine, den Brustkorb, Herrgott noch mal, die paar anatomischen Kenntnisse kann man ja wohl voraussetzen...
Bauer hatte die Beine angeleuchtet, weil die in einer dunkel verfärbten Hose, wahrscheinlich Jeans, steckten. So konnte man sich einbilden, der Mann, der da lag, war gar nicht so... tot? Ein Albtraum, der ihn nicht aus seinen Klauen lassen wollte. Ein Splattermovie der schlimmsten Kategorie. Ihn schauderte.
»Mir geht's gut«, hörte er sich (zum wievielten Mal?) zu Fischer sagen, dabei rauschte es in seinen Ohren und flimmerte vor seinen Augen.
»Willst du heim? Dich ausruhen?«
»Nein.« Bauer öffnete die Augen; er hörte Fischer kaum. Zu Hause wäre er um diese Tageszeit mutterseelenallein, weil seine Freundin in einem Friseursalon arbeitete. Zu Hause würden ihn die grässlichen Bilder überhaupt nicht mehr in Ruhe lassen.
Okay, wir packen ihn ein, hatte Herzog zum Schluss allen Ernstes gesagt, als handele es sich um einen defekten Stuhl. Und dann hatten Herzogs Helfer die Leiche an den Hosenbeinen und an den skelettierten Armen aus der flachen Grube gehoben, und dabei war ein Batzen vermodertes Restfleisch abgefallen - mit einem widerlichen Wittsch in die Grube zurückgefallen. Und noch immer hatte Bauer sich zusammengenommen, und sich nichts anmerken lassen. Erst in den Armen seiner Freundin, um fünf Uhr morgens war der Zusammenbruch gekommen, mit Weinen und Kotzen und Schwindelanfällen.
»Mir geht's gut.« Langsam ließ die Übelkeit nach, warum, wusste er nicht.
»Ehrlich?«
»Ja.« Bauer sah Fischer in die Augen. Er saß mittlerweile auf Fischers einzigem Besucherstuhl. Keine Ahnung, wie er da hingekommen war.
»Hallo, Mona«, sagte Fischer und sah über ihn hinweg. Bauer drehte sich hastig um. Eine große, schlanke, sonnengebräunte Frau in einem hässlichen Parka stand hinter ihm. Sie hatte mittellange braune Haare. Sie musste Mona Seiler sein, Chefin der MK 1. Er stand auf und stellte sich vor.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir uns duzen. Ich heiße Mona.«
»Patrick«, sagte Bauer folgsam. Mona, Mona, Mona. Er prägte sich ihren Vornamen ein. Sie nannten sich alle nach kurzer Zeit bei den Vornamen, redeten übereinander allerdings meistens per Nachnamen. Der Schmidt. Der Forster. Bei Frauen ging das schwieriger. Die Seiler... Das klang wie eine Beleidigung.
»Ich hoffe, es gefällt dir bei uns«, sagte Mona und setzte sich auf den Rand von Fischers Schreibtisch. Ihre Augen waren braun und ihr Blick sehr direkt und gleichzeitig auf seltsame Weise zurückhaltend. Als gäbe es viele Gedanken und Gefühle, die sie niemandem mitteilte.
»Ja. Klar. Es gefällt mir gut.«
»Na sicher«, sagte Fischer spöttisch. »Wir haben ja auch den geilsten Job der Welt. Man muss ihn einfach lieben.«
Bauer kam sich vor wie ein Idiot. Er senkte den Kopf. Immerhin gab sein Magen wieder Ruhe, und schwindlig war ihm auch nicht mehr.
»Ich würde gern mal für eine Minute mit Hans allein sprechen«, sagte Mona. »Vielleicht könntest du...«
»Ja - sicher...« Bauer sprang auf.
»Konferenz ist um fünf«, sagte Fischer, wieder mit diesem sarkastischen Lächeln. Bauer nahm seine Tasche und ging hinaus. Auf dem Weg zu seinem Büro, das er sich mit Forster teilte, stieß er fast mit Schmidt zusammen, einem kleinen nervösen Mann, der es ständig eilig hatte.
»Mona wieder da?«, fragte Schmidt.
»Ja«, antwortete Bauer. »Sie ist bei...«
Aber Schmidt war schon an ihm vorbei.
»Schätzungsweise Messerstiche«, sagte Fischer. »Er war möglicherweise schnell tot, sagt Herzog.«
»Schnell tot? Wie schnell?«
»Du weißt doch, wie er ist. Hauptsache nichts Falsches sagen.«
»Und wohin? Die Stiche meine ich.«
Fischer griff nach dem vorläufigen Sektionsprotokoll. »Ich hab die anderen übrigens schon mal losgeschickt. Ich hoffe, das war in deinem Sinn.«
»Sicher, warum nicht?«
Fischers kleines quadratisches Büro ging zum Hauptbahnhof hinaus. Der dröhnende Stop-and-go-Verkehr an der Ampel direkt unter dem Fenster, das aufdringliche Gebimmel der Straßenbahn, das kreischende Bremsgeräusch der blockierten Räder auf den Schienen, all das fiel einem immer besonders auf, wenn man länger nicht hier gewesen war. Wenn man noch Meeresrauschen in den Ohren hatte und ab und zu das vielstimmig klagende Geschrei der Möwen auf Futtersuche.
»Ich hasse diesen Lärm«, sagte Mona.
Fischer grinste sie an, zum ersten Mal an diesem Tag. Wenn er lächelte, sah er sehr gut aus. Vielleicht sollte man ihm das mal sagen, vielleicht würde er es dann öfter tun. Er bildete sich eine Menge ein auf seinen Schlag bei Frauen.
»Wie war dein Urlaub?«, fragte er und hörte sich tatsächlich interessiert an. »Du bist ja richtig braun.«
»Danke. Es war schön. Lukas hat sich auch wieder ganz gut erholt.«
»Wovon erholt?«
In einem Anfall von Vertraulichkeit hatte Mona ihm einmal von Lukas' Problemen erzählt. Er hatte es vergessen.
»Schulstress«, sagte sie.
»Und da wart ihr zwei also ganz allein in Griechenland.«
»Genau.«
»Wie ist das eigentlich so... Ich meine so als... als...«
»Als allein reisende, allein erziehende Mutter, ganz allein mit ihrem Sohn unter heißer südlicher Sonne?«
Fischer wurde rot. »Du weißt schon, was ich meine.«
»Es ist ganz okay. Unproblematisch. Die Griechen beachten Frauen nicht, die mit Kindern unterwegs sind. Du bist wie ... nicht da.«
»Mhm.« Fischer machte ein unbehagliches Gesicht, wie immer, wenn ihr Gespräch den privaten Bereich streifte, was ja ohnehin fast nie passierte. Mona jedenfalls wusste von Fischer kaum mehr als seine Adresse und dass er eine Lieblingsband hatte, die sich Prodigy nannte. Sie wechselte das Thema.
»Warst du bei der Sektion dabei?«
»Ja.« Erleichtert, dass sie gefährliches Gelände hinter sich gelassen hatten, blätterte Fischer in Herzogs Protokoll.
»Was ist das für eine Geschichte mit diesem Toten?«, fragte Mona.
»Martin noch nicht gesehen?«
»Berghammer? Der ist nicht da, sagt Lucia. Kommt in einer Stunde.«
»Du weißt noch gar nichts, richtig?«
»Im Wesentlichen, dass ihr mitten in der Nacht einen Garten umgegraben habt.«
Ich habe kein schlechtes Gewissen, und das ist das Merkwürdigste an dieser ganzen seltsamen, traurigen, schönen, verrückten Geschichte. Es ist so, als hätte ich dich verdient: die Freude, die du mir schenkst, die Ängste, die mich überfallen, sobald wir ein paar Tage nichts voneinander hören, der Schmerz, wenn mir klar wird, dass meine Gefühle dich nicht so erreichen, wie ich es gerne hätte. Und dann wieder die irrsinnige Hoffnung, dass wir doch eines Tages alles miteinander teilen können. Ich habe dich verdient, aber dein Preis ist hoch. Deine Liebe ist Glück und Strafe zugleich.
Der Gang zu deiner Wohnung: Das ist die Strafe. Ich habe sie mir selbst auferlegt. Ich ziehe sie absichtlich in die Länge. Jedes Mal möchte ich kurz vor der Eingangstür kehrtmachen, mich zurückbeamen lassen in mein altes, freundliches, unspektakuläres Dasein. Das Haus, in dem du lebst, ist nicht einfach nur schmutzig, ärmlich und hässlich. Damit würde ich zurechtkommen. Aber dieses Haus hat den Charakter seiner Bewohner angenommen, es sondert Gefühle ab wie Zorn, Furcht, Aggression, Gier, Ärger und eine spezielle Sorte von Resignation. Wer in dieses Haus zieht, hat alles probiert, hat gekämpft und geschuftet und dennoch nichts zu Wege gebracht. Das Haus ist der real existierende Gegenbeweis der These, dass man schafft, was man sich vornimmt, wenn nur der Wille stark genug ist. Euer Wille, das sehe ich und spüre ich, war einmal stark und ist jetzt gebrochen, und das Haus hat seinen Teil dazu geleistet. Das Haus schluckt euch, eure Hoffnungen und Pläne, und irgendwann, wenn es euch noch schlechter geht, wird es euch wieder ausspucken. Leere Hüllen werdet ihr dann sein, ohne Mut und Kraft, ohne Visionen, ohne Liebe.
Als ich dich das zweite Mal besuchte, hatte es nachts ein wenig geschneit. Ich denke, es war Ende Oktober, Anfang November. Ich stand am Wohnzimmerfenster, wie so oft. Ich hatte die Pflanzen gegossen, den Giftefeu, das Orangenbäumchen, den Ficus Benjamini, den Oleander. Sie gediehen nicht mehr so wie früher, als spürten sie, dass ich ihnen meine Liebe entzogen hatte, die nun ganz dir gehört. Der Oleander hatte Läuse, die resistent schienen gegen alle Schädlingsbekämpfungsmittel, der Ficus Benjamini, früher grün und üppig, verlor die Blätter, das Orangenbäumchen wollte nicht mehr blühen.
Ich sah aus dem Fenster, auf die dünne Schneedecke im Garten, aus der bräunliche Halme spitzten, auf die Sträucher dahinter, gepflanzt als eine grüne Mauer, die uns den Blick auf die anderen Gärten versperrt, und ich fühlte mich gefangen in meinem kleinen Reich, das ich mitgeschaffen hatte.
Trotzdem hielt mich etwas davon ab, meinen Mantel, meine Schlüssel, meine Handtasche mit Geld, Autopapieren, Make-up und Lippenstift zu nehmen, und aufzubrechen. Ich konnte mir nicht mehr vormachen, ahnungslos zu sein. Ich wusste jetzt, was passieren würde - ich wusste, was ich von dir wollte, und dass das mehr war als Freundschaft, vermischt mit einem kleinen, erlaubten Schuss Verliebtheit.
Wenn ich mich richtig erinnere, klingelte dann das Telefon und erlöste mich aus der Erstarrung. Ich wusste nicht, ob du das warst, um dich zu erkundigen, wo ich blieb. Wenn ja, solltest du denken, ich sei schon weg, auf dem Weg zu dir. Wenn es eine Freundin war, wollte ich nicht mit ihr reden, jetzt nicht, nicht in meinem Zustand der Unentschlossenheit und Schwäche. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein; niemand sprach darauf. Ich zog den Mantel an, schnappte Schlüssel und Tasche und verließ mein Gefängnis. Vielleicht wäre ich sonst nicht gekommen - nie mehr. Vielleicht wäre das besser gewesen.
Nein. Streich das. Ich bin in dieser Stimmung, in der ich eigentlich besser nicht an dich denken sollte.
Ich fuhr wie in Trance. Auf den Straßen lag bräunlicher Schneematsch, durchzogen von Reifenspuren. Es war viel Verkehr. In meinem Kopf drehte sich die ewige Gedankenspirale, wie eine gesprungene Platte, die sich nicht abstellen ließ. Das kannst du nicht machen. Das kannst du nicht machen. Das kannst du nicht machen. Das kannst du nicht machen.
Ich schaltete das Radio ein, aber auf allen Sendern kamen nur Nachrichten. Ich wollte Musik hören, laute Musik, die mich betäubte und gleichzeitig anregte. Ich sah im CD-Kasten nach und fand nur Klassik und Jazz.
Schließlich stand mein Auto vor deinem Haus, und ich hatte keine Ahnung, wie es da hingekommen war. Ich saß im Auto, die Hände immer noch am Steuer, die Stirn aufs Lenkrad gelegt. Ich hätte ewig so dasitzen können, aber nach ein paar Minuten kroch die Kälte durch Mantel und Schuhe (die Frau, die Ehebruch beging, weil sie keine Standheizung hatte), und ich stieg aus. Meine Strafe begann: der Spießrutenlauf durch den Hauseingang. Wieder lungerten sechs, sieben halbwüchsige Jungs an der Treppe herum, als hätten sie sich dort seit Wochen nicht wegbewegt. Wieder dauerte es eine Ewigkeit, bis der einzige Lift kam. Wieder fühlte ich mich angestarrt, gemustert und für ungenügend empfunden. Nur warst du diesmal nicht dabei. Niemand lenkte mich ab von diesen Blicken.
Ich versuchte, mutig zu sein. Ich wandte mich um, erwiderte den unverschämten Blick der Jungs mit hocherhobenem Kopf - und stellte fest, dass sie mich gar nicht beachteten. Oder zumindest so taten. Es war eine Lektion, eine von vielen, die ich lernte, seit ich dich kenne: Ich bin nicht wichtig. Es gibt außerhalb meiner engsten Umgebung niemanden, der mich auch nur wahrnimmt. Ich wollte lächeln über meinen Wahn, aber ich war zu unglücklich dazu.
Durch den Hausflur pfiff der Wind. Die Jungs schwiegen und zogen ihre Anoraks enger um sich. Ihre dunklen Gesichter wirkten grau im Neonlicht. Schwiegen sie meinetwegen?
Der Lift kam, und ich stieg ein. Es war doch alles das erste Mal für mich. Der lange Gang bis zu deiner Wohnung im achten Stock. Wie ich vor der Tür stehen blieb, wie ich die Hand hob und nicht wusste, ob ich klopfen oder klingeln sollte. Hatte ich jemals so vor einer Tür gestanden?
Du hast meine Schritte gehört und mir aufgemacht. Ich weiß nicht mehr, was du gesagt hast, ob du sauer warst, weil ich mich verspätet hatte, oder ob du froh warst, dass ich überhaupt noch kam, oder ob du vergessen hattest, dass wir uns eine Stunde früher verabredet hatten. (Um zehn. Und es war fast elf). Ich weiß nur noch, wie es für mich war, zum zweiten Mal ganz allein mit dir zu sein. Ich erinnere mich an die Verlegenheit von uns beiden, die mindestens so schlimm war wie das erste Mal.
Und trotzdem wusste ich in der Sekunde, als ich dein Gesicht sah, dass alles richtig war und gut werden würde. Es musste einfach so sein. Wir waren uns das schuldig, verstehst du?
Deine Lippen. Sie schmeckten nach Tabak und Honig. Wenn ich Zigarettenrauch rieche, muss ich an dich denken, und ich hoffe, dass mir niemand ansieht, was ich denke.
»Ein Laie«, sagte Herzog. »Schätze ich.«
»Wer? Der Täter?«
»Ja, sicher. Wer sonst?« Herzog war kleiner als Mona, aber er hatte etwas an sich, das ihn, wenn schon nicht größer, so doch präsenter und stärker wirken ließ.
»Kann ich ihn sehen?«
»Jetzt gleich?«
»Moment noch.«
Sie saßen in Herzogs geräumigem Büro, das eingerichtet war, wie Mona sich die Bibliothek eines Landhauses vorstellte. Alle Wände bis unter die Decke mit Regalen voller gewichtig aussehender fettleibiger Bücher. Sie atmete tief durch.
»Hören Sie, Frau Seiler, ich hab noch einen Termin. Also wenn Sie die Leiche sehen wollen, müssten wir ...«
»Ja. Entschuldigung. Wir können los.«
Sie standen auf. Herzog ging mit seinen forschen, breitbeinigen Schritten voran und hielt ihr die Tür auf. Draußen war es bereits dunkel geworden. Stürmisch. Regnerisch. Die Sonne Griechenlands, die Hitze, der Sand, das Meer, Anton - alles schien so weit weg wie ein Traum. Unwillkürlich ging Mona langsamer. Die quadratischen Deckenleuchten im Gang, das funzlige Licht, das sie verbreiteten, der geflammte Linolboden, der bräunliche Wasserschaden an der linken Wand kurz nach Herzogs Büro - sie kannte jeden Meter im Institut. In zehn, zwanzig Jahren würde sie hier immer noch entlanglaufen, mindestens einmal pro Woche, eher zwei- oder dreimal.
In zwanzig Jahren. Dann war sie Ende fünfzig.
Herzog wartete auf sie am Aufzug, die Hände in den Taschen seines weißen Kittels. Wie immer, wenn er es eilig hatte, wippte er auf Fußballen und Fersen hin und her. Bei jedem anderen mit einer ähnlich gedrungenen Statur hätte das lächerlich ausgesehen, bei ihm wirkte es dynamisch. Als Mona ankam, schloss er die schwere Metalltür auf, mit der der Lift gesichert war. Sie betraten die Kabine.
»Wie war der Urlaub? Sie waren doch in Urlaub, richtig?«
»Ja, war ich. Danke. Sehr schön.«
»Das glaub ich Ihnen. Schön braun geworden. Sollten Sie sich öfter leisten.«
»Tja. Sie wissen ja, wie das ist.«
»Sie müssten doch Überstunden en masse abfeiern können.«
»Tun Sie doch auch nicht.«
Herzog lächelte und antwortete nicht. Seine schwerlidrigen braunen Augen wichen ihr aus, seine Miene verzog sich ungeduldig.
Der Aufzug hielt zwei Stockwerke tiefer, und Mona wappnete sich für den Anblick, der ihr bevorstand. Ihr wurde von nichts mehr übel, auch von den scheußlichsten Verletzungen, den ekelhaftesten Fäulnisveränderungen nicht. Sie träumte auch nicht mehr von dem, was sie beschönigend ihren Job nannte.
Aber da gab es eben doch Spuren, die die vielen, vielen Toten hinterließen. Man konnte sie nicht benennen. Sie waren wie Schatten, die sich über die Welt legten und ihr die Farbe nahmen. Wie eine besondere Form der Trauer, geboren aus einem Gefühl der Vergeblichkeit. Was war das Leben wert, wenn danach nichts übrig blieb? Nichts außer einigen Erinnerungen, die noch dazu alles andere als fälschungssicher waren.
Es gibt Fotos, dachte Mona nicht zum ersten Mal. Immerhin was.
Sie hatte Fotos von dem Toten gesehen als er noch gelebt hatte - vielmehr von dem Mann, von dem sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermuteten, dass er der Tote war. Thomas Belolavek hatte gut ausgesehen. Fit und gesund. Vielleicht nicht besonders sympathisch mit seinen dünnen Lippen und seinem hageren, knochigem Gesicht, aber eindeutig lebendig. Herzog drückte auf einen Zentralschalter im Lift, und eine nach der anderen flammten die blendend hellen Lampen in dem beige-weiß gekachelten Gewölbe auf. Mona kniff die Augen zusammen. Langsam folgte sie Herzog.