Kapitel 8
Ich weiß, dass ich gefährlich lebe. Ich hatte vergessen, dass Liebe alles verändert, nicht nur den Körper, nicht nur den Gesichtsausdruck, nicht nur den Gang, auch das gesamte emotionale Universum. Gleichzeitig ist es so, als hätte ich mich in zwei Personen aufgespalten, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten. In meiner ersten Welt - jene, zu der du keinen Zutritt hast - bin ich die Frau, die niemals revoltiert. Du bist der parallele Kosmos, den ich mir gestatte. Mit dir begebe ich mich auf eine Reise in die ungewissen Gefilde der Leidenschaft. Ich mache mir dabei nichts vor: Diese Art der Reise kann nicht ewig dauern, sie hat ein Ziel, und das heißt Unterwerfung. Meine Unterwerfung.
Wir dürfen also niemals ankommen. Ich muss weiterhin die Regeln bestimmen, sonst werde ich verwechselbar mit den kleinen Mädchen, die du alle haben könntest, aber nicht willst. Weil ich stärker bin als sie. Weil ich dir gebe, was du von ihnen nicht bekommen kannst. Souveränität, Reife, Erfahrung. Du gibst mir das Gefühl, jeden Tag schöner zu werden. Wenn ich dich verlasse, fahre ich manchmal noch in die Innenstadt. Es ist meistens gegen fünf Uhr nachmittags, die Bars öffnen. Ich habe eine ausfindig gemacht, die dunkel, exklusiv und teuer ist. Dort setze ich mich an den Tresen und bestelle immer das Gleiche: Wodka on the Rocks, weil man von Wodka keinen schlechten Atem bekommt. Dann teste ich meine neu erworbenen Fähigkeiten an den anwesenden Männern.
Ich will nichts von ihnen, gar nichts. Keiner von denen, die sich freiwillig die Hälse mit Krawatten strangulieren, interessiert mich. Aber ich übe mich für dich in der Verführungskunst, die du schon längst beherrschst. Ich will es für dich können, damit du mich noch reizvoller findest. Und langsam mache ich Fortschritte. Natürlich ist es keine Kunst, Männer für eine schnelle Nummer zu finden. Die Kunst besteht vielmehr darin, sie für die Frau selbst zu interessieren.
Und das gelingt mir immer besser. Ich weiß nun, wie ich lächeln muss, um jene Irritation hervorzurufen, die der Erkenntnis vorangeht, dass ich nicht zu haben und deshalb einzigartig bin. Dabei gehe ich schon längst nicht mehr den leichtesten Weg. Ich zeige kein Verständnis mehr für Männer, die mir ihre allgemeine Erschöpfung zu Füßen legen wie ein erlegtes Wild. Wenn sie über ihre Firmen, ihre Ehen, ihre Familien klagen, nicke ich nicht mitfühlend, sondern schweige gnadenlos. Solche Frauen können sie überall haben. Ich bin anders. Ich wechsle das Thema. Ich diskutiere mit ihnen über das Wesen Schwarzer Löcher (die paradoxe Existenz des totalen Nichts) und über die spirituellen Qualitäten der Quantenphysik. Ich fordere sie, und sie folgen mir willig. Ich spüre, wie sehnsuchtsvoll sie sich eine Frau wünschen, mit der sie reden könnten wie mit mir. Doch ich weiß in jeder Sekunde: Wenn sie mich erobert hätten, würden sie alles tun, um mir auszutreiben, was sie an mir fasziniert.
Warum funktioniert Liebe auf diese Weise? Vielleicht weil auch Liebe endlich ist. Ihr Ziel heißt Gleichgültigkeit.
Sobald ich merke, dass sie an meinen Lippen hängen, verabschiede ich mich. Es gibt keine Handynummer und keine Aussicht auf ein Wiedersehen. Ich weiß, dass ich mich auf diese Weise unvergesslich mache. Dann kehre ich zurück in mein altes Leben. Dort gibt es einen Mann, ein gemeinsames Kind, ein gemeinsames Haus. Es besteht aus einer Konstruktion, die Sicherheit garantieren soll und in erster Linie Langeweile produziert. Ich finde mich damit ab, jetzt noch. Es wird der Tag kommen, an dem mir das nicht mehr reicht. Bis dahin erhalte ich das fragile Gleichgewicht aufrecht. Es liegt mir nichts daran, meinen Mann neu zu erobern, sonst hätte ich ihm längst gezeigt, was ich heute alles kann und weiß.
Aber du musst keine Angst haben, so oder so nicht. Niemals wird ein Mann dir Konkurrenz machen können. Wenn du mich ansiehst, öffnet sich alles an mir und in mir. Du sagst manchmal »meine Rose« zu mir, und genauso fühle ich mich in deiner Gegenwart: als etwas Kostbares und zutiefst Lebendiges. Nur wenige Männer gaben mir ein ähnliches Gefühl, und bei ihnen musste ich immer Angst haben, dass sie mich irgendwann in eine Vitrine stellen und mich dort unberührt verstauben lassen. Du dagegen hast deine Hände überall. Wenn wir auf der Straße nebeneinander gehen, umarmst du mich alle paar Schritte - so lange, bis ich endlich die Angst vergesse, von Bekannten mit dir zusammen gesehen zu werden. Es ist ohnehin lächerlich. Die Gefahr ist so gering im falschen Viertel einer Millionenstadt.
Aber anfangs war es schon hart genug, die Blicke der Unbekannten auszuhalten, sich nicht zu schämen, nicht wegzusehen. An Frauen meines Alters bemerke ich manchmal einen Ausdruck von - Neid? Bewunderung? Junge Mädchen übersehen mich dagegen dreist und flirten ganz offen mit dir. Am schlimmsten aber sind ältere Männer. Wenn sie nicht demonstrativ wegsehen, mustern sie mich von Kopf bis Fuß und geben mir anschließend wortlos zu verstehen, dass ich keine Chance habe.
Du glaubst, du kannst diesen Jungen halten? Dich würde ja nicht mal ich noch nehmen!
Du sagst, dass ich mir das einbilde (ich hätte niemals mit dir darüber sprechen dürfen!). Aber nun ist es passiert, und im Grunde ist es gut, dass du auch meine Ängste kennst. Wenn wir eine gemeinsame Zukunft haben sollten, kommen wir ohnehin nicht darum herum. Und ganz allmählich entwickle ich einen Stolz, der nichts mit Trotz zu tun hat, sondern von innen kommt. Wenn es kalt ist, schiebe ich meine Hand in deine Manteltasche. Deine Hände sind immer warm.
Wir haben mittlerweile sogar ein Stammlokal. Es ist im bayerischen Rustikalstil der sechziger Jahre eingerichtet. Hier gibt es Cevapcici und ähnliche Gerichte, die ich aus meiner Kindheit kenne, als es noch an jeder Straßenecke jugoslawische Restaurants gab. Der Besitzer, ein Bosnier, begrüßt uns mit Handschlag. Oft sind wir die einzigen Gäste. Das liegt an der Tageszeit: Wir kommen nie vor drei Uhr nachmittags. Ich lade dich gern zum Essen ein, denn ich mag es, wie du isst. Wie du jeden Bissen genießt. Und du bist jedes Mal von einer Bescheidenheit, die mich rührt. Nie nimmst du ein teureres Gericht als ich. Sodass ich mittlerweile für uns beide bestelle, und wir essen dann gemeinsam von allem Aufgetragenen.
Gestern waren wir wieder dort. Du hast mich unter dem Tisch angefasst, und diesmal schob ich deine Hand weg, denn es waren einige Gäste da, die meisten Männer, und ich hatte ohnehin schon das Gefühl, dass wir ungut auffielen.
Ich schob also deine Hand weg, und du legtest sie wieder hin. So als hätte ich gar nichts getan. Ich küsste dich auf den Mund und nahm ein zweites Mal deine Hand von meinem Schenkel. Du hast gelächelt, aber da war etwas in deinem Blick, das ich nicht mochte. Schließlich ließ ich dich gewähren und tat so, als machte es mir Spaß. Aber so war es nicht, und ich will, dass du das weißt. Ich habe es nur getan, um kein Aufsehen zu erregen.
Unsere Liebe hat dadurch ihre Unschuld verloren. Du verstehst das wahrscheinlich nicht, aber so empfinde ich das. Es ist nicht schlimm. Es ist bestimmt normal.
Theresa Leitner wohnte im Westend, nicht weit vom alten Messegelände entfernt. Das Haus, ein Altbau, sah außen baufällig aus und innen verwahrlost. Die Briefkästen im Eingangsbereich waren zum Teil aufgebogen, zum Teil kaputtgeschlagen und meist ohne Namensschilder. Der Lift funktionierte nicht, das Treppenhaus war fensterlos und düster. Spekulantenware, dachte Mona, als sie zu Fuß in den dritten Stock stieg. Die Besitzer warteten ab, bis der letzte Bewohner gestorben, weggezogen oder herausgeklagt war, und dann konnte die Luxusrenovierung beginnen. Früher einmal hätte es vehemente Proteste dagegen gegeben. Heute fanden sich die Leute mit allem ab.
In der Mitte von Theresa Leitners Tür prangte ein Blatt Papier mit einer Kinderzeichnung, die einen Regenbogen in blassen Wachsmalkreidefarben zeigte. Die Tür selbst war vor Jahren einmal dunkelbraun gestrichen worden. Jetzt blätterte an zahllosen Stellen die Farbe ab und ergab bizarre Muster aus dunkelbraunen und rostroten Streifen. Mona klingelte. Nach ein paar Sekunden hörte sie leise knarzende Schritte, als schliche jemand heimlich zur Tür. Der Spion blitzte kurz auf.
»Seiler, Kriminalpolizei. Wir haben gestern telefoniert.«
»Ja. Moment.«
Das Geräusch eines Riegels, der mit Wucht zurückgeschoben wurde. Vor Mona stand eine mollige Frau, die aussah wie Mitte, Ende vierzig. Sie trug ein weites rotes Kleid aus einem orientalisch anmutenden Stoff und einen bunten Seidenschal um den Hals. Aus der Wohnung roch es nach abgebrannten Räucherstäbchen.
»Frau Leitner?«, fragte Mona.
»Ja. Kommen Sie rein.«
»Danke. Ich hoffe, Sie haben Zeit.«
»Jetzt schon. Um zwei muss ich Sie rausschmeißen, da fängt die Nachhilfestunde an.«
»Sie geben Nachhilfe?«
»In Deutsch. Acht Flüchtlingskindern aus dem Kosovo. Sie kommen hierher. Ich habe hier ein richtiges kleines Klassenzimmer.« Theresa Leitner ging durch einen kurzen, unbeleuchteten Gang voraus in eine geräumige Wohnküche.
»Möchten Sie etwas? Tee? Kaffee ist leider nicht da.«
»Vielen Dank, gar nichts.«
»Vielleicht eine heiße Schokolade? Tut doch gut bei dem Wetter.«
»Danke, wirklich nicht. Haben Sie eine freie Steckdose für das Aufnahmegerät?«
»Ja, gleich hier unten, neben der Tür.« Theresa Leitner setzte sich an den Tisch aus hellem Holz und schaltete eine kleine Stehlampe ein. Ihr Licht vermischte sich mit dem trüben Tageslicht, das aus einem hohen, schmalen Fenster in die Küche fiel, ohne den Raum nennenswert zu erhellen. Mona registrierte Küchenschränke aus beigefarbenen, billig aussehenden Pressspanplatten, einen alten Elektroherd neben einer verkratzten Spüle. Die Decke war mit dunkelbraunen Holzpaneelen abgehängt, die vergilbten Wände waren mit farbigen Tüchern drapiert.
»Seit zwei Wochen Regen«, sagte Theresa Leitner. »Es ist nicht auszuhalten. Immer diese schauderhafte Dunkelheit.« Ihr Gesicht war rund und weich, mit vollen blassen Wangen.
Mona bückte sich unter den Tisch und schob den Stecker in die Steckdose. »Sie haben mir am Telefon erzählt, dass Sie Karin Belolavek gut kennen«, sagte sie, nachdem sie das Gerät eingeschaltet hatte. Die muffig-ärmliche Umgebung schien ihre Stimme zu verschlucken, und sie räusperte sich unwillkürlich.
»Tut mir Leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Aber ich lese selten Zeitungen, und den Fernseher habe ich schon seit Jahren im Keller stehen. Deswegen wusste ich das mit Karin erst, als es mir jemand von der Gemeinde erzählt hat.«
»Gemeinde?«
»Von der Paulskirche gleich um die Ecke. Karin hat da ehrenamtlich mitgearbeitet.« Sie machte eine Pause und sah Mona an. »Wussten Sie das denn nicht?«
»Nein.«
»Na ja, dann wissen Sie's jetzt. Karin hat auch Nachhilfestunden gegeben, in Mathematik und Deutsch.«
»Wie Mathematik? Sie ist doch keine Lehrerin.«
»Das Grundschulniveau hat sie schon drauf. Sie hat sich wohl auch einiges beigebracht anhand von alten Schulbüchern ihrer Tochter. Wissen Sie, die Gemeinde kann von Glück sagen, dass es Leute wie Karin gibt. Zwei Nachmittage in der Woche hat sie diesen Kindern gewidmet, manchmal sogar drei.«
»Warum gerade diese Gemeinde? Sie wohnt doch ganz woanders.«
»Das lief über mich. Wir haben uns vor zwei, drei Jahren kennen gelernt.«
»Bei welcher Gelegenheit?«
»Ein Vortrag über Globalisierung. Vielleicht war's auch die christliche Meditationsgruppe. Jedenfalls kamen wir ins Gespräch, und da habe ich wohl von meiner Gemeindearbeit erzählt.«
»Und sie war interessiert.«
»Na, allerdings. Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr sagen, wie das genau war, aber auf jeden Fall hat sie ganz schnell gehandelt. Wir kannten uns gerade mal ein paar Wochen, und schon war sie voll eingespannt.«
»Hat sie da auch noch andere Aufgaben übernommen? Ich meine, außer Unterricht?«
»Lesungen organisieren und solche Sachen. Wenn Sie da Genaueres wissen wollen, fragen Sie am besten unseren Pfarrer Grimm. Bertold Grimm.«
»Was hat Karin so erzählt? Ich meine, von sich, von ihrem Leben, von ihrer Ehe. Hat sie mal davon gesprochen?«
Theresa Leitner seufzte und sagte nichts.
»Frau Leitner? Haben Sie meine Frage verstanden?«
Theresa Leitner stand auf, verließ wortlos die Küche und kam nach ein paar Sekunden mit einer Zigarette zurück. Schwerfällig kramte sie in einer Schublade herum und beförderte ein Feuerzeug zu Tage. »Möchten Sie auch eine?«
»Nein danke.«
»Ich deponiere sie immer im Flur. Dann werden es nicht so viel.« Sie kniff die Zigarette in den rechten Mundwinkel und zündete sie an. »Die Raucherei bringt mich noch um.« Theresa Leitner blies den Rauch aus und ließ sich langsam wieder auf ihren Stuhl nieder. »Also, was wollen Sie denn nun eigentlich genau wissen?«
Es war bereits halb eins. Der dritte Tag ohne Ergebnis. Mona spürte, wie die Ungeduld in ihr wuchs. Gut dass Fischer nicht dabei war.
»Alles«, sagte sie. »Alles, was Sie wissen. Alles ist wichtig. Wir haben hier so was wie eine Familientragödie. Wir müssen was von der Vorgeschichte erfahren.«
»Die Ehe.«
»Zum Beispiel.«
Theresa Leitner nahm erneut einen Zug und legte die linke Hand gedankenverloren an den rostroten Lampenschirm, als wollte sie sich an ihm wärmen. »Die Ehe«, sagte sie, »war wahrscheinlich auch nicht schlechter als andere.«
»Aber?«
»Aber... Ja, ich weiß auch nicht. Karin war nicht glücklich. Mit der ganzen Situation zu Hause nicht. Ich würde mal sagen, sie war unausgefüllt. Ihr Mann war sehr viel unterwegs wegen seiner Computersachen, ihre Tochter hatte ihre Freundinnen. Ist ja auch normal in dem Alter. Aber für eine Mutter eben nicht so leicht zu verkraften.«
»Sicher. Aber deshalb bringt man seinen Mann nicht um.«
»Wer sagt Ihnen denn, dass sie's getan hat? Sie wissen das noch gar nicht, oder?«
»Nein«, gab Mona zu. »Wir wissen nicht einmal, ob sie noch lebt.«
»Sie kann es nicht gewesen sein, das sage ich Ihnen. Sie ist viel zu friedliebend. So eine Tat - das hätte sie nie fertig gebracht. Sie ist der netteste, freundlichste, höflichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Ich hätte nie mit Ihnen geredet, wenn ich gewusst hätte, dass Karin unter so einem ungeheuerlichen Verdacht steht. Nie!«
»Frau Leitner, Karin Belolavek steht im Moment nicht unter Verdacht. Ist das jetzt klar? Wir müssen sie finden, und dann sehen wir weiter. Wir werden sie aber vielleicht nie finden, wenn uns niemand hilft.«
»Also, was wollen Sie hören? Dass ihre Ehe unglücklich war? War sie nicht. Karin wollte sich nicht trennen. Sie war nicht hundertprozentig zufrieden mit der Situation...«
»Welcher Situation? Bitte!«
Die Frau schwieg ein paar Sekunden mit fest aufeinander gepressten Lippen. Als sie wieder zu sprechen anfing, war ihre Stimme leiser und tiefer. »Man steht morgens auf und macht Frühstück für seine Familie, und dann wird man allein gelassen mit den ungemachten Betten und dem Abwasch. Man trinkt noch einen Kaffee, liest noch ein bisschen Zeitung, und schon ist er halb rum, der Vormittag. Dann macht man die Betten, den Abwasch, das Bad. Man saugt den Flur, die Küche, das Wohnzimmer. Man räumt Klamotten weg, man gibt die Wäsche in die Maschine. Und so weiter. Kein wirklich anstrengendes Leben, im Grunde leicht zu schaffen. Wenn da nicht dieses Wissen wäre, dass man all diese geistlosen, eingelernten Handgriffe am nächsten Tag wieder tun wird, und am übernächsten auch, und wahrscheinlich die nächsten zwanzig, dreißig Jahre lang, bei diesem oder einem anderen Mann. Karin hatte sich das so nicht vorgestellt. Keine Frau stellt sich das so vor, aber es passiert eben ganz oft, es ist wie ein weibliches Karma. Karin ist eine gebildete, intelligente Frau. Sie hat studiert, sie hat Pläne gehabt...«
»Berufliche Pläne?«
»Weiß ich nicht. So konkret haben wir nicht darüber gesprochen. Vielleicht.«
»Hat ihr Mann sie daran gehindert, ihren Plänen nachzugehen?«
Theresa Leitner sah sie mitleidig an. »Sie greifen nach jedem Strohhalm, was?«
»Wie meinen Sie das denn jetzt?«
»Thomas hatte seinen Job und abends seine Familie, und das reichte ihm. Er machte sich keine Gedanken, wie Karin den Tag herumbrachte. Es hat ihn nicht interessiert. Von ihm aus hätte sie auch Kisuaheli lernen können.«
»Es war ihm egal?«
»Wenn Karin gesagt hätte, hör mal, ich möchte einen Job annehmen, dann hätte er wahrscheinlich gesagt: Klar, wenn du das brauchst, warum nicht? Verstehen Sie? Ihr Problem war nicht, dass er sie unterdrückt oder eingesperrt hat, sondern dass sie nicht die Kraft hatte, irgendwas gegen seine geballte Gleichgültigkeit durchzusetzen. Gleichgültigkeit ist ja die schlimmste Sorte von Widerstand. Gleichgültigkeit ist wie Treibsand, in dem Hoffnung und Tatkraft verschwinden wie in einem Bermudadreieck. Und das Tückische ist, je mehr man dagegen ankämpft, desto schneller geht man selber unter. Haben Sie nie erlebt, wie das ist?«
»Nein.« Aber Mona wusste im selben Moment, dass das nicht wahr war.
»Niemand ist schuld, nur man selbst. Es gibt keinen Blaubart, der einen gefangen hält, keine böse Umwelt, die einem Steine in den Weg legt. Es gibt nur die eigene Trägheit, die sich einfach nicht überwinden lässt. Man fängt an, sich selbst zu verachten.«
»War das so bei ihr?«
»Ich war selber mal in dieser Lage. Ich habe erlebt, wie das ist, wenn man sich nichts mehr traut. Ich kenne das.«
»Hat Karin deshalb ehrenamtlich gearbeitet? Um aus diesem Kreislauf rauszukommen?«
»Sie hat es auch einfach gern getan. Sie ist gern unter Menschen, sie braucht das.«
»Sie haben mir am Telefon erzählt, dass sie einen Freund hatte. Eine Affäre. Wie ist es dazu gekommen?«
Theresa Leitner schwieg.
»Karins Freund? Was war das für ein Typ?« Wieder Schweigen. Leute sprachen gern über die Verfehlungen anderer, einige mussten allerdings ermutigt werden.
»Frau Leitner, leider müssen Sie diese Frage beantworten. Sie sind jetzt Teil der Ermittlungen.«
Theresa Leitner stützte ihr Kinn in die Hand. Schließlich sagte sie: »Er war sehr viel jünger als sie.«
»Ihr Freund?«
»Wirklich sehr viel jünger. Sie hat mir nicht genau gesagt, wie alt. Aber höchstens um die zwanzig.«
»Wie hat sie ihn kennen gelernt?«
»Darüber hat sie nie gesprochen. Ich weiß auch nicht, wie er heißt oder wo er wohnt.«
»Aber sie hat von ihm erzählt.«
»Vor ungefähr einem halben Jahr hat sie zum ersten Mal von ihm erzählt. Dass es schon länger mit ihnen beiden ginge, dass es eine große Liebe sei, nicht einfach nur ein Seitensprung. Solche Dinge.«
»Wusste ihr Mann davon?«
»Nein! Karin hatte große Angst, dass er es erfahren könnte.«
»Warum? Was hat sie befürchtet?«
Theresa Leitner lächelte. »Nicht, was Sie denken.«
»Was denke ich denn?«
»Dass er sie verprügelt oder misshandelt hat, oder so was, stimmt's? Nein. Karin hatte Angst, dass es zur Scheidung kommen und Thomas das Sorgerecht beantragen könnte.«
»Wann hat sie das letzte Mal von diesem jungen Mann gesprochen?«
»Nur noch ein einziges Mal, wenn ich mich richtig erinnere. Das war vor ungefähr drei, vier Monaten.«
»Wie fühlte sie sich da? Glücklich? Verzweifelt?«
»Ich hatte den Eindruck, sie war da viel tiefer drin, als sie wollte. Sie konnte das nicht mehr so einfach beenden, sie hatte gar keine echte Wahl mehr.«
»Das Ganze ist ihr entglitten.«
»Sie hat nicht gesagt, dass sie die Beziehung beenden will, das nicht. Sie liebte ihn. Aber das alles wurde ihr zu viel.«
Pfarrer Grimm war ein hoch gewachsener, schlanker Mann mit glatten dunkelblonden Haaren. Er trug Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Er hatte eine leise, aber klangvolle Stim-me, lächelte viel und unterstrich seine Sätze gern mit einem leichten Heben der rechten Hand. Mona stellte ihn sich auf einer Kanzel vor und dachte, wie schade es sei, dass sich ein so gut aussehender Mann der Kirche verschrieben hatte. Dann fiel ihr ein, dass Pfarrer Grimm evangelisch war, also keinem Zölibat verpflichtet.
Dafür wahrscheinlich verheiratet.
»Wir hätten uns viel eher bei Ihnen melden müssen«, sagte der Pfarrer. Leichtes Heben der rechten Hand, kein Ehering. »Aber wir waren so geschockt von dieser entsetzlichen Geschichte...«
»Wir haben auf diese Weise wichtige Zeit verloren. Bei einer Todesermittlung kann das wesentlich sein.«
»Ja. Tut mir wirklich Leid.«
Sie saßen zu zweit auf einem schwarzen Ledersofa, das alt, speckig und durchgescheuert aussah. Eine unscheinbare ältere Frau hatte Kaffee und einen Teller voller Kekse und Bonbons auf den Glastisch vor ihnen gestellt und sich dann diskret zurückgezogen. Mona musste sich zwingen, nicht über die Süßigkeiten herzufallen. Sie hatte das Mittagessen nach dem Besuch von Theresa Leitner ausfallen lassen und war gleich zu Bertold Grimm gefahren, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Sie hatte Glück gehabt, ihn anzutreffen, hatte ihr Grimm gleich zu verstehen gegeben. Normalerweise leite er um diese Zeit einen Gesprächskreis zum Thema »Alter als Chance«.
»Ich habe Frau Belolavek - Karin - sehr gemocht«, sagte Grimm. »Wir alle haben sie gemocht. Ich kann überhaupt nicht begreifen... Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein.«
»Das wissen wir eben nicht.«
»Was haben Sie denn bislang in Erfahrung gebracht? Oder dürfen Sie darüber nicht reden?«
»Genau. Ich darf Ihnen nicht sagen, was ich weiß, aber Sie müssen mir alles sagen, was Sie wissen. Ziemlich unfairer Deal.«
Der Pfarrer lächelte. »Also, fragen Sie mich. Ich werde mir Mühe geben.«
Mona nahm einen Schluck Kaffee. Die Pfarrei neben der Kirche war ein grauer, würfelförmiger Zweckbau mit niedrigen Decken und kleinen Zimmern. Auch dieser Raum, das Büro des Pfarrers, war klein und wirkte schäbig. Hier sollte Gott gehuldigt werden? Monas Kehle fühlte sich trocken an nach dem Gespräch mit Theresa Leitner. Gott konnte überall, selbst in der kleinsten Hütte, gepriesen werden, fiel ihr ein. Das Gesicht ihrer ehemaligen Religionslehrerin erschien schemenhaft vor ihrem inneren Auge und verschwand wieder. Sie spürte die Müdigkeit, die sie nach den Anstrengungen der vergangenen Tage einhüllte wie ein verführerisch warmes, weiches Tuch. Gähnend griff sie nach einem Schokoladenkeks und hielt irritiert inne, als sie das Gesicht des Pfarrers bemerkte.
»Zu früh aufgestanden?«
»Sicher. Wie üblich.« Es gab keinen Grund für ihre plötzliche Verlegenheit.
»Nehmen Sie ruhig von den Keksen.«
Bloß das nicht. Dann wäre der Teller ganz schnell leer. »Danke, nein. Können wir anfangen?«
»Sicher.«
»Wie lange kennen Sie Frau Belolavek?«
»Das sind sicher schon zwei Jahre. Wir wüssten überhaupt nicht, was wir ohne sie machen würden. Sie kann ganz toll mit den Kindern umgehen, sie kann super organisieren, und sie ist immer freundlich. Wir sind sehr froh, dass wir sie haben. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass sie...«
»Das hat bisher jeder gesagt.«
»Das kann ich mir denken. Sie ist ein wirklich wundervoller Mensch. Wenn sie gibt, gibt sie alles.«
»Haben Sie gewusst, dass sie eine Affäre hatte?«
Der Pfarrer schwieg ein paar Sekunden lang, scheinbar verblüfft. Dann sagte er: »Sollte das so sein, würde es mich nichts angehen.«
»Sie hat nie mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Unser Verhältnis war nicht so persönlich. Sie war einfach sehr nett. Jeder mochte sie.«
»Hat sie... War sie... Ich meine, wie wirkte sie auf Männer?«
»Was meinen Sie damit?«
»Attraktiv? Hat sie gern geflirtet? Das meine ich.« Wieder gab es da diesen Impuls bei ihr, die Augen niederzuschlagen und rot zu werden. Das war lächerlich, unprofessionell und peinlich.
»Eigentlich nicht«, sagte der Pfarrer. Er sah Mona weiterhin unverwandt an, seinerseits völlig unbefangen, den linken Arm locker auf die Sofalehne gelegt. »Nein. Ich glaube, Sie haben ein völlig falsches Bild von ihr. Sie sieht sehr gut aus und ist sehr liebenswürdig, aber das, was Sie da andeuten...«
»War sie gläubig?«
»Ich denke schon, aber das geht mich eigentlich auch nichts an. Wir fragen hier nicht nach der Konfession, oder ob jemand regelmäßig in die Kirche geht oder auf welche Weise er an Gott glaubt. Uns reicht es, wenn Menschen im Namen der Kirche helfen wollen. Das muss reichen, denn es gibt so wahnsinnig viel zu tun, und wir haben bei weitem nicht genügend Leute.«
»Was genau hat Karin Belolavek hier gemacht? Außer bosnischen Kindern Nachhilfe zu geben?«
»Albanischen Kindern. Aus dem Kosovo. Das war im Wesentlichen alles - und das ist ja auch schon sehr viel. Halt, Moment, jetzt fällt mir ein, dass sie manchmal auch unsere Lesungen mitorganisiert hat.«
»Lesungen?«
»Ja. Wir machen das ungefähr einmal im Monat. Ausgewählte Schriftsteller an ungewöhnlichen Orten. Manchmal sogar in der Kirche. Warum nicht? Die Akustik ist hervorragend, und ich kann da nichts Schlimmes dran finden.«
»Religiöse Schriftsteller?«
Diesmal lachte der Pfarrer frei heraus. »Bei der Hand voll, die es hier zu Lande gibt, wären wir immer wieder bei den gleichen Verdächtigen. Nein, diese Veranstaltungen dienen vor allem der Zerstreuung unserer Gemeindemitglieder, weniger der Missionierung. Da würde bald niemand mehr kommen. Es ist eher eine Frage des Honorars. Bestsellerautoren können wir nicht bezahlen.«
»Kann es sein, dass Frau Belolavek während dieser Veranstaltungen einen Mann kennen gelernt hat?«
»Natürlich ist das möglich. Andererseits kommen zu den Lesungen meistens nur Frauen.«
»Und die Autoren selber? Wäre da einer in Frage gekommen?«
»Schon möglich. Ich kann Ihnen die Namen zukommen lassen, wenn Sie mir ein, zwei Stunden Zeit geben. Welchen Zeitraum brauchen Sie?«
»Ich würde mal sagen, die letzten anderthalb Jahre. Geht das?«
»Kein Problem. Unsere Frau Peschel wird Ihnen das heraussuchen.«
»Gab es auch Männer, mit denen sie hier in der Gemeinde zusammengearbeitet hat?«
»Ja, ein paar. Wollen Sie die Adressen?«
»Ich will vor allem das Alter. Auch von den Autoren, bitte.«
Zurück im Auto klingelte ihr Handy.
»Hör mal, Mona, Lukas will heute nicht bei uns bleiben. Er will, dass du ihn gleich abholst.« Es war Lin, ihre Schwester.
»Was?« Lin hatte drei Kinder und wohnte um die Ecke von Mona. Normalerweise war Lukas gerne dort.
»Ja. Tut mir so Leid. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Er will sofort nach Hause. Zu dir oder zu Anton. Ganz egal, Hauptsache weg.«
»Scheiße. Kannst du nicht noch mal mit ihm reden? Wir haben um sechs Konferenz. Ich kann das nicht mehr abblasen.«
»Mona, was denkst du, was ich die letzte halbe Stunde gemacht habe? Lukas will heim. Unbedingt. Bitte hol ihn ab.«
»Ich kann jetzt beim bestem Willen nicht. Gib ihn mir mal.«
»Vergiss es. Er will nicht ans Telefon. Er will, dass du kommst.«
»Okay. Ich versuche, Anton zu erreichen.«
»Anton.« In Lins Stimme sammelte sich geballte Verachtung.
»Ich ruf dich gleich zurück.« Mona wählte Antons Nummer, klinkte ihr Handy in die Freisprechanlage und fuhr los, mitten in den Stau des Berufsverkehrs hinein. Es dämmerte bereits, und die Straßen glänzten vor Nässe. Bei Anton meldete sich niemand. Sie versuchte es mit seiner Handynummer und erreichte nur die Mailbox.
»Hallo, Anton. Es geht um Lukas. Bitte ruf an.« Sie bremste vor einer Ampel und zögerte, ob sie sich rechts zum Dezernat oder links in Lins Richtung einordnen sollte.
Es zerreißt mich, dachte sie plötzlich. Dieser ganze Mist zerreißt mich. Einen Moment lang sah sie den Pfarrer vor sich, sein gelassenes Lächeln, seine breiten Schultern, seine schönen Hände. Wäre ein Leben mit ihm weniger chaotisch? Geruhsamer, fröhlicher, stabiler? Sinnlose Frage. Sie öffnete das Handschuhfach und fischte eine halb volle Zigarettenschachtel heraus. Sie fummelte das Feuerzeug und eine Zigarette aus der Schachtel. Das Feuerzeug ging nicht an. Sie schüttelte es. Kein Saft mehr. Fluchend schleuderte sie es auf den Beifahrersitz.
Es muss sich was ändern. Irgendwas muss sich ändern.
Sie nahm das Feuerzeug wieder in die Hand und probierte es noch einmal. Plötzlich funktionierte es und produzierte eine Stichflamme, die ihr fast die Haare versengt hätte. Zwei Sekunden später rief Anton zurück und versprach ohne viele Fragen, Lukas von seinem Freund Vanicek abholen zu lassen. Vanicek. Mona nahm ein paar tiefe Züge und drückte die Zigarette anschließend wieder aus. Es war ihr nicht recht, dass Lukas schon wieder bei Anton übernachten würde, und wahrscheinlich wusste Lukas das auch ganz genau und stellte sich deswegen so an. Aber es war die beste Lösung für den Moment.
So sah ihr Leben aus: die beste Lösung für den Moment finden. Jeden Tag aufs Neue.
Um fünf nach sechs passierte sie das Tor zur Tiefgarage des Dezernats.