Kapitel 12

Es tut mir leid, dass ich dafür verantwortlich bin, dass Ihr Kind getötet wurde (Alex)

Sherman holte mich etwa zwei Blocks von Dylans Apartment entfernt ein. Ich hörte ihn rufen, lief aber weiter. Ich war zu sehr in Gedanken versunken und zu aufgebracht, um anzuhalten.

Er holte mich schließlich ein und passte seine Schritte den meinen an. Zunächst sagte er nichts. 

Es war ein kalter Nachmittag, etwas düster und hier und da lagen vereinzelte Blätter herum. Es passte genau zu meiner Stimmung.

Schließlich hielt ich abrupt an. Sherman ging noch zwei Schritte weiter, bevor er seinen Schwung gebremst hatte, dann drehte er sich um und sagte: „Ich bin überrascht, wie gut du damit umgehst.“

„Ich könnte ihn umbringen“, sagte ich.

„Zorn ist gut“, antwortete er.

„Ich kann nicht noch mehr weinen, okay? Er hat seine dumme Entscheidung getroffen.“

„Möchtest du darüber reden?“

„Nicht wirklich.“

„Dann leiste mir zumindest Gesellschaft.“

Ich holte tief Luft und schloss meine Augen. Ich konnte mich nicht auf meine Gefühle konzentrieren. Da war nur ein schwarzes Loch. Das machte mir Angst, mehr als alles, was ich bisher erlebt hatte. Woher hatte Dylan die Macht… einfach einen Teil von mir zu stehlen? Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis ich den Schmerz fühlen würde. Und ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn es soweit war. Vielleicht völlig zusammenbrechen?

Ich nickte ihm kurz zu. „In Ordnung.“

Also drehten wir uns um und gingen zu dem Coffeeshop. „Lass uns draußen sitzen“, sagte ich.

Er nickte, wir gingen hinein, bekamen unseren Kaffee und setzten uns dann auf die Stühle, die der Straße am nächsten waren. Er schlug ein paar Mal prahlerisch mit einem Päckchen Zigaretten gegen seine Hand, entfernte dann die Plastikhülle und zündete sich eine Zigarette an. 

Ich sagte: „Kann ich auch eine haben?“

Er blinzelte und reichte dann eine Zigarette rüber. „Ich hatte gedacht, du rauchst nicht.“

„Ich rauche auch nicht. Gib mir Feuer.“

Er schüttelte seinen Kopf. „Mir scheint, dass alle Leute heute dumme Entscheidungen treffen.“

„Leck mich am Arsch“, sagte ich, nahm dann sein Feuerzeug und versuchte die Zigarette anzuzünden. Ich nahm einen tiefen Zug, fühlte, wie er in meiner Kehle brannte und begann dann zu husten. 

„Hat Bloomberg das Rauchen vor Gaststätten nicht auch verboten?“

„Der kann mich auch mal am Arsch lecken“, sagte ich. „Gott, bin ich gemein.“

„Ja, na ja…“

Ich nahm einen weiteren Zug. Oh Gott, mir wurde schwindelig. 

„Sieh mal Alex… würde es dir helfen, wenn ich dir sage, dass das Ganze wahrscheinlich nur vorübergehend ist?“

Ich sah ihn an und sagte: „Nein, nicht wirklich.“

Er runzelte die Stirn und sackte dann in seinem Stuhl zusammen.

„Es würde nicht helfen, denn es ist nicht zur vorübergehend. Er mag seine Meinung morgen ändern oder übermorgen, oder nächste Woche, aber er hätte immer noch die gleichen Komplexe. Dass er nicht gut genug ist. Und sich selbst hasst.“

Er seufzte und ich zog erneut an der Zigarette. Jetzt fühlte ich mich wirklich angeheitert. „Wird man immer leicht high, wenn man raucht?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein… das passiert nur Leuten, die zum ersten Mal rauchen oder nur ganz selten.“

Ich denke ich habe gegrunzt. Das war ja enttäuschend. Warum rauchte man dann überhaupt?

„Was wirst du nun machen?“, fragte er.

Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich weiß es nicht.“

Er nickte und trank dann einen Schluck von seinem Kaffee. Er war auf seinem Stuhl zusammengesackt und starrte auf den Verkehr. „Ich hoffe, es ist nicht egoistisch, wenn ich dir sage, dass ich hoffe, du gibst ihn nicht auf. Dylan ist ein guter Mensch. Er ist nur… ziemlich durcheinander im Moment.“

Ich nickte und drückte dann meine Zigarette aus.

„Ich verstehe nicht, warum du diese Dinger rauchst“, sagte ich und legte meinen Kopf in meine Hände. „Ich fühle mich benommen.“

Für eine Weile sagten wir nichts, nur der Verkehr rauschte an uns vorbei. Ich war gefasst. Ruhig. Unnatürlicherweise. Ich war mir ziemlich sicher, dass das, sobald ich mich hinsetzte und die Gefühle zulassen würde, vorbei sein würde. Ich war noch nicht soweit zusammen zu brechen. Noch nicht. 

Ich sah zum Himmel hoch. „Nein, ich werde ihn nicht aufgeben. Aber ich werde mich… ich werde mich auch nicht täuschen lassen. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn wirklich, Sherman. Ich weiß nicht mal mehr was ich denken soll. Wie kann er nur so stur sein? Was ist, wenn er es sich morgen anders überlegt? Nehme ich ihn dann zurück, nur um bei seinem nächsten Tiefpunkt wieder verletzt zu werden?“

„Gott, ich brauche einen Drink“, sagte Sherman.

Ich nickte. „Ich auch. Aber ich habe heute alle Vorlesungen verpasst. Ich muss morgen fit sein.“

Er nickte und sagte dann: „Wenn es irgendwie hilft… Ach, Scheiße. Dylan wird das nicht gefallen. Aber, scheiß auf ihn. Ich schicke dir ein paar E-Mails. Vom letzten März, als er gerade ins Walter Reed Krankenhaus gekommen war. Ich denke du solltest sie lesen. Wenn es auch sonst nichts bringt, zumindest wirst du einen Einblick in den verrückten Mist bekommen, der in seinem Kopf vorgeht.“

Er holte sein Telefon raus und ich konnte sehen, wie er darin nach etwas suchte. „Okay“, sagte er. „Wie lautet deine E-Mailadresse?“

„Ähm… AlexLiebtErdbeeren, alles in einem Wort, at yahoo.com“

Er grinste. „Das ist lustig. Okay. Lösch sie einfach hinterher, oder so was, ja? Ich sollte sie dir eigentlich gar nicht schicken. Aber… schau. Er ist mein Freund. Und es bringt mich um zu sehen, was er sich antut.“

„Danke“, sagte ich.

„Geht’s dir gut genug, dass du klar kommst?“, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. „Was ist schon gut, wenn dein Herz auseinander bricht. Ich werde mich nicht umbringen, falls es das ist, was du fragen wolltest. Aber nein. Es gut mir nicht gut.“ Zum ersten Mal seit dem Gespräch mit Dylan brach meine Stimme. „Mir geht es gar nicht gut.“

Es gab nichts mehr zu sagen. Ich fragte ihn, wie lange er in der Stadt bleiben würde. 

„Ein paar Wochen. Zumindest war das der Plan. Ich weiß nicht, ob Dylan meine Gesellschaft noch will, aber meine ganzen Sachen sind bei ihm. Wir werden schauen was passiert, okay? Ich werde dich auf dem Laufenden halten. Nicht zuletzt muss ich versuchen zu verhindern, dass er ins Gefängnis kommt.“

Ich schluckte und sagte dann mit sehr leiser Stimme: „Danke.“

Wir standen auf, er umarmte mich ungeschickt und ich begann in Richtung des Wohnheims davon zu trotten. Ich konnte Dylan in Gedanken vor mir sehen: Dünn, erschöpft, blass, seinen Kopf an die Wand lehnend. Wie er mir sagte, das er mich vor sich beschützen müsse, dass er Schluss machte, weil er nicht gut genug war. Die Qual und der Schmerz in seinen Augen als er sich von mir zurückzog. 

Wenn ich jemals auch nur ansatzweise an seiner Liebe gezweifelt hatte, das war nun vorbei. Aber vielleicht war Liebe nicht genug. 

Ich bemerkte gar nicht, dass ich angefangen hatte zu weinen. Nicht, bis der Inhaber des Blumenladens an der Ecke der westlichen 108. Straße zum Broadway, mich sah. Er starrte mich an, zog dann eine einzelne Rose heraus und sagte: „Hey Mädchen. Die ist für dich. Was auch immer dich unglücklich macht… Ich hoffe das tröstet dich.“

Ich hielt verdutzt an und nahm die Rose entgegen.

„Danke“, sagte ich und weinte noch mehr. „Ich weiß das wirklich zu schätzen“, sagte ich, rieb mir die Tränen vom Gesicht und fühlte mich wie eine komplette Idiotin.

Er verbeugte sich im wahrsten Sinne des Wortes und ging dann zurück in seinen Laden. Ich lief weiter und erreichte das Wohnheim fünf Minuten später. Aber ich war noch nicht bereit mich Kelly zu stellen, also lief ich einfach weiter, bog an der 103. Straße rechts ab und ging bis zum Riverside Park. Ich war schon eine Weile nicht mehr dort gewesen, aber früher hatte ich dort gerne auf einer der Bänke gesessen – manchmal allein, manchmal mit Kelly – und auf den Fluss hinausgeschaut. 

Überhaupt, Kelly und ich hatten hier letztes Jahr an einigen Wochenenden gepicknickt, manchmal auch zusammen mit Joel. Dieses Jahr hatten wir das nicht ein einziges Mal gemacht, und ich wunderte mich nicht nur darüber, sondern auch über die Tatsache, dass ich, als Dylan mich nach meiner liebsten Aktivität in New York gefragt hatte, die schönen Zeiten hier nicht erwähnt hatte. 

Natürlich war die Antwort einfach. Ich hatte dieses Jahr die meiste Zeit damit verbracht, mich nach ihm zu sehnen. Mir Sorgen um ihn zu machen, da ich wusste, dass er in Afghanistan jeden Tag in Gefahr war. Und dann, als ich gar nichts wusste, nur, dass sein Name auf keiner der Gefallenenlisten erschienen war – die ich jeden Tag kontrolliert hatte – er aber trotzdem verschwunden war. 

Mein ganzes Leben hatte sich nur darum gedreht.

Also saß ich am Fluss, dachte nach und erinnerte mich. 

Ich erinnerte mich an das erste Mal, das wir uns geküsst hatten, auf der anderen Seite der Erde. 

Ich erinnerte mich daran, wie wir die Nacht, bevor wir Israel verlassen hatten, zusammen gesessen hatten. Er trug seinen schwarzen Trenchcoat, wir saßen auf einem großen Balkon und schauten uns an.

Ich fragte ihn, was er wollte. Wollte er, dass wir uns ein Versprechen gaben? War es vorbei, wenn wir wieder zu Hause waren? Würden wir zusammen bleiben, trotz der Entfernung? Was wollte er?

Er konnte nicht antworten. 

Ich erinnere mich, dass ich ihn auf die Brust geschlagen hatte und gerufen hatte: „Warum kannst du mir nicht sagen, was du fühlst?“

Er konnte es nicht. „Ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll“, hatte er gesagt. „Ich denke wir müssen einfach abwarten, was passiert.“

Also machten wir gar keine Pläne. Es war alles ein Durcheinander, keine Versprechungen aber wir liebten uns. Wir beide machten innerhalb von Tagen mit den Personen Schluss, mit denen wir zu Hause zusammen gewesen waren, aber selbst danach war alles so unklar.

Wenn ich daran denke, dass er weniger als neun Monate später seinem Drill Sergeant gesagt hatte, dass er mich heiraten wollte. Warum zur Hölle hatte er mir das nicht sagen können?

„Hey Baby, warum weinst du?“, fragte ein Typ auf seinem Fahrrad, der vor mir angehalten hatte. „Soll ich dich trösten?“

„Oh. Verpiss dich!“, antwortete ich.

„Miststück“, sagte er und fuhr davon.

Ich holte tief Luft. Ich war völlig durcheinander. Ich suchte in meiner Handtasche herum, fand ein nicht sehr sauberes Taschentuch und wischte mir das Gesicht ab. Dann holte ich mein Telefon hervor und begann zu lesen.

Zu Beginn ergaben die Mails keinen Sinn. Dann kapierte ich, dass die neuesten natürlich oben waren. Also scrollte ich bis nach unten und begann mich nach oben vorzuarbeiten. Und ich versuchte dabei, nicht völlig zusammenzubrechen.


24. März 2012

An: Ray.M.Sherman@hotmail.com

Von: Dylanparis81@gmail.com

Betreff: Was geht?


Unkraut,

ich bin im Walter Reed Krankenhaus. Sie sagen, dass ich mein Bein wohl behalten werde, aber es taugt absolut nichts mehr. Was ist bei dir so los? Wie geht es den anderen?

Ich vermisse Euch Typen mehr, als Ihr denkt.

Dylan Paris


25. März 2012

An: Dylanparis81@gmail.com

Von: Ray.M.Sherman@hotmail.com

Betreff: Re: Was geht?


Heilige Scheiße, es lebt! Hast du deinen Laptop ersetzt? Wie ist es im Walter Reed Krankenhaus? Ich bin sicher das Krankenhaus ist übel, aber ist das Essen wenigstens besser als hier? Uns geht es soweit ganz gut. Weber ist von ein paar verdammten Hadschis erwischt worden und Sergeant Colton wurde angeschossen. Colton ist schon wieder im Dienst und schwört die Hölle auf uns herab, weil wir mit ein bisschen Gin im Zelt erwischt wurden. Ich wette, er hat ihn uns weggenommen, um ihn selbst zu trinken.

Ich vermisse dich auch Kumpel. Es ist niemand mehr hier, mit dem es sich lohnt zu reden. Bogey erzählt immer nur über die Eroberungen, die er gemacht hat, Tag und Nacht, ohne Pause. Die einzige Eroberung, die er je wirklich gemacht hat, war mit seiner Hand. Wir haben ihn während einer Patrouille dabei erwischt. Ich meine, okay, im eigenen Schlafsack in der VOB, sicher, aber im Feld? Ich brauch eine verfluchte Pause. 

Hast du mal was von Alex gehört?

Schreib mir zurück und zwar bald, du Mistkerl. Wenn sie unseren Einsatz nicht verlängern, bin ich in sechs Monaten draußen. Oder so. Egal. Ich hasse diesen verdammten Ort. 

Ray


Ich konnte nicht anders, als über den Ton der E-Mails zu lachen, obwohl mein Herz bei dem Satz „Hast du mal was von Alex gehört?“ einen Satz gemacht hatte. Sie klangen genauso wie Dylan und Sherman miteinander sprachen. Ich las weiter, arbeitete mich mit jeder Mail langsam nach oben vor.


25. März 2012

An: Ray.M.Sherman@hotmail.com

Von: Dylanparis81@gmail.com


Unkraut,

es tut mir Leid, das über Weber zu erfahren. Wow, ich wünschte ich hätte die Möglichkeit gehabt mich zu verabschieden. Oder irgend so etwas. Ich bin am überlegen, ob ich Roberts Eltern besuchen soll, wenn ich aus dem Krankenhaus komme. Aber ich weiß nicht so recht, vielleicht sollte ich lieber weg bleiben. Wie sagt man einer Mutter, „Es tut mir leid, dass ich dafür verantwortlich bin, dass Ihr Kind getötet wurde“?

Was Alex angeht, es ist vorbei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die ganze Sache inszeniert hatte. Aber mal ehrlich, ich hätte mich niemals in sie verlieben dürfen. Sie steht viel zu weit über mir. Ich hasse es, aber so ist das Leben.

Sag Sergeant Colton, ich hatte zwei Liter Wodka in meinen Reisetaschen, und ich möchte den Scheiß zurück. Ich weiß, dass er sie heraus genommen hat, bevor sie meine Sachen hergeschickt haben.

Dylan


01. April 2012

An: Dylanparis81@gmail.com

Von: Ray.M.Sherman@hotmail.com


Hör auf mich Unkraut zu nennen, Mr. Frauenheld.

Um beim Thema zu bleiben: Du solltest mal mit etwas Abstand die Bilder von dir und Alex anschauen. Ja, sie ist vielleicht über dich hinweg. Aber, wenn ich du wäre, würde ich versuchen sie zurückzuerobern. Ernsthaft.

Was Roberts angeht: Sei kein Arschloch. Du bist nicht für seinen Tod verantwortlich, das sind die Hadschis. Es ist nicht deine Schuld, Kumpel. Wenn wir nicht auf dieser Patrouille gewesen wären, wäre es jemand anderem passiert. Und die wären genauso tot. 

Also, mal ernsthaft, versteh mich nicht falsch. Aber geh zu einem Psychiater. Am besten gleich morgen. Du hast einen ziemlichen Schlag auf den Kopf bekommen, und was du mir schreibst, beunruhigt mich.

Dein Freund

Ray


PS: Tut mir leid, dass meine Antwort so lange gedauert hat. Wir waren auf einer verfluchten 5-Tagespatrouille. Sie sagen Lieutenant Egger hat uns dafür freiwillig angemeldet, dieser Scheißkerl.

Und erzähl mir keinen Schwachsinn über Wodka. Seit wann trinkst du?


01. April 2012

An: Ray.M.Sherman@hotmail.com

Von: Dylanparis81@gmail.com


Ray,

hör mir zu Kumpel. Wir sind Freunde. Aber bitte schreib mir nichts mehr über Alex. Ich würde nur ihr Leben ruinieren. Wir sind einfach zu verschieden. Manchmal denke ich, ich werde so wie mein Vater enden. Bis meine Mutter schlau wurde und ihn rausgeschmissen hat, hat er sie geschlagen, wenn er betrunken war. Und deshalb, mein Freund, trinke ich keinen Alkohol.

Ich sag dir, in diesem Krankenhaus zu sein, ich glaube ich brauche wirklich bald einen Psychiater. Außer meiner Mutter, die fast jeden Tag zu Besuch kommt, ist es ziemlich ruhig hier. Die Krankenschwestern und Ärzte kommen und gehen. Sie machen Tests. Und ich schaue fern und lese. Das ist alles. Viel Zeit zum Nachdenken. Und zum Nachdenken. Und zum Nachdenken. Kumpel, ich werde jetzt ein paar Sachen schreiben, über die ich nachdenken und reden muss und du bist auserwählt zuzuhören. Denn, da ist niemand anderes.

Alex hat mir einen Haufen E-Mails geschickt. Direkt nachdem ich den Laptop beschossen hatte und am nächsten Tag und am übernächsten Tag. Jeden Tag, für ein bis etwa eineinhalb Wochen, dann eine pro Woche. Dann keine mehr.

Ich habe sie nicht gelesen. Jedes Mal, wenn ich mein E-Mailpostfach öffne, sind sie da. 16 ungelesene E-Mails. Ich bin sicher sie hasst mich inzwischen.

Ich bin auch sicher, dass es besser so ist. Du sagst ich soll es mir noch mal überlegen. Aber meine Entscheidung steht. Ich liebe sie mehr als mein eigenes Leben, Sherman. Aber sie ist schlau und schön und geht auf eine super Uni, und sie hat ihr ganzes Leben noch vor sich. 

Ich habe eine E-Mail von ihrem Vater bekommen. Er ist ein echtes Schätzchen. Ein ehemaliger Botschafter, der seine Tentakel gerne überall drin hat. Als ich sie damals in San Francisco besucht habe, nahm er mich irgendwann beiseite um mir zu sagen, was für ein wertloses Stück Scheiße ich war. Das ich nicht mal annähernd gut genug für seine Tochter wäre. Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass er meinen Hintergrund hat überprüfen lassen? Und den meiner Eltern. Ich bin sicher, er hat ein paar schöne Sachen über meinen Vater herausgefunden. Er schrieb mir in seiner E-Mail, dass ich mich, zur Hölle noch mal, von ihr fernhalten solle. ‚Lass sie glauben du wärst tot. Das ist besser für Euch beide.’

Die Sache ist die, er hat Recht. Sie hat die Chance auf ein schönes Leben. Ich dagegen, bin ein behinderter Veteran, der Krampfanfälle, Blackouts und Flashbacks hat. Manchmal wache ich nachts schreiend auf. Denn ich habe immer wieder den gleichen Traum. Wir fahren diese dreckige Scheißstraße entlang, und ich kann die Bombe sehen, sie liegt ganz offen da. Und ich kann es nicht verhindern. Wir fahren direkt auf sie zu und über sie hinweg, ich greife nach dem Steuer und dann ist es zu spät. Bumm. Roberts ist verdampft, etwa 8 Liter seines verfluchten Blutes haben sich über mich ergossen und dann wache ich plötzlich auf, öffne die Augen und schreie mir die verdammte Kehle aus dem Hals. Sie kommen und geben mir Beruhigungsmittel und dann ist Ruhe. Bis zur nächsten Nacht.

Nach dieser Sache bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Das hat sie nicht verdient. Sie braucht mich nicht in ihrem Leben, um sie herunterzuziehen, und für sie auch noch alles zu ruinieren. 

Ray, ich liebe Alex, mehr als du dir vorstellen kannst. Und weil ich sie liebe, werde ich sie in Ruhe lassen und ihr die Möglichkeit geben mich zu vergessen. Alles Andere würde sie nur verletzen. Und ich würde mich eher selbst umbringen, als ihr auch nur ein Haar zu krümmen. Und das ist nicht nur eine leere Drohung. 

Also, kein weiteres verdammtes Wort über Alex, okay? Die Sache ist erledigt.

Dylan


01. April 2012

An: Dylanparis81@gmail.com

Von: Ray.M.Sherman@hotmail.com


Kumpel,

Deine Mail hat mich zum weinen gebracht, wie ein kleines Kind.

In Ordnung. Ich werde Alex nicht mehr erwähnen. Aber du versprichst mir verdammt noch mal besser, dass es dir bald besser gehen wird. Hörst du mich? Es ist mir scheißegal, wie schlecht es dir gerade geht. Sieh zu, dass es besser wird. Steh deinen Mann. Mach, was auch immer nötig ist um in deinen Kopf zu bekommen, dass du a) ein guter Mensch bist und b) etwas Besseres, als die Scheiße, die du beschrieben hast, verdienst und c) NICHT für Roberts verdammten Tod verantwortlich bist.

Kumpel, sieh zu, dass du Hilfe bekommst.

Scheiß auf die Army

Ray


Oh Gott. Ich vermisste Dylan. Ich liebte ihn. Aber ich wusste nicht wie ihm helfen sollte. Ich wusste nicht, ob das überhaupt jemand konnte. Nicht solange er sich nicht helfen lassen wollte. Und die Sache mit meinem Vater, ich hatte keine Ahnung. Dad und ich würden uns unterhalten, wenn ich über die Ferien nach Hause fuhr. 

Ich googlete ein wenig. „Wie helfe ich einem Freund mit PTBS?“ Aber um ehrlich zu sein, war das kaum eine Hilfe. Es war alles nur allgemeines und unbrauchbares Zeug. Nehmen sie das Verhalten nicht persönlich. Haben Sie ein dickes Fell. Ja, klar. Verurteilen Sie nicht. Lieben Sie die Person. 

Lieben Sie die Person. 

Oh Gott. Ich konnte nicht aufhören ihn zu lieben. Aber ich konnte ihm auch nicht helfen.

Die Sonne ging unter, an diesem Tag, der vermutlich der längste und traurigste meines Lebens war. Ich stand auf, packte mein Telefon weg, nahm meine Rose und begann zum Wohnheim zurück zu gehen.



Wie kannst du nur so lässig damit umgehen (Dylan)


Als der Wecker am nächsten Morgen klingelte, stand ich wie üblich auf. Wirklich, ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Weiter machen. Vorlesungen besuchen. An der Gerichtsverhandlung teilnehmen. Egal. 

Es war dunkel, ruhig und bitterkalt. Vom Hudson River kam ein eisiger Wind, der den Park vor der Bibliothek zu einem Windkanal machte. Ich hoffte, dass es nicht schon bald schneien würde. In der Zwischenzeit trug ich meine Armyjogginghose, zog die Kapuze über meinen Kopf, ging da raus und begann mit dem Aufwärmen.

Ich war inzwischen recht geschickt dabei, Liegestützen nur mit der linken Hand zu machen, aber ich hoffte, dass meine Rechte bald wieder in Form sein würde. Ich musste deshalb einen Arzt aufsuchen und zwar sehr bald. Ich hatte am Montag meinen Termin am VA-Krankenhaus verpasst, weil ich im Gefängnis gewesen war, aber ich würde am Mittwoch wieder dort sein. Vielleicht würde ich wieder einen Gips bekommen.

Ich war gerade dabei Liegestützen zu machen, als ich Schritte hörte. Ich fuhr fort, schaute aber nach oben.

Es war Alex. Sie trug eine Jogginghose und Laufschuhe und sie begann sich aufzuwärmen. So, als wäre das ein ganz normaler Morgen.

Oh Gott.

Ich machte weiter meine Liegestützen bis ich hundert erreicht hatte, rollte dann herum und begann meine Beine zu strecken.

Sie sagte kein Wort.

Ich sagte kein Wort.

Ich wusste nicht, was sie dachte. Das ich einfach meine Meinung ändern würde? Sie verstand das nicht. Es war nicht so, dass ich sie nicht gewollt hätte. Gott, ich wollte sie mehr als alles andere auf der Welt. Außer ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. Und das würde sie mit mir nicht haben.

Schließlich stand ich auf, fertig zum loslaufen. Ich sagte: „Ich brauche inzwischen eigentlich keinen Aufpasser mehr.“

Sie sah mir in die Augen und sagte: „Ich bin nicht wegen dir hier, sondern wegen mir.“

Ich schüttelte meinen Kopf und begann loszulaufen. Sie lief auch los, in ihrem normalen Laufschritt, mit mir mithaltend. Ich knirschte mit den Zähnen. Warum musste sie es mir so schwer machen? Warum konnte sie nicht akzeptieren, dass es vorbei war? Sie konnte so ein wundervolles Leben haben.

Als wir die 101. Straße erreichten, war ich schon ziemlich schnell und wurde noch schneller. Sie blieb direkt neben mir, als ich in die 101. Straße abbog und in Richtung Central Park weiter lief. Der Verkehr begann gerade dichter zu werden, Taxis und Pendler von Connecticut und weiß Gott wo. Wer zur Hölle fährt überhaupt mit dem Auto in die Innenstadt von New York? Verrückt.

Ich hielt an einer roten Ampel, schräg gegenüber des Parks, und rannte auf der Stelle bis es grün wurde.

Obwohl ich langsam atemlos wurde, begann ich, halb zu mir selbst, zu reden. 

„Ich war sechs, als er das erste Mal betrunken nach Hause kam und sie geschlagen hat. Ich weiß nicht, worum der Streit ging… Ich denke er hat seinen Job verloren, oder so was. Sie waren beide verfluchte Säufer und wahrscheinlich ist er deshalb gefeuert worden. Aber ich erinnere mich, wie ich da saß, etwa eine Woche nachdem ich in die erste Klasse gekommen war. Wir waren gerade dabei, in der Küche dieses schäbigen Apartments in Chamblee, direkt außerhalb von Atlanta, Brownies zu backen.“

Atmen. Ich hielt in meinem Monolog inne, und war mir nicht sicher, ob sie überhaupt zuhörte. „Egal. Sie hatten diese Bilder, von ihnen beiden zusammen. Glücklich und so. Ob du es glaubst oder nicht, Sie waren zusammen zur High School gegangen. Wurden ein Paar und heirateten. Egal, an diesem Tag kam er nach Hause und war sauer. Ich konnte es spüren und ich wurde sehr still. Aber ich wollte ihm zeigen, was wir taten. Also nahm ich einen Löffel, tauchte ihn in den Teig und trug ihn laut rufend ins Wohnzimmer. Ich weiß nicht mehr, was ich rief. ‚Dad, schau mal was wir gerade machen?’ Irgend so was. Und der verdammte Teig… es war zuviel auf dem Löffel und er tropfte auf den Teppich.“

Wir hatten inzwischen fast die Hälfte der Längsseite des Parks geschafft und obwohl wir immer noch nicht sprinteten, waren wir schon ziemlich schnell. Ich warf einen Blick zu ihr rüber und ihr Gesicht war hellrot. Tja, ich hatte sie nicht darum gebeten mitzukommen.

„Egal“, fuhr ich etwas langsamer fort und machte lange Atempausen zwischen den Sätzen. „Mein Vater… stand auf und begann zu schreien. Weil ich den Teppich verhunzt hatte und dass wir dafür würden bezahlen müssen. Und sie eilte zu meiner Verteidigung. Meine Erinnerungen sind dann ziemlich durcheinander, das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass er sie schlug, ihr einen Kinnhaken verpasste. Sie fiel hart zu Boden. Und ich hielt meine Mutter fest und schrie ihn an, sagte ihm, dass er meine Mutter in Frieden lassen soll.“

Ich verzog das Gesicht, denn ich bemerkte wie eine Träne über meine Wange lief. Ich wischte sie schnell fort. „Die Sache ist die… Menschen lieben sich, aber es bleibt nicht immer so. Manchmal verletzen sie sich auch.“

Sie schnaubte und sagte dann. „Ja, damit kenne ich mich aus.“

Scheiße.

Ich wurde noch schneller. Ich gab nun wirklich alles, rannte so schnell ich konnte und sie hielt immer noch mit mir Schritt. Ich rannte die linke Kurve, um das südliche Ende des Parks, so schnell es nur ging, Alex war neben mir und ein Schwarm Vögel flog auf, als wir durch ihn durch liefen.

Das war meine normale Laufroute, aber ich rannte sie niemals in dieser Geschwindigkeit. Ich war total erschöpft, saugte Luft in meine Lunge und es begann wirklich weh zu tun. Nach der nächsten Biegung stolperte ich, fing mich wieder und lief weiter, jetzt in nördlicher Richtung an der Ostseite des Parks, die Fifth Avenue entlang. 

Als der Wasserspeicher in Sicht kam, wusste ich, ich würde nicht mehr weiter rennen können. Ich verlangsamte meinen Schritt, stieß meinen Atem mit lautem Keuchen aus, meine Brust zitterte und die Beine fühlten sich an wie Gummi.

Alex wurde langsamer und rannte auf der Stelle neben mir her weiter. 

„Zu viel?“ fragte sie.

Ich schüttelte meinen Kopf, war plötzlich sauer. Sie wusste, was ich für sie fühlte. Es war so, als ob sie mich foltern wollte. In Sicht zu bleiben, obwohl sie wusste, dass ich die Entscheidung getroffen hatte um sie zu beschützen.

„Was willst du von mir Alex?“ schrie ich sie an.

Sie hörte auf zu rennen, und passte ihre Geschwindigkeit der meinen an. Sie sah ernst aus, daher traf das, was sie sagte, mich aus heiterem Himmel. 

„Ich möchte, dass du mir Nahkampftechniken beibringst. Selbstverteidigung.“

„Was?“, fragte ich mit ungläubiger Stimme.

„Ich meine es Ernst. Ich bin in eineinhalb Jahren an der Uni, zweimal sexuell bedrängt worden. Das nächste Mal, wenn mich jemand angreift, wird er es bereuen.“

Ich schüttelte total verblüfft meinen Kopf. „Du meinst das wirklich ernst?“

Sie nickte. „Ja. Und da es so aussieht, als ob ich bald wieder auf Partnersuche gehen werde, na ja… in der Vergangenheit habe ich keine so guten Erfahrungen dabei gemacht.“

Ich zuckte zusammen und fühlte einen stechenden Schmerz. Meine Augen wandten sich von ihr ab. Der Gedanke, dass sie mit jemand anderen ausgehen würde, egal wem, am liebsten hätte ich laut aufgeheult.

„Um Gottes Willen, Dylan, schau mich nicht so böse an.“

Ich blieb auf der Stelle stehen und drehte mich zu ihr um. „Wie kannst du nur so lässig damit umgehen?“

Sie schüttelte ihren Kopf, ihr Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Verärgerung und Enttäuschung. „Ich gehe mit gar nichts lässig um, Dylan. Aber du hast mir die Entscheidung abgenommen. Du hast nicht mit mir darüber geredet. Du hast beschlossen, dass du alle Entscheidungen alleine triffst. Tja, schluck es runter. Ich werde nicht noch ein Jahr wegen dir weinend in meinem Zimmer verbringen. Das ist vorbei.“

Sie hatte Recht und ich verdiente es, dass sie mir das vorwarf. Aber es tat weh. Es tat weh, sie so sauer zu sehen. Es tat weh zu wissen, dass sie bereit war zu versuchen, einfach so darüber hinwegzukommen, auch wenn ich mir immer wieder sagte, dass es das war, was ich wollte.

Ich wusste nicht was ich wollte.

„In Ordnung“, sagte ich und mein Mund war mal wieder schneller als mein Hirn.

„Was?“

„Ich sagte in Ordnung. Ich werde dir beibringen, was ich weiß.“

Sie schaute mich skeptisch an und nickte dann einmal.

„Wann?“ fragte ich.

Sie sah mich an und sagte dann. „Dienstags, donnerstags und samstags habe ich morgens schon was vor. Da gehe ich laufen. Was wäre mit Montag, Mittwoch, Freitag?“

Da ging sie laufen? Oh, um Gottes Willen. Sie würde mich noch wahnsinnig machen.

„Du bist verrückt“, sagte ich.

„Also, wenn du es nicht machen möchtest, frage ich jemand anderen. Ich bin sicher, ich kann irgendwo einen Kurs oder so was machen.“

Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein, ich mache es. Mittwochmorgen, 6:00 Uhr. Sei pünktlich.“

Sie nickte, ihr Gesicht war immer noch todernst und sie sagte: „Ich werde da sein.“

Sie drehte sich um und rannte davon. Ich sah ihr hinterher, und bewunderte ihre Dreistigkeit und ihren Mut. Während ich ihr dabei zusah, wie sie sich langsam entfernte, konnte ich nur daran denken, dass ich alles für sie tun würde. Wirklich alles. Und ich wollte ihr hinterher rennen und ihr sagen, dass ich Unrecht hatte, und sie anbetteln mich zurückzunehmen. Aber dafür war es zu spät. Liebe bedeutete viel. Sie bedeutete alles, und sie bedeutete nichts.