Kapitel 8

Wir nennen ihn Unkraut (Alex)

Als der Wecker am Samstagmorgen klingelte stöhnte ich, rollte auf die andere Seite, rieb mit meiner Hand über Dylans nackten Oberkörper, und fühlte dabei seine ausgebildeten Muskeln. Ich öffnete langsam meine Augen, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie er seine rechte Hand, die immer noch in Gips war, ausstreckte und auf den Wecker einschlug. Der Wecker flog davon und ging aus. 

Ich legte mein Gesicht auf seine Brust. Ich konnte sein Herz schlagen hören, und sein Atem war auch schon von den tiefen Atemzügen eines Schlafenden in den Normalmodus übergegangen. Ich schloss meine Augen und murmelte: „Lass uns das Lauftraining heute ausfallen lassen.“

Er war hellwach, der Bastard. Ich kannte niemand anderes, der einfach am Morgen seine Augen öffnete und sofort munter war.

„Das kann ich nicht machen, Baby. Ich habe einen nicht wirklich netten, ehemaligen Marinesoldat im Nacken sitzen. Wenn ich nicht laufe, dann findet er es irgendwie raus.“

Ich kicherte. Er hatte schon oft über Jerry Weinstein, seinen Physiotherapeuten gesprochen. Meistens ziemlich abfällig. Daher wusste ich, dass Dylan ihn wirklich mochte.

„Du kannst hier bleiben und weiterschlafen, wenn du möchtest, Liebes. Ich werde bald zurück sein.“

„Nein“, sagte ich. „Ich komme mit.“

Ich rollte mich aus dem Bett und kontrollierte, dass das zu große T-Shirt, das ich an hatte, alles bedeckte und trat dann aus Dylans Zimmer in das Apartment, dass er mit zwei postgraduierten Studenten teilte. Einmal kurz durch den Flur und zurück, und ich hatte meine Zähne geputzt und mich umgezogen.

Als ich zurück in seinem Zimmer war, hatte er sich schon sein graues Army-T-Shirt und Shorts angezogen. Heute Morgen würde es ziemlich kalt sein, aber er würde schnell genug warm werden. Ich war jedoch nicht so verrückt, der Novemberkälte in Shorts zu trotzen. Ich trug eine pinkfarbene Jogginghose, die ich mir vor ein paar Wochen gekauft hatte. 

Seit der Nacht im Krankenhaus waren zwei Wochen vergangen. Zwei Wochen, seitdem wir zum ersten Mal als Erwachsene Arm in Arm eine Nacht zusammen verbracht hatten. 

Um ganz ehrlich zu sein: Das waren, seit der Reise nach Israel, in meinem ersten Jahr an der High School, die glücklichsten Wochen meines Lebens.

Zu Kellys großer Verärgerung, hatten Dylan und ich fast jede freie Minute miteinander verbracht, und an den Wochenenden schlief ich hier in seinem Apartment. An drei Morgen gingen wir immer noch Laufen. Inzwischen, nach acht Wochen, machten wir keine halben Sachen mehr. Keine Dreiblockdistanzen: stattdessen liefen wir den Broadway runter bis zur 110. Strasse, dann seitlich zur Central Park West und dann liefen wir die gesamte Länge des Parks entlang und zurück. Das waren etwa elf Kilometer und ich war besser in Form, als jemals zuvor in meinem Leben. 

Ich würde vermutlich nicht viel weiter gehen, aber es kam mir so vor, als ob er gerade erst anfing. Letzte Woche hatte er darüber gesprochen, vielleicht an einem Marathon teilzunehmen.

Als wir auf Zehenspitzen zur Tür gingen um seine Zimmergenossen, die ich immer noch nicht kennen gelernt hatte, nicht zu wecken, konnte ich sehen, dass es seinem rechten Bein sichtbar besser ging, als bei unserem ersten Training vor zwei Monaten. Seine Beine sahen immer noch nicht gleich fit aus, aber langsam wurde es. Und trotz der vielen Narben, waren sie unheimlich sexy.

Wie immer begannen wir damit, uns warm zu machen und dann langsam loszulaufen. Als wir die 110. Straße erreichten, begann er schneller zu werden.

„Zu welcher Zeit wird deine Schwester… ähm…ähm… Mist. Das Wort fällt mir nicht ein.“

„Landen?“

„Ja, zu welcher Zeit wird deine Schwester landen?“

„15:00 Uhr, ich habe ihr versprochen sie am Flughafen abzuholen.“

„Okay.“

Dann rannten wir eine Weile ohne etwas zu sagen. Das passierte ihm hin und wieder. Er vergaß einfach ganz normale Wörter. Dylan sagte, das wäre ein Nebeneffekt der Hirnverletzung, die er durch die Bombe, die seinen besten Freund getötet hatte, erlitten hatte. Er sprach nicht gern davon, aber wenigsten sagte er überhaupt etwas, das war schon ein Fortschritt. 

An diesem Nachmittag würde Carrie, eine meiner älteren Schwestern, nach New York kommen. Sie hatte vor zwei Jahren einen Abschluss an der Columbia Universität gemacht, es war für sie also so eine Art Heimkehr. Sie sagte es wäre nur ein Besuch, aber ich hatte so ein Gefühl, dass sie hergeschickt worden war, um nach mir zu sehen. Denn, nun ja, meine Familie war so. 

Das ist in Ordnung. Obwohl wir einen Altersunterschied von sechs Jahren hatten, kamen Carrie und ich gut miteinander aus. Fünf Schwestern zu haben ist manchmal ein Segen, aber oft auch ein Fluch.

Sie würde ausrasten, wenn sie wüsste, dass ich morgens elf Kilometer rannte. Es war völlig untypisch für mich, wenn man meine frühere Abneigung gegen Sport und alles was damit zu tun hatte, bedachte. Und das ermutigte mich. So verrückt es auch war, ich wurde richtig berauscht davon. Wir sprachen nicht miteinander, sondern liefen einfach nebeneinander her, danach duschten wir und gingen frühstücken.

Kelly sagte, dass Dylan mich verhext hätte. Letztes Jahr war ich frühestens um 10:00 Uhr aufgestanden.

Um 7:30 Uhr waren wir zurück bei seinem Apartment. Und auf der obersten Stufe saß ein Mann. Er hatte einen Bürstenhaarschnitt, trug Jeans und T-Shirt und lehnte mit dem Rücken gegen die Tür, den Mund geöffnet, und schlief. 

„Heilige Scheiße“, murmelte Dylan. Dann rannte er zu ihm hin.

Ich war höchst erstaunt darüber, was als Nächstes geschah. Langsam streckte er seine Hand aus und hielt sich die Nasenlöcher zu, dann lehnte er sich vor und schrie: „Wach auf, Unkraut!“

Der Typ sprang sofort auf, sah dann Dylan und schrie: „Heilige Scheiße! Es ist der Frauenheld!“, und umarmte Dylan dann stürmisch.

Sie knurrten einander an und fletschten die Zähne, dann hob Sherman, der etwa fünf Jahre älter und einen Kopf größer als Dylan war, Dylan hoch und wirbelte ihn herum. Wie eine Ballerina, knurrend und lachend.

„Oh Mann, was machst du hier?“, fragte Dylan als Sherman ihn absetzte. 

„Endgültige Entlassung, Baby! Und ich werde mich so sehr betrinken, dass ich blind werde. Die New Yorker Frauen nehmen sich besser in Acht denn: Ich. Bin. Hier!“

Dylan schüttelte seinen Kopf, lachte und sagte dann: „Alex, das ist mein so genannter Freund Ray Sherman. Sherman, das ist Alex Thompson.“

Ich lächelte ihn an und ging auf ihn zu. Seine Augen weiteten sich ein bisschen und dann sagte er mit einem Seitenblick zu Dylan: „Die Alex?“

Dylan nickte und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Sherman drehte sich zu mir um, und sagte: „Wow. Ich bin so froh dich endlich kennen zu lernen, Alex. Dylan hat seit ich ihn kenne nur über dich gesprochen, aber… wow. Er hat sogar noch untertrieben.“

Ich wurde rot und lächelte ein wenig. „Es ist schön dich kennen zu lernen. Dylan hat auch ein bisschen über dich gesprochen.“

Er schüttelte den Kopf: „Glaube nichts, was er dir über mich erzählt hat. Es sind alles Lügen.“

„Ich bin sicher, das stimmt nicht“, sagte ich.

„Huh. Du kennst Paris anscheinend nicht so gut, wie du denkst. Ich wette er hat dir nicht gesagt, wie stark und männlich ich bin.“

Ich zuckte mit den Schultern und grinste: „Er sagte du wärst echt süß.“

Sherman lachte laut los und legte dann einen drauf: „Oh Mann, jetzt hat sie uns beide erwischt, Dylan. Ich mag dieses Mädchen. Wie hast du sie noch mal kennen gelernt?“

Dylan lächelte mich an und sagte: „Wir haben uns in einem Flugzeug getroffen.“

„Mann, ich sollte öfter fliegen. Also was hast du geplant?“

Dylan kicherte: „Ich hatte nicht so schnell mir dir gerechnet. Ähm… Wir holen Alex’ Schwester heute Nachmittag vom Flughafen ab, sie kommt für ein paar Tage zu Besuch. Alex schleppt mich heute Abend mit auf eine Party. Du solltest mitkommen, damit ich jemanden zu reden habe. Im Moment gehen wir kurz duschen und dann frühstücken. Kommst du mit?“

„Essen! Na logisch. Alex, wirst du mich deiner Schwester vorstellen?“

„Natürlich“, sagte ich.

„Fantastisch. Dann lasst uns mal gehen.“

„Versprich mir, dass du im Apartment ruhig bist“, sagte Dylan. „Meine Zimmergenossen sind um diese Uhrzeit noch nicht mal lebendig.“

„Was zur Hölle ist ruhig?“, fragte Sherman laut.

Dylan sah ihn an, und Sherman lächelte und tat dann so, als würde er seine Lippen mit einem Reißverschluss schließen.

Wir betraten das Apartment und Dylan zeigte Sherman wo er seine Taschen hinstellen konnte. Ich ging zuerst Duschen, Dylan hielt mich im Flur auf und fragte: „Ist das okay? Ich weiß, dass deine Schwester zu Besuch kommt. Ich hatte Sherman nicht vor nächster Woche erwartet. 

Ich küsste ihn auf die Wange. „Natürlich ist das okay.“

Er grinste: „Du wirst Sherman lieben. Er ist ein super Kerl.“

„Ich denke ich mag ihn jetzt schon.“

Fast eine Stunde später frühstückten wir in einer Nische im hinteren Teil von Tom’s Restaurant.

Ich saß rechts von Dylan und Sherman saß uns gegenüber. 

„Also“, sagte Sherman, „wenn Ihr nichts sagen möchtet, müsst Ihr das auch nicht. Aber, nachdem ich mir zwei Jahre lang die Geschichte Eurer Liebe und Eures Liebeskummers angehört habe, bin ich echt neugierig. Das Letzte, das ich weiß ist, dass Ihr Euch getrennt habt und Dylan danach damit beschäftigt war sein Laptop in die Luft zu jagen. Wie seid Ihr wieder zusammengekommen?“

„Ich werde dir antworten, aber du musst mir erzählen warum du ihn… wie war das noch? Frauenheld? nennst?“ Ich grinste, als ich ihm die Frage stellte.

Er lachte los. „Abgemacht“, sagte er.

„Oh nein“, sagte Dylan. „Das wirst du nicht tun.“

„Zu spät, Alter. Ich habe der Lady ein Versprechen gegeben, und ich halte meine Versprechen.“

Dylan verdrehte die Augen und trank dann seinen Kaffee.

„Na ja“, sagte ich. „An meinem zweiten Tag in diesem Semester ging ich durch den Flur zu meinem Job als studentische Hilfskraft, und da lauerte dieser mürrisch aussehende Typ im Dunkeln. Und die ersten Worte, die er sprach waren so was wie ‚Fass mich nicht an.’ Und es war Dylan, die Liebe meines Lebens. Eins führte zum anderen und hier sind wir nun.“

„Das kann noch nicht alles sein.“

Ich lachte. „Da ist noch ein bisschen mehr. Ich musste ihn eines Nachts ins Krankenhaus bringen, nachdem er mit der Faust auf eine Wand eingeschlagen hatte.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Das klingt schon eher nach Dylan.“

Ich fragte: „Wie war das mit seinem Laptop?“

Er kicherte. „Ich weiß nicht, ob ich diese Geschichte erzählen soll.“

„Das solltest du besser nicht“, sagte Dylan.

„Jetzt musst du sie erzählen“, konterte ich.

Sherman hob seine Arme und zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, Paris. Aber der Bitte der Lady, stehe ich machtlos gegenüber.“

Er drehte sich zu mir um, und grinste. „Paris war dafür bekannt ein bisschen, ähm, dramatisch zu sein. Am Tag als Ihr Euch getrennt habt, saß er ruhig an seinem Laptop. Nachdem er mit dem, was er machte fertig war, schloss er ihn ruhig. Dann stand er auf und schmiss den Laptop vom Tisch. Ich hätte fast ein Purple Heart, die Verwundetenauszeichnung der Army, wegen der herumfliegenden Splitter des Laptopgehäuses bekommen.“

„Das hättest du nicht, du Idiot“, sagte Dylan. Er rutschte auf seinem Stuhl herum, das Ganze war ihm sichtlich unangenehm. 

„Egal“, sagte Sherman. „Er hatte offensichtlich noch nicht genug Schaden angerichtet. Also nahm er den Laptop in eine Hand, und sein Gewehr in die andere. Dann sagte er, so ruhig wie immer, ‚Ich geh ne Runde spazieren’. Logischerweise waren wir ziemlich neugierig, also folgten wir ihm. Er ging an den Zaun und lehnte den Laptop an einen Metallpfosten. Dann trat er 20 Meter zurück, hob sein Gewehr und jagte ein dreißiger Magazin in den Laptop. Natürlich war danach das ganze Camp im Aufruhr, wir befanden uns in der Mitte der Provinz und es wurde geschossen. Alle waren auf höchster Alarmstufe und rannten zu ihren Notfallposten in die Bunker, und waren voller Panik. Und da war Dylan, der auf sein Laptop feuerte, als wäre es eine ganze Horde Hadschis.“

Oh, wow. Ich wünschte Sherman hätte mir diese Geschichte nicht erzählt. Es mochte ja eine gute Geschichte sein, aber sie verharmloste den sehr großen Schmerz, den er eindeutig gespürt hatte. Schmerz, den ich verursacht hatte, weil ich betrunken gewesen und an unserer Beziehung gezweifelt hatte. Ich legte meine Hand auf sein Bein und drückte es. Er lehnte sich zu mir rüber, nur ein wenig, und ich denke es war okay.

„Das war eine Geschichte zu viel, Sherman“, sagte er. 

„Aber ich habe immer noch nichts über den Frauenheld gehört“, sagte ich und lächelte ihn an. „Ich möchte alle deine Geheimnisse kennen.“

Sherman kicherte. „Du weißt, dass dieser Clown und ich zusammen die Grundausbildung gemacht haben, oder? Na ja, er hatte einige Fotos von dir in seinem Spind aufgehängt.“

Oh… das hatte ich nicht gewusst. Wir hatten nicht viel Kontakt gehabt, als er der Army beigetreten war. 

„Wie auch immer. Eines Tages führte unser Drillsergeant Powers eine Inspektion durch, und er schaute in den Spind und sagte: ‚Paris, ist das Ihre Freundin?’. Und Paris hier, er antwortete: ‚Sie war es, Drillsergeant. Ich werde sie zurück erobern. Ich plane sie zu heiraten.’“ 

Ich erstarrte, und atmete plötzlich schnell und flach. Er hatte seinem Sergeant gesagt, dass er mich heiraten wollte? Oh. Mein. Gott. Ich weiß nicht, ob Sherman meine plötzliche Erstarrung bemerkte, denn er sprach einfach weiter. Aber Dylan hatte es ganz sicher bemerkt, denn ich hatte aus Versehen mit meiner Hand so stark sein Bein gedrückt, dass er womöglich einen blauen Fleck bekam. 

Sherman erzählte weiter. „Sergeant Powers fragte also: ‚Haben Sie schon mit ihr geschlafen?’ Und Paris sagte nein, denn du wärst ein gutes katholisches Mädchen, oder irgendeinen anderen Blödsinn.“

Ich begann zu kichern, war unheimlich verlegen. Ich konnte genau fühlen, wie die Röte in mir aufstieg. 

„Sergeant Powers sagte: ‚Paris. man kauft nicht die Katze im Sack. Sie werden dieses Mädchen nicht heiraten, bevor Sie nicht mir ihr geschlafen haben. Huh. Als ich die Bilder dieses heißen Mädchens gesehen habe, dachte ich Sie wären ein Frauenheld. Aber das sind Sie nicht, Sie sind nur ein Depp.’“

Ich gluckste und begann dann ziemlich zu kichern, fast hätte ich meinen Kaffee über den Tisch gespuckt. 

„Das ist übel“, sagte ich.

„Dafür wirst du ziemlichen Ärger bekommen“, sagte Dylan. Ich war mir nicht sicher, ob er mich oder Sherman meinte. Aber ich wusste, dass wir heute, Jahre später, immer noch nicht miteinander geschlafen hatten.

Und dann, einfach so, beschloss ich, dass ich bereit dafür war. Heute Abend, nachdem die Party zu Ende war und wir zu Hause sein würden, würde es passieren. Heute Nacht. Keine Frage. Ich lächelte Dylan geheimnisvoll an. Er wusste nicht, was ich meinte, aber er lächelte zurück. Wenn wir ins Bett gingen, würde sein Lächeln viel breiter sein, dafür würde ich sorgen. 

Ich versuchte meine Gedanken von der körperlichen Lust abzuwenden, aber das war ziemlich hart, denn meine Hand berührte sein Bein immer noch. Na ja, Oberschenkel. Innerer Oberschenkel. Egal.

Ich schaute zu Sherman rüber und lenkte mich ganz bewusst ab.

„Also, hast du auch einen Spitznamen?“

„Natürlich nicht“, sagte er.

„Wir nennen ihn Unkraut. Weil er so klein und gar nicht ins Kraut geschossen ist.“

Ich schüttelte meinen Kopf, und begann zu grinsen. Sherman würde bei einer Aufstellung der National Basketball Association nicht auffallen. Ich mochte ihn jetzt schon sehr. Er war fröhlich, offen und mochte Dylan ganz offensichtlich sehr. Und das zählte mehr als alles Andere.



Wie immer waren die Hadschis nicht kooperationsbereit (Dylan)


Nachdem wir mit dem Frühstück fertig waren, sagte Alex: „Ich denke ich lasse Euch zwei nun alleine und gehe dann meine Schwester abholen.“

Ich schaute sie neugierig an und sagte: „Bist du sicher?“

Sie lächelte, lehnte sich näher an mich und meinte dann: „Geh und hab Spaß mit Sherman. Ihr habt Euch lange Zeit nicht gesehen. Außerdem möchte ich mit Carrie sprechen. Frauengespräche.“ Sie zwinkerte mich an.

Wie immer raubte mir ihre Nähe den Atem. Wir zahlten und verließen das Lokal. Vor dem Restaurant drehte sie sich um, umarmte mich innig und flüsterte dann in mein Ohr: „Ich habe Pläne für heute Nacht, Frauenheld. Du solltest dich vielleicht ein wenig ausruhen.“

Oh Gott. Mein Körper reagierte sofort, sogar wenn sie diesen schrecklich peinlichen Spitznamen verwendete. Sie küsste mich, winkte dann und ging in Richtung des Wohnheims davon. 

Ich stand einfach nur da und sah ihr nach, bis Sherman sagte: „Bist du noch wach, Paris?“

Ich schüttelte meinen Kopf und begann zu grinsen. „Ich weiß nicht. Es könnte sein, dass ich träume.“

Er lachte kurz auf. „Ich freue mich, dass ihr wieder zusammen seid, Mann. Du kannst dich glücklich schätzen.“

„Ja, mehr als du denkst.“

Also verbrachten wir Zeit miteinander, spielten mit der xBox bei mir zu Hause, und sprachen zwischendurch immer mal wieder über die anderen Kerle aus unserer Einheit. 

Ich war im Krankenhaus gewesen, als sie die Gedenkfeiern für Kowalski und Roberts dort draußen, in der Mitte der afghanischen Provinz, abgehalten hatten. Sherman erzählte mir ein bisschen davon, aber ich hatte schon Fotos gesehen und E-Mails von ein paar Anderen aus der Einheit gelesen. 

„Wie geht’s Sergeant Colton?“, fragte ich.

„Er verlässt die Army“, sagte Sherman.

„Du willst mich wohl verarschen. Ich hätte gedacht er bleibt sein Leben lang dabei.“

Sherman schüttelte seinen Kopf. „Nein. Er ist fertig damit. Drei Einsätze im Irak und in Afghanistan waren zwei zuviel, begann er, kurz nachdem du getroffen wurdest, zu sagen.“

„Er war wie ein Vater für mich, musst du wissen.“

„Du solltest ihn bei Gelegenheit mal anrufen und ihn wissen lassen, wie es dir geht.“

Ich nickte, „Ja, das werde ich machen.“

„Also, was ist das für eine Party heute Abend?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Irgendeiner von Alex Freunden veranstaltet sie.“

„Werden Singlefrauen dort sein?“

Ich kicherte. „Ja vermutlich. Es werden alles Studenten sein. Und ein paar Postgraduierte, denke ich. Ich kenne wirklich nicht viele ihrer Freunde.“

„Willst du mal was Verrücktes hören?“

„Klar.“

„Ich hoffe es wird nicht so sein wie… Ich weiß nicht, wie die Collegepartys in Filmen. Große Menschenmenge, viele Betrunkene. Ich denke nicht, dass ich eine große Menschenmenge ertragen könnte. Am Flughafen bin ich fast verrückt geworden.“

Ich kicherte. „Ich weiß genau, was du meinst, Mann. Ich vermeide Menschenmengen auch. Aber ich denke nicht, dass es heute Abend so schlimm werden wird. Nach dem, was Alex gesagt hat, werden vorwiegend ältere Studenten dort sein.“

„Du scheinst glücklich zu sein, Mann. Glücklicher als ich dich je erlebt habe.“

Ich dachte darüber eine Minute lang nach und sagte dann: „Das bin ich, Mann. Die Uni ist gut und Alex… tja... Scheiße, ich habe eine zweite Chance bekommen, verstehst du? Das ist etwas ganz Besonderes.“

Er nickte und gähnte dann. „Hör mal. Ich hau mich ne Runde aufs Ohr, bevor die Party beginnt. Ist das okay?“

„Klar ist das okay. Schlaf in meinem Zimmer, lass mich nur kurz meinen Laptop rausholen.“

„In Ordnung. Du hast hoffentlich saubere Laken, du Scheißkerl.“

„Und du hast hoffentlich keine afghanischen Parasiten mitgebracht.“

Also holte ich meinen Laptop und er ging schlafen. Ich surfte ein wenig im Internet und machte dann einige Hausaufgaben.

Und dann machte ich etwas ganz anderes.

Als ich im Krankenhaus war, nicht sicher, ob ich leben oder sterben würde, oder ob sie mein Bein amputieren würden, oder ob ich als Morphiumabhängiger enden würde, war das Letzte, wozu ich bereit war, ihre E-Mails zu lesen. Denn, na ja: Versagen. Damit kannte ich mich aus. Alex bedeutete mir alles. Aber sie hatte auch eine Zukunft. Und ich nicht, wirklich nicht. Alles was ich hatte, war eine schwere verdammte Hirnverletzung, ein Bein das sich entzünden könnte und dann umgehend amputiert werden müsste, und das Letzte was ich tun würde, war mich wieder in ihr Leben zu schleichen und die Dinge für sie auch zu versauen. So wie ich alles versaut hatte.

Also vergrub ich ihre E-Mails. Ich verschob sie in einen Ordner und sah nie wieder danach.

Jetzt, während Sherman in meinem Zimmer schlief und Alex ihre Schwester abholte, beschloss ich, dass es Zeit war. 

Ich gebe zu, dass ich ziemliche Angst hatte. Ich wusste, dass ich ihr wehgetan hatte. Sehr weh sogar. Was hatte sie geschrieben?

Ich würde es herausfinden, und ich hatte schreckliche Angst davor. 


10. Februar 2012; 01:45 Uhr

An: dylanparis81@gmail.com

Von: alexliebterdbeeren@yahoo.com


Lieber Dylan,

es tut mir leid was passiert ist. Ich bin ein bisschen betrunken, und etwas deprimiert und einfach schrecklich frustriert wegen unserer manchmal echt verrückten Fernbeziehung. Verzeihst du mir? Ich weiß, dass ich dich verärgert habe und es tut mir leid. Wenn du Zeit zum Skypen hast, ich werde morgen früh und morgen Abend online sein. Oder schreib mir eine Mail. Oder irgendetwas.

Bitte vergiss nicht, dass ich dich sehr liebe!

Umarmung und Küsse!

Alex


Ich starrte auf die E-Mail und war… total verblüfft. Sie musste das nur Minuten, nachdem ich die Verbindung getrennt hatte, geschrieben haben. Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade dabei, meinen Facebookaccount zu deaktivieren.


10. Februar 2012; 09:45 Uhr

An: dylanparis81@gmail.com

Von: alexliebterdbeeren@yahoo.com


Dylan,

ich habe versucht dir über Facebook eine Nachricht zu schicken, aber ich konnte dich nicht finden. Wirklich? Hast du die Freundschaft mit mir beendet? Rede mit mir Dylan. Was ist los? Bitte?

Drück dich

Alex


Beim Lesen der zweiten Mail begann ich schwer zu atmen. Sie war zehn Stunden, nachdem ich aufgelegt hatte, geschrieben worden. Direkt nachdem ich meinen alten Laptop beschossen hatte, hatte Sergeant Colton mich zum alten Mann gezerrt. Captain Wilson war ein fairer Mensch, ich kann nichts Schlechtes, über ihn sagen. Er dagegen konnte eine Menge Schlechtes über mich sagen, und nutzte die Gelegenheit, es auch zu tun. Ich gab ihm die einzige Antwort, die es gab: Es gab keine Entschuldigung.

Nachdem er mich zur Sau gemacht hatte, schickte er mich raus zum Warten und er und Sergeant Colton beratschlagten sich. Danach riefen sie mich wieder rein.

„Paris, ich persönlich finde, wir sollten Sie vor ein Kriegsgericht stellen. Aber Sergeant Colton hier sagt, Sie wären nicht völlig nutzlos und, obwohl es mir schwer fällt, muss ich ihm Recht geben. Daher haben wir uns auf eine nichtgerichtliche Strafe verständigt. Sind Sie bereit die Einzelheiten anzuhören?“

„Ja, Sir“, antwortete ich, immer noch völlig benommen und geschockt davon, diesen Typen – Joel – in ihrem Zimmer zu sehen. 

„Das ist ein Artikel 15, also eine interne nichtgerichtliche Strafe. Die Höchststrafe für einen Artikel 15, ist die Degradierung um einen Dienstgrad, Wegfall des Sold für sieben Tage und vierzehn Tage extra Dienst und Ausgangsverbot.“

„Aufgrund der Schwere Ihres Vergehens beabsichtige ich die Höchststrafe zu verhängen. Sie werden zum Gefreiten erster Klasse degradiert. Ausgangsverbot bedeutet hier nicht viel, aber vierzehn Tage Extradienst schon. Verstehen Sie die Konditionen der Bestrafung?“

„Ja, Sir.“

„Sie haben das Recht, stattdessen eine Gerichtsverhandlung zu verlangen. Wünschen Sie eine Gerichtsverhandlung?“

Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, Sir. Was ich getan habe, habe ich getan. Ich bin schuldig, Sir.“

Er nickte. „In Ordnung. Wir werden uns später um den Papierkram kümmern. Im Moment werde ich, um die Schwere Ihrer Tat zu unterstreichen, den Dienstplan ändern. Ihr Team geht heute Nacht auf Patrouille.“

Oh Gott, dachte ich. Die Anderen werden mich hassen. Wir waren erst an diesem Morgen von einer Patrouille zurückgekehrt. Kowalksi war dort draußen getötet worden und alle waren echt fertig. Der Anblick wie er sich auf die Granate geworfen hatte um das kleine Mädchen zu retten hatte sich in meine Netzhaut gebrannt.

„Gibt es ein Problem, Paris?“

Ich schaute zu Boden. „Sir, wenn ich eine Gerichtsverhandlung verlange, werden die Anderen dann trotzdem bestraft? Es war nicht ihre Schuld. Und… nachdem Kowalski… sie sind alle ziemlich durcheinander.“

„Ja. Die Änderung des Dienstplans steht. Ich habe das bereits mit Sergeant Colton besprochen. Sind Sie nicht auch der Meinung Sergeant, dass ihre Soldaten bei besserer Führung nicht am Rande des Camps auf elektronische Geräte schießen würden?“

Colton zuckte zusammen. „Ja, Sir.“

Und damit war die Sache klar. In dieser Nacht gingen wir wieder auf Patrouille. 

Eine Patrouille, auf die wir nicht geschickt worden wären, wäre ich nicht so ein Idiot gewesen. Aber, wie ich schon ein paar Mal erwähnt habe, war ich echt gut darin Dinge zu versauen.

Sie schickte eine weitere Mail. Etwa eine Stunde nachdem wir raus gefahren waren auf eine Nachtpatrouille in die Berge, eine Nachtpatrouille, die bis zum nächsten Tag dauern würde. Roberts und ich fuhren zusammen im gleichen Jeep und er hatte ziemlich gute Laune und zog mich damit auf, dass ich zum Gefreiten erster Klasse degradiert worden war. 


10. Februar 2012; 11:32 Uhr

An: dylanparis81@gmail.com

Von: alexliebterdbeeren@yahoo.com


Ich verstehe die Funkstille nicht. Ich verstehe nicht, was ich getan habe, das so falsch war. Ich hoffe du bist einfach zu beschäftigt um meine Nachrichten zu lesen. Ich hoffe du ignorierst mich nicht absichtlich, denn das tut weh, Dylan. Denkst du nicht, dass ich eine Erklärung verdient habe?

A


Ja, das dachte ich. Ich würde alles dafür geben, die Zeit zurück zu drehen um die Dinge zu ändern. Ich würde Alles auf der Welt dafür hergeben, sie nicht so zu verletzen. Und ich würde im wahrsten Sinne des Wortes mein Leben dafür hergeben, zurück zu gehen und die dummen, idiotischen Handlungen zurück zu nehmen, die meine ganze Einheit bestraft haben. 

Die Patrouille dauerte die ganze Nacht. Wir waren faktisch ein bewegliches Ziel, das herumfuhr um das Feuer der aufständischen Taliban, die immer noch in der Gegend operierten, auf uns zu ziehen. Aber, wie immer, kooperierten die Hadschis nicht. Es war ruhig in dieser Nacht, sehr ruhig. Bei Sonnenaufgang waren wir alle müde und fertig. Sergeant Colton beorderte uns zurück zur Basis. Wir fuhren durch das kleine Dorf und der Typ, der den Laden am Straßenrand führte, winkte uns herbei. Die Patrouille stoppte und Roberts und ich verbrachten die Zeit damit, im Dorf nach den bösen Jungs, sprich den Taliban, Ausschau zu halten.

Es war eigenartig. Wir waren noch nie auf eine Patrouille gegangen, ohne dass auf uns geschossen worden war. Das war einfach niemals passiert. Ich meine, die Bewohner des Dorfes waren ziemlich freundlich… zumindest versuchten sie nicht allzu oft uns zu töten. Aber die bösen Jungs waren aktiv in der Gegend. Ich war angespannt und ich wusste, dass Roberts das auch war. Das waren wir alle.

Wir wurden für etwa fünfundvierzig Minuten im Dorf aufgehalten. Und während dieser fünfundvierzig Minuten waren die bösen Jungs da draußen. Sie platzierten eine Straßenbombe und einen Hinterhalt auf der direkten Route zwischen dem Dorf und unserem Camp.

Manchmal träume ich davon, wie wir im Dorf in Richtung des Camps losfahren. Ich weiß, dass etwas passieren wird und ich möchte Sergeant Colton anschreien, oder Sherman, oder Roberts, oder sogar mich selbst und ihnen sagen, dass wir in einen Hinterhalt geraten werden. Ich versuche alles, damit es nicht passiert, aber egal was ich auch mache, wir fahren trotzdem immer diese Straße entlang. Wir fahren diese Straße entlang, bis die Explosion hochgeht und mein engster Freund auf der Welt zerfetzt wird, sein Blut das Innere des Jeeps im wahrsten Sinne des Wortes überzieht, mein Bein von den Splittern zerrissen wird, und dann höre ich die Schüsse, während ich aus dem Jeep auf den Boden falle. 

Ich kann mich nicht erinnern, ob ich geschrieen habe. Ich weiß nicht, ob ich einfach nur da saß und hoffte zu sterben, weil es meine Schuld war, dass wir überhaupt auf diese Patrouille geschickt worden waren.

Ich wollte sterben. Denn, wenn ich und meine dumme Impulsivität nicht gewesen wären, wäre Roberts noch am Leben. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten seine Eltern in Alabama ihn nicht wegen eines dummen Krieges in einem Land auf der anderen Seite der Welt begraben müssen.

Es war meine Schuld.

Alex schrieb mir, immer und immer wieder. Jeden Tag für die ersten eineinhalb Wochen oder so, elf tägliche Mails, die sie geschickt hatte während ich mit meinen Handlungen dafür gesorgt hatte, dass mein bester Freund getötet und ich selbst dann halb bewusstlos mit einem kaputten Bein nach Baghram und später nach Deutschland gebracht wurde.

Am zehnten Tag verlor sie die Geduld.


20. Februar 2012; 04:20 Uhr

An: dylanparis81@gmail.com

Von: alexliebterdbeeren@yahoo.com


Dylan,

ich war die ganze Nacht wach und habe geweint und Kelly meinte es wäre Zeit, dich gehen zu lassen. Du brichst mir das Herz. Egal was ich jemals über dich gedacht habe, ich hätte niemals gedacht, dass Grausamkeit dazu gehört. Aber damit lag ich falsch. Du bist grausam und herzlos. Wenn ich nur wüsste, was ich getan habe. Ich bin fertig damit um dich zu weinen. Ich bin fertig damit, mich zu wundern wo du bist. Jeden Tag habe ich wie besessen die Zeitungen gelesen, auf der Suche nach Nachrichten, ob du verletzt wurdest. Ich habe die Gefallenenlisten durchsucht, hatte schreckliche Angst, dass du getötet worden sein könntest. Ich habe alles getan, was ich konnte. 

Ich hoffe du findest einen Weg mit dem zu Leben, was du getan hast. Aber erwarte nicht, dass ich dir vergebe. 

Alex


Oh Alex. Das habe ich nicht erwartet und das erwarte ich auch jetzt nicht. Wie könnte ich erwarten, dass sie mir vergibt, wo ich mir selbst nicht vergeben kann. Ich verdiente verdammt noch mal keine Vergebung. Ich habe ihr Herz gebrochen. Ich habe Roberts getötet und damit das Leben seiner Eltern zerstört. Als ich sie diesen Sommer besuchte, brachte ich es nicht fertig, ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich sagte ihnen was für ein toller Freund er gewesen war, erzählte ihnen von den guten Zeiten, die wir zusammen verbracht hatten. Ich erzählte ihnen all die lustigen Geschichten. Ich trank ein Bier mit seinem Vater und wir weinten gemeinsam. Aber die Wahrheit habe ich ihnen nicht erzählt. Ich habe ihnen nicht gesagt, dass ich daran schuld bin, dass ihr Sohn tot ist. 



Mein Leben ist für mich vorgeplant (Alex)


Wie immer war der JFK-Flughafen total überfüllt. Ich stand direkt außerhalb des Sicherheitsbereichs und wartete auf Carrie. Einerseits freute ich mich sie zu sehen, andererseits war ich misstrauisch, was ihre Motive für den Besuch anging. Warum misstrauisch? Weil ich vor drei Tagen während eines Gesprächs mit meiner Mutter erwähnt hatte, das ich wieder Kontakt mit Dylan hatte.

„Dylan? Ist das nicht der Junge, der dich damals besucht hat? Der wegging und der Army beigetreten ist? Ausgerechnet der Army.“

„Ja, Mom. Er wurde in Afghanistan verletzt und ist jetzt an der Columbia Universität.“

Darauf folgte eine lange peinliche Pause. Dann sagte sie: „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“

„Ja“, antwortete ich einfach. Ich war nicht bereit, mich in eine lange Diskussion über Dylan verwickeln zu lassen. Davon hatten wir während der vergangenen drei Jahre schon genug gehabt.

„Ich denke einfach du solltest dich auf das Studium konzentrieren, Alexandra. Und nicht auf die Männer. Ganz besonders nicht auf diesen. Er hat dir wehgetan Liebes. Und deine Noten haben darunter gelitten.“

Meine Noten hatten darunter gelitten. Natürlich war das das Einzige, worüber sie sich Sorgen machte. Ich hatte letzten Frühling eine 2 in Vergleichende Religionswissenschaften gekriegt. Das war meine erste 2 seit, na ja… überhaupt. Man könnte meinen ich hätte jemand umgebracht, bei all dem Ärger, den ich zu Hause deswegen hatte. Als meine Eltern meine Abschlussnoten für das Semester sahen, gaben sie mir Hausarrest. Ich bin neunzehn Jahre alt, ich war während der Semesterferien zu Hause zu Besuch und meine Eltern fanden es passend mir Hausarrest zu erteilen. Kann man das als übertriebene Kontrolle bezeichnen?

Aber andererseits, so sind sie nun mal.

Ich schaffte es, das Gespräch mit meiner Mutter zu einem guten Ende zu bringen, aber am nächsten Tag hatte ich eine SMS von Carrie.

Ich komme am Samstag nach New York! Können wir uns treffen?

Das hätte ich vorausahnen müssen. Immerhin war Carrie am Promovieren und genauso wie ich vom Geld unseres Vaters abhängig. Wo hatte sie das Geld für einen Last-Minute-Flug von Houston nach New York her? Dad. Was bedeutete, dass sie auf eine Spionagemission geschickt worden war um herauszufinden, wie ernst es mir mit Dylan war. 

Wenn sie wüssten, dass ich plante heute Nacht mir ihm zu schlafen, wäre Alarmstufe Rot angesagt. Ich überlegte, ob ich Carrie davon erzählen sollte, nur um eine entsprechende Reaktion zu provozieren. 

Und da war sie auch schon, mit recht großem Handgepäck. Wie immer sah sie so perfekt aus wie ein Model. Langes braunes Haar wie ich, aber immer besser geschnitten und frisiert. Anders als man für einen Flug erwarten würde, trug sie ein chices geblümtes Kleid, das vermutlich bis zu zweitausend Dollar gekostet hatte und fantastische schwarze knöchelhohe Stiefel mit 7 cm hohen Absätzen. Zuzugeben, dass ich hin und wieder eifersüchtig auf meine Schwester war, wäre vergleichbar mit der Aussage, dass der Ozean ein übergroßer Teich war. Wenn ich in ihrer Gegenwart war, fühlte ich mich ungenügend, die kleine Schwester, die niemals an ihre Erfolge, Schönheit oder Charisma würde heranreichen können.

Sie lächelte und winkte freudig als sie mich sah. Ich erwiderte das Lächeln und winkte, und als sie durch die Kontrolle war, umarmten wir uns. Sie war mindestens fünfzehn Zentimeter größer als ich. Und dann noch die Absätze, ich kam wir vor wie eine Zwölfjährige. 

„Oh, Alexandra, es ist so schön dich zu sehen! Ich habe dich so vermisst!“

„Ich habe dich auch vermisst, Carrie.“

„Wir haben uns so viel zu erzählen. Ich bin so froh, dass ich dich besuchen konnte.“

Ich lächelte und fühlte mich immer noch unbehaglich. „Bist du hungrig? Sollen wir Mittagessen gehen?“

Sie nickte. „Ja, das wäre schön. Ich reise heute mich leichtem Gepäck, wir müssen kein weiteres Gepäck holen.“

„Super“, sagte ich. „Sollen wir ein Taxi zurück zur Uni nehmen und bei Tom’s essen?“

Sie grinste und nickte glücklich. „Das wäre toll. Ich war nicht mehr dort seit ich meinen Abschluss gemacht habe! Ich hatte eine Menge gute lange Nächte dort.“

Ich lächelte zurück. „Ja, ich auch.“

Also nahmen wir ein Taxi. Auf dem Weg in die Stadt sprachen wir über unwichtige Dinge. Vorlesungen. Sie arbeitete an ihrer Doktorarbeit über Verhaltensökologie, oder etwas Ähnliches. Carrie war schon immer Naturwissenschaftsfanatikerin gewesen. Der Rest der Familie war eher für Geisteswissenschaften zu haben, das machte sie zu einer Art Außenseiterin in der Familie, aber auf eine gute Weise, dachte ich. Sie und Dad hatten einen heftigen Streit, als sie ihr Hauptfach wählte. Er hatte gehofft, sie würde ihm in den Auswärtigen Dienst folgen.

Ich war stolz darauf, dass sie ihn besiegt hatte. Ein Botschafter in der Familie war mehr als genug, dachte ich, und manchmal war ich es einfach Leid, dass er und Mutter versuchten unser ganzes Leben zu bestimmen. Die einzige von uns, die frei war, war Julia. Sie beendete ihren Bachelor in Harvard und zeigte dann unserem Vater sinnbildlich den Stinkefinger und lief mit ihrem Freund Crank davon.

Ja, wirklich. Crank war Gitarrist. In einer Punk Rock Band. Sie tourten die letzten fünf Jahre glücklich durch das Land und es war immer wieder schön zu erleben, wie sie bei Familientreffen während der Ferien zur Unterhaltung beitrugen. Dagegen war Carries Rebellion klein. 

Endlich erreichten wir Tom’s Restaurant und erhielten einen Tisch im hinteren Bereich. Unsere Kellnerin Cherry kam, und ihr Gesicht erhellte sich, als sie mich sah. „Alex! Bist du schon wieder da? Zweimal an einem Tag.“

Ich lachte ein wenig und sagte: „Das ist meine Schwester Carrie. Sie war hier auf der Uni, das ist also so eine Art Heimkehr für sie.“

Cherry nickte anerkennend. „Tja, dann werde ich versuchen sicherzustellen, dass sich die Reise auch gelohnt hat. Wisst Ihr schon, was Ihr trinken möchtet?“

Wir bestellten, lehnten uns dann zurück und sahen uns an. Für eine Sekunde kam es mir so vor, als wären wir zwei Katzen, die sich mit aufgestelltem Fell und zuckenden Schwänzen zum Sprung bereitmachten.

Ich brach als Erste das Schweigen.

„Also, hat Dad dich hergeschickt um ihm dann zu berichten?“

Sie grinste und seufzte vor Erleichterung. „Ja. Natürlich. Ich hätte wissen müssen, das dir das gleich klar war.“

„Es war ziemlich offensichtlich“, erwiderte ich.

„Sie machen sich Sorgen um dich“, sagte sie.

„Wegen Dylan.“

Sie nickte.

„Tja, dann kannst du ihnen mitteilen, dass es nichts gibt, worüber sie sich Sorgen machen müssten. Dylan und ich lieben uns, wie wir uns schon immer geliebt haben. Aber früher war es niemals… gab es niemals auch nur eine echte Möglichkeit für uns. Schon aufgrund der Entfernung nicht. Jetzt, wo wir nicht mehr getrennt sind, bin ich glücklicher als ich es je zuvor im meinem Leben gewesen bin. Dad kann sich auf den Kopf stellen, wenn er glaubt er könne sich einmischen.“

Carries Augen weiteten sich. „Wow“, sagte sie. „Sag mir wie du dich wirklich fühlst.“

Ich kicherte. „Mal ernsthaft. Da gibt es nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.“

„Das weiß ich“, sagte sie. „Außer Julia bist du vermutlich die Einzige von uns, die wirklich in sich selbst ruht. Ich mache mir überhaupt keine Sorgen, aber ich möchte alles darüber wissen! Es ist so aufregend, dass ihr Zwei jetzt endlich zusammen seid!“

Ich lächelte und fühlte die Wärme in mir. „Er macht mich glücklich, Carrie. Wirklich und wahrhaftig glücklich.“

„Wenn ich verspreche unserem Vater nichts davon zu erzählen, wirst du mir dann darüber berichten?“

Ich nickte und war plötzlich erfreut. Carrie und ich hatten uns niemals sehr nahe gestanden. Der Altersunterschied und ihre Fähigkeit alle einzuschüchtern hatte immer zu einer gewissen Distanz zwischen uns geführt. Und ich wollte ihr gern näher sein. Sie war meine Schwester.

Also erzählte ich ihr die Geschichte. Einiges davon wusste sie natürlich schon. Jeder in meiner Familie wusste, dass während der Reise nach Israel vor drei Jahren etwas Bedeutsames passiert war, denn ich war völlig am Boden zerstört nach Hause gekommen. Ich hatte fast drei Tage nur geweint, und das war nicht gerade die Art von Heimkehr, die meine Familie erwartet hatte. Dann hatte ich eine Packung Fotopapier gekauft und alle Fotos von der Reise ausgedruckt. Dutzende von Fotos von uns beiden zusammen. Man musste nicht besonders schlau sein um zu kapieren, dass ich mich verliebt hatte.

Was Carrie nicht wusste war, wie schwer es gewesen war, also erzählte ich ihr davon. Von den Zweifeln, der Distanz. Zu wissen, dass er nach der High School plante das Land zu verlassen um Erfahrungen zu sammeln und Romane zu schreiben. Zu wissen, dass wir nicht zusammen sein würden. Ich beendete die Beziehung mit Mike sobald ich zurück in San Francisco war, aber ich war rastlos, mein ganzes Leben drehte sich in diesen ersten paar Monaten nur um Telefongespräche, E-Mails und Facebookinteraktionen mit Dylan.

Was sie nicht wusste war, dass er der Army einen Tag nachdem ich mit ihm Schluss gemacht hatte, beigetreten war. Was bedeutete, dass ich in gewisser Weise für seine anschließenden Verletzungen verantwortlich war. 

Ich erzählte ihr davon, wie wir uns, nachdem wir uns im September vor Forresters Büro wieder getroffen hatten, wieder näher gekommen waren. Wie seine Verletzungen ihn beeinträchtigten und wie wir jeden zweiten morgen zusammen liefen.

„Ich kann das gar nicht glauben. Ich habe dich noch nie so… anmutig… gesehen“, sagte sie. 

„Na ja, wir laufen etwa elf Kilometer. Das bedeutet, das wir eine Menge Training zusammen absolvieren.“

„Oh?“, fragte sie geziert mit gehobenen Augenbrauen. 

Ich lief rot an. „Oh mein Gott! So habe ich das nicht gemeint, Carrie!“

Sie lächelte. „Ist schon okay, Alexandra. Ich werde es Dad nicht erzählen. Du kannst es mir ruhig sagen.“

Ich schaute verlegen auf den Tisch. „Ich habe entschieden, dass wir es endlich machen werden.“

Ihr Mund formte sich zu einem großen O. „Wirklich?“, sagte sie.

Ich nickte. „Ich liebe ihn, Carrie. Mehr als du dir vorstellen kannst. Ich möchte mein Leben mit ihm verbringen.“

Sie seufzte. „Ich bin neidisch.“

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, geschockt.

„Du bist neidisch auf mich?“

Sie lächelte mich bittersüß an. „Mein Leben ist für mich vorgeplant, Alex. Ich denke alle unsere Leben sind es, außer Julias. Da ist kein Platz für Männer. Und… lass uns einfach sagen, das ich das bereue. Ich freue mich so für dich.“

„Du wirst ihn heute Abend auf der Party kennen lernen. Oh, und da wir gerade von Männern sprechen“, sagte ich, lehnte mich vor und grinste sie an. „Ich habe versprochen dich seinem Freund vorzustellen. Ray Sherman. Sherman ist gerade aus Afghanistan nach Hause gekommen.“

Carrie blinzelte. „Vater würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn er wüsste, dass ich mit einem Soldaten zusammen wäre. Schau nur, wie er dich behandelt hat.“

Ich lachte. „Du wirst ihn mögen“, sagte ich. „Er ist ein netter Typ. Und… objektiv betrachtet, wohl wissend, dass ich einen Freund habe in den ich absolut verliebt bin… Sherman ist wirklich heiß.“

Ihre Augen zwinkerten. „Tja dann, freue ich mich ihn kennen zu lernen.“

„Du meinst das wirklich ernst, oder? Du wirst Vater nichts erzählen? Ich denke nicht, dass ich die ganzen Vorwürfe über Thanksgiving ertragen könnte. Es wird so schon schlimm genug werden.“

„Ich verspreche es, Schwesterchen. Nicht ein Wort. Ich werde ihm sagen, dass du glücklich bist und er dich in Ruhe lassen soll.“

„Na das wird er sicher schlucken“, antwortete ich und wir lachten, aber es war eine Spitze in unserem Lachen. Denn wir beide wussten, dass er das nicht schlucken würde.